Читать книгу Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Оноре де'Бальзак, Honoré de Balzac, Balzac - Страница 8

Оглавление

»Vor­wärts, du De­pu­tier­ter der Mit­te, im­mer vor­wärts! Wir müs­sen ei­lig wei­ter, wenn wir zu­sam­men mit den an­dern bei Tisch sein wol­len. Heb die Bei­ne! Spring, Mar­quis! Hier­her! So ist’s gut! Sie sprin­gen über die Grä­ben wie ein rich­ti­ger Hirsch!«

Die­se Wor­te wur­den von ei­nem fried­lich am Wal­des­ran­de von Ile-Adam sit­zen­den Jä­ger ge­spro­chen, der eine Ha­van­na­zi­gar­re zu Ende rauch­te und auf sei­nen Ge­nos­sen war­te­te, der je­den­falls schon seit lan­gem in dem Busch­werk des Wal­des her­um­ge­irrt war. An sei­ner Sei­te sa­hen vier jap­pen­de Hun­de eben­so wie er die Per­son, an die er sich wand­te, an. Um zu ver­ste­hen, wie spöt­tisch die­se An­re­den, die mit Pau­sen wie­der­holt wur­den, ge­meint wa­ren, muß er­wähnt wer­den, daß der Jä­ger ein di­cker kur­z­er Mann war, des­sen her­vor­ste­hen­der Bauch eine wahr­haft mi­nis­te­ri­el­le Fett­lei­big­keit ver­riet. Müh­se­lig über­sprang er die Fur­chen ei­nes großen, frisch ab­ge­ern­te­ten Fel­des, des­sen Stop­peln sicht­lich sein Vor­wärts­kom­men hin­der­ten; um sein Un­be­ha­gen noch zu stei­gern, trie­ben die Son­nen­strah­len, die sein Ge­sicht schräg tra­fen, di­cke Schweiß­trop­fen dar­auf her­vor. Be­müht, sein Gleich­ge­wicht zu be­wah­ren, wank­te er bald nach vorn, bald nach rück­wärts und ahm­te so die Sprün­ge ei­nes stark ge­schüt­tel­ten Wa­gens nach. Es war ei­ner der Sep­tem­ber­ta­ge, wo die Wein­trau­ben bei süd­li­cher Glut rei­fen. Die Luft kün­dig­te ein Ge­wit­ter an. Ob­gleich sich mehr­fach große Stre­cken blau­en Him­mels noch am Ho­ri­zont von di­cken schwar­zen Wol­ken ab­ho­ben, sah man doch einen blas­sen Dunst mit er­schre­cken­der Schnel­lig­keit vor­drin­gen, der sich von Wes­ten nach Os­ten aus­brei­te­te wie ein leich­ter grau­er Vor­hang. Der Wind be­weg­te sich nur in den obe­ren Re­gio­nen der Luft, die At­mo­sphä­re drück­te nach un­ten hin die glü­hen­den Aus­dün­nun­gen der Erde zu­sam­men. Heiß und schwei­gend schi­en der Wald zu dürs­ten. Die Vö­gel und In­sek­ten wa­ren ver­stummt, die Wip­fel der Bäu­me rühr­ten sich kaum. Die­je­ni­gen, die noch eine Erin­ne­rung an den Som­mer 1819 ha­ben, müs­sen also Mit­leid emp­fin­den mit den Lei­den des ar­men De­pu­tier­ten, der Blut und Was­ser schwitz­te, um sei­nen bos­haf­ten Ge­fähr­ten wie­der zu er­rei­chen. Wäh­rend er sei­ne Zi­gar­re rauch­te, hat­te die­ser aus der Stel­lung der Son­ne be­rech­net, daß es etwa fünf Uhr nach­mit­tags sein müs­se.

»Wo zum Teu­fel sind wir denn? sag­te der di­cke Jä­ger, wäh­rend er sich die Stirn ab­trock­ne­te und sich an einen Baum­stamm, fast ge­gen­über sei­nem Ge­fähr­ten, stütz­te, denn er ver­spür­te nicht mehr die Kraft in sich, den brei­ten Gra­ben, der ihn von ihm trenn­te, zu über­sprin­gen.

»Und das fragst du mich? ant­wor­te­te la­chend der Jä­ger, der sich in dem ho­hen gel­ben Gra­se ge­la­gert hat­te, das den Ab­hang be­krön­te. Er warf den Rest sei­ner Zi­gar­re in den Gra­ben und rief: »Ich schwö­re bei Sankt Hu­ber­tus, daß man mich nicht wie­der da­bei er­wi­schen wird, wie ich mich in un­be­kann­ter Ge­gend mit ei­ner Amts­per­son her­um­trei­be, und wärst du es selbst, mein lie­ber d’Al­bon, ein al­ter Schul­ka­me­rad!«

»Aber Phil­ipp, ver­stehst du denn nicht mehr Fran­zö­sisch? Du hast je­den­falls dei­nen Geist in Si­bi­ri­en ge­las­sen«, ent­geg­ne­te der di­cke Mann und warf einen ko­mi­schen Schmer­zens­blick auf einen Pfos­ten, der hun­dert Schrit­te da­von sich er­hob.

»Ich ver­ste­he«, er­wi­der­te Phil­ipp, nahm sei­ne Flin­te, er­hob sich plötz­lich, sprang mit ei­nem ein­zi­gen Satz in das Feld hin­über und eil­te zu dem Pfos­ten hin. »Hier­her, d’Al­bon, hier­her! Halb­links!« rief er sei­nem Ge­fähr­ten zu und zeig­te ihm mit ei­ner Hand­be­we­gung einen brei­ten ge­pflas­ter­ten Weg. »Von Bail­let nach Ile-Adam« fuhr er fort; »dann wer­den wir also in die­ser Rich­tung den Weg nach Cassan fin­den, der sich von dem nach Ile-Adam ab­zwei­gen muß.

»Das stimmt, mein lie­ber Oberst , sag­te Herr d’Al­bon und setz­te sei­ne Müt­ze, mit der er sich Luft zu­ge­fä­chelt hat­te, wie­der auf den Kopf.

»Also vor­wärts, mein ver­eh­rungs­wür­di­ger Rat, er­wi­der­te der Oberst Phil­ipp und pfiff den Hun­den, die ihm schon bes­ser zu ge­hor­chen schie­nen als dem Be­am­ten, dem sie ge­hör­ten.

»Wis­sen Sie, mein Herr Mar­quis,« be­gann der Of­fi­zier spot­tend, »daß wir noch mehr als zwei Mei­len vor uns ha­ben? Das Dorf, das wir dort un­ten se­hen, muß Bail­let sein.

»Gro­ßer Gott!« rief der Mar­quis d’Al­bon aus, »ge­hen Sie nach Cassan, wenn Ih­nen das Ver­gnü­gen macht, aber Sie wer­den dann ganz al­lein ge­hen. Ich zie­he vor, hier trotz des Ge­wit­ters ein Pferd ab­zu­war­ten, das Sie mir aus dem Schloß schi­cken wer­den. Sie ha­ben sich über mich mo­kiert, Sucy. Wir hät­ten einen net­ten klei­nen Jagd­aus­flug ma­chen, uns nicht von Cassan ent­fer­nen, die Ter­rains, die ich ken­ne, ab­su­chen sol­len. Na, an­statt daß wir un­sern Spaß da­bei ha­ben, las­sen Sie mich wie einen Jagd­hund seit vier Uhr mor­gens lau­fen, und wir ha­ben als gan­zes Früh­stück nur zwei Tas­sen Milch ge­habt! Ach, wenn Sie je­mals einen Pro­zeß bei Ge­richt ha­ben soll­ten, dann wer­de ich Sie ihn ver­lie­ren las­sen, wenn Sie auch hun­dert­mal Recht hät­ten!«

Und mut­los setz­te sich der Jä­ger auf einen der Stei­ne am Fuße des Pfos­tens, leg­te sei­ne Flin­te und sei­ne lee­re Jagd­ta­sche ab und stieß einen lan­gen Seuf­zer aus.

»So sind dei­ne De­pu­tier­ten, Frank­reich!« rief der Oberst von Sucy la­chend. »Ach, mein ar­mer Al­bon, wenn Sie, wie ich, sechs Jah­re tief in Si­bi­ri­en ge­we­sen wä­ren! …

Er vollen­de­te den Satz nicht und blick­te zum Him­mel auf, als ob sei­ne Lei­den ein Ge­heim­nis zwi­schen Gott und ihm wä­ren.

»Vor­wärts! Wei­ter!« füg­te er hin­zu. »Wenn Sie hier sit­zen blei­ben, sind Sie ver­lo­ren.«

»Was wol­len Sie, Phil­ipp? Das ist so eine alte Ge­wohn­heit bei ei­nem Be­am­ten! Auf Ehre, ich bin voll­kom­men er­schöpft! Wenn ich we­nigs­tens noch einen Ha­sen ge­schos­sen hät­te!«

Die bei­den Jä­ger bo­ten einen sel­te­nen Ge­gen­satz dar. Der De­pu­tier­te war ein Mann von zwei­und­vier­zig Jah­ren und schi­en nicht äl­ter als drei­ßig zu sein, wäh­rend der drei­ßig­jäh­ri­ge Of­fi­zier we­nigs­tens vier­zig alt zu sein schi­en. Bei­de tru­gen die rote Ro­set­te, das Ab­zei­chen der Of­fi­zie­re der Ehren­le­gi­on. Et­li­che Lo­cken, schwarz und weiß wie der Flü­gel ei­ner Els­ter, stahlen sich un­ter der Jagd­müt­ze des Obers­ten her­vor; schö­ne blon­de Haar­wel­len schmück­ten die Schlä­fen des Rich­ters. Der eine war von ho­hem Wuchs, ma­ger, schlank, ner­vös, und die Run­zeln sei­nes wei­ßen Ge­sichts deu­te­ten auf furcht­ba­re Lei­den­schaf­ten oder schreck­li­che Lei­den; der an­de­re be­saß ein von Ge­sund­heit strah­len­des Ge­sicht mit dem jo­via­len, ei­nes Epi­kurä­ers wür­di­gen Aus­druck. Bei­de wa­ren stark von der Son­ne ver­brannt, und ihre ho­hen Wild­le­der­ga­ma­schen tru­gen die Merk­ma­le al­ler Grä­ben und Sümp­fe, die sie pas­siert hat­ten, an sich.

»Los!« rief Herr de Sucy, »vor­wärts! In ei­ner klei­nen Stun­de wer­den wir an ei­nem gut be­setz­ten Tisch sit­zen.«

»Sie kön­nen nie­mals ge­liebt ha­ben,« er­wi­der­te der Rat mit ei­nem ko­mi­schen Aus­druck von Mit­leid, »denn Sie sind so un­er­bitt­lich wie der Ar­ti­kel 304 des Straf­ge­setz­buchs!«

Ein hef­ti­ges Zit­tern über­fiel Phil­ipp; sei­ne brei­te Stirn run­zel­te sich; sein Ge­sicht wur­de eben­so düs­ter, wie es der Him­mel jetzt ge­wor­den war. Ob­gleich die Erin­ne­rung an ein furcht­bar bit­te­res Er­leb­nis alle sei­ne Züge ver­zerr­te, ver­goß er kei­ne Trä­ne. Wie alle star­ken Män­ner ver­moch­te er sei­ne Auf­re­gun­gen tief im Her­zen zu be­gra­ben und emp­fand viel­leicht, wie vie­le rei­ne See­len, eine Art Scham­lo­sig­keit da­bei, sei­ne Schmer­zen blos­zu­le­gen, wenn kein mensch­li­ches Wort ihre Tie­fe aus­drücken kann und man den Spott der Leu­te fürch­tet, die sie nicht ver­lie­hen wol­len. Herr d’Al­bon war eine von den zart­füh­len­den See­len, die Schmer­zen zu ah­nen wis­sen und ein leb­haf­tes Mit­ge­fühl emp­fin­den, wenn sie un­be­ab­sich­tigt durch ir­gend­ei­ne Un­ge­schick­lich­keit An­stoß er­regt ha­ben. Er ach­te­te das Schwei­gen sei­nes Freun­des, er­hob sich, ver­gaß sei­ne Mü­dig­keit und folg­te ihm schwei­gend, ganz be­trübt dar­über, eine Wun­de be­rührt zu ha­ben, die wahr­schein­lich nicht ver­narbt war.

»Ei­nes Ta­ges, lie­ber Freund,« sag­te Phil­ipp zu ihm und drück­te ihm die Hand, wo­bei er ihm mit ei­nem herz­zer­rei­ßen­den Blick für sein stum­mes Mit­ge­fühl dank­te, »ei­nes Ta­ges wer­de ich dir mein Le­ben er­zäh­len. Heu­te ver­möch­te ich es nicht.«

Schwei­gend setz­ten sie ih­ren Weg fort. Als der Schmerz des Obers­ten sich be­sänf­tigt hat­te, emp­fand der Rat sei­ne Mü­dig­keit wie­der; und mit dem In­stinkt oder viel­mehr mit dem Wil­len ei­nes er­schöpf­ten Man­nes durch­forsch­te sein Auge alle Tie­fen des Wal­des; er prüf­te die Wip­fel der Bäu­me, stu­dier­te die Wege, in der Hoff­nung, ir­gend­ei­ne Her­ber­ge zu fin­den, wo er um Gast­freund­schaft bit­ten konn­te. An ei­nem Kreuz­weg an­ge­langt, glaub­te er einen leich­ten Rauch zu ent­de­cken, der zwi­schen den Bäu­men auf­stieg. Er blieb ste­hen, sah auf­merk­sam hin und er­kann­te in­mit­ten ei­ner rie­si­gen Baum­grup­pe die grü­nen dunklen Zwei­ge et­li­cher Fich­ten. »Ein Haus! Ein Haus!« rief er mit dem­sel­ben Ver­gnü­gen, mit dem ein Schif­fer ge­ru­fen hät­te: » Land, Land!«

Dann eil­te er schnell durch eine dich­te Baum­grup­pe, und der Oberst, der in eine tie­fe Träu­me­rei ver­sun­ken war, folg­te ihm me­cha­nisch.

»Ich will mich lie­ber hier mit ei­ner Ome­let­te, Haus­brot und ei­nem Stuhl be­gnü­gen, als nach Cassan wei­ter­ge­hen, um dort Di­wans, Trüf­feln und Bor­deaux­wein zu fin­den.«

Das war der be­geis­ter­te Aus­ruf des Ra­tes beim An­blick ei­ner Mau­er, de­ren weiß­li­che Far­be sich weit­hin von der brau­nen Mas­se der knor­ri­gen Stäm­me des Wal­des ab­hob.

»Ei, ei! Das sieht mir aus wie ir­gend­ei­ne alte Prio­rei«, rief der Mar­quis d’Al­bon von neu­em, als er vor ei­nem al­ten schwar­zen Git­ter an­lang­te, wo er in­mit­ten ei­nes ziem­lich wei­ten Parks ein Bau­werk er­blick­te, das in dem einst­mals den Klos­ter­bau­ten ei­gen­tüm­li­chen Stil er­rich­tet war. »Wie die­se Kerls von Mön­chen es ver­stan­den ha­ben, eine Bau­stel­le aus­zu­wäh­len!« Die­ser neue Aus­ruf war der Aus­druck des Er­stau­nens, das dem Be­am­ten die schö­ne Ein­sie­de­lei ver­ur­sach­te, die sich sei­nen Bli­cken dar­bot. Das Haus lag halb­seits auf dem Ab­hang des Ber­ges, des­sen Gip­fel von dem Dor­fe Ner­ville ein­ge­nom­men wird. Die großen hun­dert­jäh­ri­gen Ei­chen des Wal­des, der einen rie­si­gen Kreis um die­se Be­hau­sung zog, mach­ten dar­aus eine rich­ti­ge Ein­sie­de­lei. Der einst für die Mön­che be­stimm­te Haupt­flü­gel lag ge­gen Sü­den. Der Park schi­en vier­zig Mor­gen zu um­fas­sen. Nahe bei dem Hau­se brei­te­te sich eine grü­ne Wie­se aus, die in glück­li­cher Wei­se von meh­re­ren kla­ren Bä­chen und von ge­schickt an­ge­brach­ten Was­ser­fäl­len durch­flos­sen war, all das an­schei­nend ohne An­wen­dung von Kunst. Hier und da er­ho­ben sich grü­ne Bäu­me von ele­gan­ten For­men mit ver­schie­den­ar­ti­gem Laub. Dann ga­ben da ge­schickt aus­ge­spar­te Grot­ten, mäch­ti­ge Ter­ras­sen mit be­schä­dig­ten Trep­pen und ros­ti­gen Ge­län­dern die­ser wil­den The­bais einen be­son­de­ren Aus­druck. Die Kunst hat­te ge­fäl­lig ihre Bau­ten mit den ma­le­ri­schen Wir­kun­gen der Na­tur ver­ei­nigt. Die mensch­li­chen Lei­den­schaf­ten schie­nen am Fuß der großen Bäu­me ster­ben zu müs­sen, die die­ses Asyl vor dem Her­an­strö­men des Lärms der Welt ver­tei­dig­ten, wie sie die Glut der Son­ne mä­ßig­ten.

»Was für ein Ver­fall!« sag­te sich Herr d’Al­bon, nach­dem er den düs­te­ren Aus­druck emp­fun­den hat­te, den die Rui­nen der Land­schaft ver­lie­hen, die wie mit ei­nem Fluch ge­schla­gen er­schi­en. Es war wie ein von den Men­schen ver­las­se­ner ver­wünsch­ter Ort. Der Efeu hat­te über­all sei­ne ge­wun­de­nen Ran­ken und sei­nen rei­chen Blät­ter­man­tel aus­ge­brei­tet. Brau­nes, grü­nes, gel­bes oder ro­tes Moos über­zog mit sei­ner ro­man­ti­schen Fär­bung Bäu­me, Bän­ke, Dä­cher und Stei­ne. Die wurm­sti­chi­gen Fens­ter wa­ren vom Re­gen ver­wa­schen und vom Wet­ter durch­lö­chert, die Bal­ko­ne zer­bro­chen, die Ter­ras­sen zer­stört. Man­che Ja­lou­si­en hiel­ten nur noch an ei­nem Ha­ken. Die nicht schlie­ßen­den Tü­ren schie­nen kei­nem An­grei­fer stand­hal­ten zu kön­nen. Be­han­gen mit leuch­ten­den Tuffs von Mis­teln, brei­te­ten sich die un­ge­pfleg­ten Äste der Frucht­bäu­me weit­hin aus, ohne eine Ern­te zu ge­ben. Hoch­ge­wach­se­nes Kraut über­wu­cher­te die Al­leen. Die­se Res­te ga­ben dem Bil­de den Aus­druck reiz­vol­ler Poe­sie und er­reg­ten in der See­le des Be­schau­ers träu­me­ri­sche Ge­dan­ken. Ein Dich­ter wäre hier in lan­ge wäh­ren­de Me­lan­cho­lie ver­sun­ken, vol­ler Be­wun­de­rung für die­se har­mo­ni­sche Un­ord­nung, für die­ses reiz­vol­le Bild der Zer­stö­rung. In die­sem Mo­ment er­glänz­ten ei­ni­ge Son­nen­strah­len mit­ten durch die Lücken der Wol­ken und be­leuch­te­ten mit tau­send Far­ben die­se halb wil­de Sze­ne. Die brau­nen Dach­zie­gel er­strahl­ten, das Moos leuch­te­te, phan­tas­ti­sche Schat­ten husch­ten über die Wie­sen un­ter den Bäu­men hin; die er­stor­be­nen Far­ben leb­ten wie­der auf, ei­gen­ar­ti­ge Ge­gen­sät­ze mach­ten sich gel­tend, das Blatt­werk hob sich scharf in der Hel­lig­keit ab. Plötz­lich ver­schwand das Licht. Die Land­schaft, die ge­spro­chen zu ha­ben schi­en, wur­de stumm und wie­der düs­ter, oder viel­mehr matt wie der mat­tes­te Schim­mer ei­nes Herbst­ne­bels.

»Das ist Dorn­rös­chens Schloß,« sag­te sich der Rat, der das Haus nur noch mit den Au­gen des Ei­gen­tü­mers an­sah. »Wem mag es nur ge­hö­ren? Man muß sehr tö­richt sein, wenn man einen so hüb­schen Be­sitz nicht be­wohnt!«

Plötz­lich sprang eine Frau un­ter ei­nem rechts vom Git­ter ste­hen­den Nuß­baum her­vor und husch­te, ohne Geräusch zu ma­chen, so schnell wie der Schat­ten ei­ner Wol­ke bei dem Rat vor­bei; die­se Er­schei­nung mach­te ihn stumm vor Stau­nen.

»Nun, d’Al­bon, was ha­ben Sie?« frag­te ihn der Oberst.

»Ich rei­be mir die Au­gen, um zu wis­sen, ob ich schla­fe oder wa­che«, ant­wor­te­te der Be­am­te und drück­te sich an das Git­ter, um zu ver­su­chen, das Phan­tom noch­mals zu er­bli­cken.

»Sie ist jetzt wahr­schein­lich un­ter dem Fei­gen­baum«, sag­te er und zeig­te Phil­ipp die Blatt­kro­ne ei­nes Bau­mes, der links vom Git­ter über der Mau­er em­por­rag­te.

»Wer denn, sie?«

»Ja, kann ich das wis­sen?« ent­geg­ne­te Herr d’Al­bon. »Eben hat sich hier vor mir eine fremd­ar­ti­ge Frau­en­ge­stalt er­ho­ben«, sag­te er lei­se; »sie schi­en mir mehr dem Reich der Schat­ten als der Welt der Le­ben­den an­zu­ge­hö­ren. Sie er­scheint so schlank, so leicht, so luft­ar­tig, daß sie durch­sich­tig sein muß. Ihr Ge­sicht ist weiß wie Milch. Ihre Klei­dung, ihre Au­gen, ihre Haa­re sind schwarz. Sie hat mich im Vor­bei­kom­men an­ge­blickt, und ob­gleich ich nicht furcht­sam bin, hat ihr un­be­weg­li­cher kal­ter Blick mir das Blut in den Adern er­star­ren las­sen.«

»Ist sie hübsch?« frag­te Phil­ipp.

»Ich weiß es nicht. Ich habe nur die Au­gen in ih­rem Ge­sicht ge­se­hen.«

»Also zum Teu­fel mit un­serm Di­ner in Cassan!« rief der Oberst, »blei­ben wir hier. Ich habe eine kin­di­sche Lust, in die­se ei­gen­ar­ti­ge Be­sit­zung hin­ein­zu­ge­hen. Siehst du die­se rot­ge­mal­ten Fens­te­r­ein­fas­sun­gen und die­se ro­ten, auf das Ge­sims der Tü­ren und Fens­ter­lä­den ge­mal­ten Strei­fen? Scheint das dir nicht das Haus des Teu­fels zu sein? Er wird es viel­leicht von den Mön­chen ge­erbt ha­ben. Vor­wärts! Ei­len wir hin­ter der schwarz­wei­ßen Dame her! Vor­wärts!« rief Phil­ipp mit ge­mach­ter Lus­tig­keit.

In die­sem Au­gen­blick hör­ten die bei­den Jä­ger einen Schrei, der dem ei­ner in der Fal­le ge­fan­ge­nen Maus ziem­lich ähn­lich war. Sie horch­ten. Das Geräusch der ge­streif­ten Blät­ter ei­ni­ger Bü­sche mach­te sich in dem Schwei­gen be­merk­bar, wie das Ge­mur­mel ei­ner er­reg­ten Wel­le; aber ob­gleich sie an­ge­strengt lausch­ten, um wei­te­re Töne zu hö­ren, blieb die Erde still und be­wahr­te das Ge­heim­nis der Schrit­te der Un­be­kann­ten, wenn sie über­haupt wel­che ge­macht hat­te.

»Das ist selt­sam«, rief Phil­ipp und ver­folg­te die Li­nie, die die Mau­er des Parks be­schrieb.

Die bei­den Freun­de ge­lang­ten bald zu ei­ner Al­lee des Wal­des, die nach dem Dor­fe Chau­vry führ­te. Nach­dem sie den Weg auf der Stra­ße nach Pa­ris zu­rück­ge­gan­gen wa­ren, be­fan­den sie sich vor ei­nem großen Git­ter und er­blick­ten nun die Haupt­fassa­de der ge­heim­nis­vol­len Be­hau­sung. Von die­ser Sei­te er­schi­en die Zer­stö­rung auf ih­rem Gip­fel: un­ge­heu­re Ris­se durch­furch­ten die drei Flü­gel die­ses recht­wink­lig er­rich­te­ten Bau­werks. Trüm­mer von Zie­geln und Schie­fer­plat­ten wa­ren auf der Erde an­ge­häuft, und zer­stör­te Dä­cher zeig­ten eine voll­kom­me­ne Un­be­küm­mert­heit an. Et­li­che Früch­te wa­ren un­ter den Bäu­men ab­ge­fal­len und ver­faul­ten, ohne daß je­mand sie auf­sam­mel­te. Eine Kuh ging quer über den Gras­p­latz und schnup­per­te in den Bee­ten her­um, wäh­rend eine Zie­ge die grü­nen Bee­ren und Ran­ken ei­nes Wein­stocks kau­te.

»Hier ist al­les in Über­ein­stim­mung, und die Un­ord­nung ist ge­wis­ser­ma­ßen or­ga­ni­siert«, sag­te der Oberst und zog an der Schnur ei­ner Glo­cke; aber die Glo­cke hat­te kei­nen Klöp­fel.

Die bei­den Jä­ger hör­ten nur den ei­gen­ar­ti­gen schar­fen Ton ei­nes ver­ros­te­ten Glo­cken­zu­ges. Ob­gleich sehr ver­fal­len, wi­der­stand die klei­ne Tür in der Mau­er doch je­dem Druck.

»Ei, ei! Al­les macht einen hier neu­gie­rig«, sag­te er zu sei­nem Ge­fähr­ten.

»Wenn ich kein Be­am­ter wäre,« ant­wor­te­te d’Al­bon, »wür­de ich das schwar­ze Weib für eine Hexe hal­ten.«

Kaum hat­te er die­sen Satz be­en­det, als die Kuh an das Git­ter kam und ih­nen ihre war­me Schnau­ze hin­hielt, als ob sie das Be­dürf­nis fühl­te, mensch­li­che We­sen zu se­hen. Jetzt wur­de ein Weib sicht­bar, falls man das un­be­schreib­ba­re We­sen, das sich un­ter ei­ner Grup­pe von Sträu­chern er­hob, mit die­sem Na­men be­zeich­nen kann, und zog die Kuh am Stri­cke. Die Frau hat­te auf dem Kop­fe ein ro­tes Tuch, aus dem blon­de Flech­ten her­vor­sa­hen, die dem Hanf an der Spin­del ziem­lich ähn­lich wa­ren. Sie war ohne Hals­tuch. Ein Un­ter­rock aus gro­ber Wol­le, ab­wech­selnd schwarz und grau ge­streift, der um ei­ni­ge Hand­breit zu kurz war, ließ ihre Bei­ne se­hen. Man hät­te glau­ben kön­nen, daß sie zu ei­nem Stam­me von Coo­pers be­rühm­ten Rot­häu­ten ge­hör­te, denn ihre Bei­ne, ihr Hals und ihre nack­ten Arme schie­nen mit Zie­gel­far­be an­ge­malt zu sein. Kein Strahl von In­tel­li­genz be­leb­te ihr glat­tes Ge­sicht. Ihre bläu­li­chen Au­gen wa­ren ohne Wär­me und ohne Glanz. Ei­ni­ge wei­ße dün­ne Haa­re deu­te­ten Au­gen­brau­en an. Ihr Mund end­lich war so ge­schnit­ten, daß er schlecht ge­wach­se­ne Zäh­ne se­hen ließ, die aber so weiß wie die ei­nes Hun­des wa­ren.

»Halt da, Frau!« rief Herr de Sucy.

Sie kam lang­sam bis ans Git­ter her­an und be­trach­te­te mit stumpf­sin­ni­gem Ge­sicht die bei­den Jä­ger, bei de­ren An­blick ihr ein schmerz­li­ches, ge­zwun­ge­nes Lä­cheln ent­schlüpf­te.

»Wo sind wir denn? Was ist das für ein Haus? Wem ge­hört es? Wer sind Sie? Sind Sie von hier?«

Auf die­se Fra­gen und eine Men­ge an­de­rer, die die bei­den Freun­de nach­ein­an­der an sie rich­te­ten, ant­wor­te­te sie nur mit ei­nem aus der Keh­le kom­men­den Knur­ren, das eher ei­nem Tier als ei­nem mensch­li­chen We­sen zu ge­hö­ren schi­en.

»Se­hen Sie nicht, daß sie taub und stumm ist? sag­te der Rich­ter.

»Bons-Hom­mes!« rief die Bäue­rin.

»Ah, sie hat recht! Dies könn­te wohl das alte Klos­ter Bons-Hom­mes sein«, sag­te Herr d’Al­bon.

Die Fra­gen be­gan­nen von neu­em. Aber wie ein ei­gen­wil­li­ges Kind wur­de die Bäue­rin rot, spiel­te mit ih­rem Pan­tof­fel, dreh­te an dem Strick der Kuh, die wie­der ab­zu­wei­den be­gon­nen hat­te, sah sich die bei­den Jä­ger an und prüf­te alle Tei­le ih­res An­zugs; sie kreisch­te, sie knurr­te, sie glucks­te, aber sie brach­te kein Wort her­aus.

»Wie heißt du?« sag­te Phil­ipp und sah sie fest an, als woll­te er sie hyp­no­ti­sie­ren.

»Ge­no­ve­fa«, sag­te sie mit ei­nem dum­men La­chen.

»Bis jetzt ist die Kuh die in­tel­li­gen­tes­te Krea­tur, die wir hier ge­se­hen ha­ben«, rief der Rat. »Ich wer­de einen Schuß ab­feu­ern, da­mit Leu­te kom­men.«

Gera­de als d’Al­bon sei­ne Waf­fe er­griff, hielt ihn der Oberst mit ei­ner Ges­te zu­rück und zeig­te mit dem Fin­ger auf die Un­be­kann­te, die ihre Neu­gier­de so leb­haft er­regt hat­te. Die Frau schi­en in tie­fes Nach­den­ken ver­sun­ken und kam mit lang­sa­men Schrit­ten aus ei­ner ziem­lich ent­fern­ten Al­lee, so daß die bei­den Freun­de Zeit hat­ten, sie ge­nau zu be­trach­ten. Sie war mit ei­nem ganz ab­ge­tra­ge­nen schwar­zen Sei­den­rock be­klei­det. Ihre lan­gen Haa­re fie­len in zahl­rei­chen Wel­len über ihre Stirn, um ihre Schul­tern und reich­ten bis un­ter ihre Tail­le hin­ab, in­dem sie ihr als Schal dienten. An die­se Un­ord­nung of­fen­bar ge­wöhnt, schob sie nur sel­ten ihr Haar von bei­den Schlä­fen hin­weg; dann aber schüt­tel­te sie das Haupt mit jä­her Be­we­gung und brauch­te sich nicht zwei­mal zu be­mü­hen, um ihre Stirn oder ihre Au­gen von dem di­cken Schlei­er zu be­frei­en. Ihre Ges­te zeig­te üb­ri­gens wie bei ei­nem Tier die be­wun­de­rungs­wür­di­ge me­cha­ni­sche Si­cher­heit, de­ren Schnel­lig­keit bei ei­ner Frau wie ein Wun­der er­schei­nen muß­te. Die bei­den Jä­ger sa­hen sie er­staunt auf einen Ast des Ap­fel­baums sprin­gen und sich hier mit der Leich­tig­keit ei­nes Vo­gels fest­hal­ten. Sie griff nach den Früch­ten, ver­speis­te sie, dann ließ sie sich mit zier­li­cher Läs­sig­keit, wie man sie an den Eich­hörn­chen be­wun­dert, zur Erde fal­len. Ihre Glie­der be­sa­ßen eine Elas­ti­zi­tät, die ih­ren ge­rings­ten Be­we­gun­gen je­den An­schein von Mühe oder An­stren­gung nahm. Sie spiel­te auf dem Ra­sen, ku­gel­te sich dort wie ein Kind her­um; dann streck­te sie plötz­lich ihre Füße und Hän­de aus und blieb aus­ge­brei­tet auf der Wie­se mit der Un­be­küm­mert­heit, der Gra­zie und der Na­tür­lich­keit ei­ner jun­gen Kat­ze lie­gen, die in der Son­ne ein­ge­schla­fen ist. Als der Don­ner in der Fer­ne groll­te, wand­te sie sich plötz­lich und stell­te sich mit be­wun­derns­wer­ter Ge­schick­lich­keit auf alle vie­re wie ein Hund, der einen Frem­den kom­men hört. Durch die­se merk­wür­di­ge Hal­tung schied sich ihr schwar­zes Haar so­gleich in zwei brei­te Flech­ten zu je­der Sei­te ih­res Kop­fes und er­laub­te den bei­den Zuschau­ern bei die­ser selt­sa­men Sze­ne ihre Schul­tern zu be­wun­dern, de­ren wei­ße Haut wie die Gän­se­blüm­chen auf der Wie­se leuch­te­ten, und einen Hals, des­sen Voll­kom­men­heit auf all das üb­ri­ge Eben­maß ih­res Kör­pers schlie­ßen ließ.

Sie ließ einen Schmer­zens­schrei hö­ren und stell­te sich ganz auf ihre Füße. Ihre Be­we­gun­gen folg­ten ein­an­der so gra­zi­ös und wur­den so leicht aus­ge­führt, daß sie kein mensch­li­ches We­sen, son­dern eine der durch die Dich­tun­gen Os­sians be­rühmt ge­wor­de­nen Töch­ter der Luft zu sein schi­en. Sie ging an eine der Was­ser­flä­chen her­an, schüt­tel­te leicht ein Bein, um ih­ren Schuh los­zu­ma­chen, und schi­en ein Ver­gnü­gen dar­an zu fin­den, ih­ren ala­bas­ter­wei­ßen Fuß in die Quel­le zu tau­chen, wäh­rend sie sich je­den­falls an den Wel­len­be­we­gun­gen er­götz­te, die sie da­bei er­zeug­te und die Edel­stei­nen gli­chen. Dann knie­te sie an dem Ran­de des Bass­ins nie­der und amü­sier­te sich wie ein Kind da­mit, ihre lan­gen Flech­ten ins Was­ser zu tau­chen und sie dann schnell wie­der her­aus­zu­zie­hen, um Trop­fen für Trop­fen das Was­ser, von de­nen es voll war, hin­a­b­lau­fen zu las­sen, das, von den Son­nen­strah­len durch­leuch­tet, einen förm­li­chen Ro­sen­kranz von Per­len bil­de­te.

»Das Weib ist irr­sin­nig!« rief der Rat aus.

Ein rau­her Schrei, den Ge­no­ve­fa aus­stieß, wur­de laut und schi­en sich an die Un­be­kann­te zu rich­ten, die sich schnell um­wand­te und ihr Haar von bei­den Sei­ten ih­res Ge­sich­tes wegstrich. In die­sem Mo­ment konn­ten der Oberst und d’Al­bon deut­lich die Züge der Frau er­ken­nen, die, als sie die bei­den Freun­de be­merk­te, in meh­re­ren Sprün­gen mit der Leich­tig­keit ei­ner Hirsch­kuh auf das Git­ter zu­eil­te. »Adieu!« sag­te sie mit sanf­ter, wohl­klin­gen­der Stim­me, aber ohne daß die­ser, un­ge­dul­dig von den Jä­gern er­war­te­te me­lo­di­öse Ton das ge­rings­te Emp­fin­den oder das ge­rings­te Den­ken ver­riet.

Herr d’Al­bon be­wun­der­te die lan­gen Wim­pern ih­rer Au­gen, ihre schwar­zen dich­ten Au­gen­brau­en und ihre blen­dend wei­ße Haut ohne den ge­rings­ten Schim­mer von Röte. Fei­ne blaue Adern durch­zo­gen al­lein ih­ren wei­ßen Teint. Als der Rat sich um­wand­te, um sei­nem Freun­de mit­zu­tei­len, wel­ches Er­stau­nen ihm der An­blick die­ses selt­sa­men Wei­bes ein­ge­flö­ßt hat­te, sah er die­sen wie tot auf dem Gra­se lie­gen. Herr d’Al­bon schoß sein Ge­wehr in die Luft ab, um Leu­te her­bei­zu­ru­fen und schrie: »Zu Hil­fe!« wäh­rend er ver­such­te, den Obers­ten auf­zu­rich­ten. Bei dem Knall des Schus­ses floh die Un­be­kann­te, die bis da­hin un­be­weg­lich ver­harrt hat­te, pfeil­schnell da­von, stieß Schre­ckens­schreie wie ein ver­wun­de­tes Tier aus und rann­te über die Wie­se mit al­len Zei­chen tiefs­ten Schre­ckens. Herr d’Al­bon ver­nahm das Her­an­rol­len ei­ner Ka­le­sche auf der Land­stra­ße von Ile-Adam und rief den Bei­stand der Spa­zie­ren­fah­ren­den durch Win­ken mit sei­nem Ta­schen­tuch her­bei. So­gleich lenk­te der Wa­gen nach Bons-Hom­mes ein, und d’Al­bon er­kann­te Herrn und Frau von Grand­ville, sei­ne Nach­barn, die sich be­eil­ten, aus ih­rem Wa­gen zu stei­gen und ihn dem Rat an­zu­bie­ten. Frau von Grand­ville hat­te zu­fäl­li­ger­wei­se ein Fla­kon mit äthe­ri­schem Salz bei sich, das man Herrn de Sucy ein­at­men ließ. Als der Oberst die Au­gen wie­der öff­ne­te, wand­te er sie der Wie­se zu, auf der die Un­be­kann­te nicht auf­hör­te zu ren­nen und zu schrei­en, und stieß einen un­deut­li­chen Ruf aus, der aber doch eine Emp­fin­dung von Schre­cken ver­riet; dann schloß er von neu­em die Au­gen und mach­te eine Be­we­gung, als wol­le er sei­nen Freund bit­ten, ihn die­sem Schau­spiel zu ent­rei­ßen. Herr und Frau von Grand­ville über­lie­ßen dem Rat die freie Ver­fü­gung über ih­ren Wa­gen, in­dem sie ihm ent­ge­gen­kom­men­der­wei­se er­klär­ten, daß sie ihre Pro­me­na­de zu Fuß fort­set­zen woll­ten.

»Wer ist denn die­se Dame?« frag­te der Rat und zeig­te auf die Un­be­kann­te.

»Man ver­mu­tet, daß sie aus Mou­lins kommt«, ant­wor­te­te Herr von Grand­ville. »Sie nennt sich Grä­fin von Van­dières. Man sagt, sie sei irr­sin­nig; aber da sie sich erst seit zwei Mo­na­ten hier auf­hält, kann ich Ih­nen nicht da­für ein­ste­hen, in­wie­weit alle die­se Gerüch­te auf Wahr­heit be­ru­hen.«

Herr d’Al­bon dank­te Herrn und Frau de Grand­ville und fuhr nach Cassan.

»Sie ist es!« rief Phil­ipp, als er wie­der zum Be­wußt­sein ge­kom­men war.

»Wer, sie?« frag­te d’Al­bon.

»Ste­pha­nie. Ach, tot oder le­bend, le­ben­dig oder irr­sin­nig! Ich glaub­te, ich müs­se ster­ben.«

Der vor­sich­ti­ge Rat, der die schwe­re Kri­sis be­griff, in die sein Freund ganz ver­fal­len war, hü­te­te sich wohl, ihn aus­zu­fra­gen oder auf­zu­re­gen; es ver­lang­te ihn un­ge­dul­dig da­nach, ins Schloß zu ge­lan­gen, denn die Ver­än­de­rung, die in den Zü­gen und in der gan­zen Per­sön­lich­keit des Obers­ten sich gel­tend mach­te, ließ ihn be­fürch­ten, daß die Grä­fin Phil­ipp mit ih­rer schreck­li­chen Krank­heit an­ge­steckt habe.

So­bald der Wa­gen die Ein­fahrt nach Ile-Adam er­reicht hat­te, schick­te d’Al­bon den Die­ner zum Arz­te des Fle­ckens; das ge­sch­ah so, daß der Dok­tor sich schon an sei­nem La­ger be­fand, als der Oberst zu Bett ge­bracht wur­de.

»Wäre der Herr Oberst nicht fast nüch­tern ge­we­sen,« sag­te der Chir­urg, »so wäre er ge­stor­ben. Sei­ne Mat­tig­keit hat ihn ge­ret­tet.«

Nach­dem er die ers­ten Vor­sichts­maß­re­geln an­ge­ord­net hat­te, ent­fern­te sich der Dok­tor, um selbst einen be­ru­hi­gen­den Trank zu be­rei­ten. Am an­dern Mor­gen be­fand sich Herr de Sucy bes­ser, aber der Arzt wünsch­te sel­ber, bei ihm zu blei­ben.

»Ich muß Ih­nen ge­ste­hen, Herr Mar­quis,« sag­te der Dok­tor zu Herrn d’Al­bon, »daß ich an eine Ver­let­zung des Ge­hirns ge­glaubt habe. Herr de Sucy ist das Op­fer ei­ner sehr hef­ti­gen Er­re­gung ge­wor­den: sei­ne Lei­den­schaft­lich­keit ist schnell ent­flammt; aber bei ihm ent­schei­det sich al­les auf den ers­ten Schlag. Mor­gen wird er viel­leicht schon au­ßer Ge­fahr sein.«

Der Arzt hat­te sich nicht ge­täuscht; am an­dern Mor­gen er­laub­te er dem Rat, sei­nen Freund wie­der­zu­se­hen.

»Mein lie­ber d’Al­bon,« sag­te Phil­ipp und drück­te ihm die Hand, »ich er­war­te einen Dienst von dir! Eile schnell nach Bons-Hom­mes! Er­kun­di­ge dich nach al­lem, was die Dame be­trifft, die wir ge­se­hen ha­ben, und komm schnell zu­rück, denn ich zäh­le die Mi­nu­ten.«

Herr d’Al­bon sprang auf ein Pferd und ga­lop­pier­te nach der al­ten Ab­tei. Als er an­kam, be­merk­te er vor dem Git­ter einen großen ha­ge­ren Mann mit ein­neh­men­dem Ge­sicht, der be­ja­hend ant­wor­te­te, als der Rat ihn frag­te, ob er die­ses zer­stör­te Haus be­woh­ne. Herr d’Al­bon teil­te ihm den Grund sei­nes Be­su­ches mit.

»Wie, mein Herr,« rief der Un­be­kann­te, »soll­ten Sie es ge­we­sen sein, der den ver­häng­nis­vol­len Flin­ten­schuß hat los­ge­hen las­sen? Sie hät­ten bei­na­he mei­ne arme Kran­ke ge­tö­tet.«

»Oh, mein Herr, ich habe in die Luft ge­schos­sen.«

»Sie hät­ten der Frau Grä­fin we­ni­ger Leid an­ge­tan, wenn Sie sie ge­trof­fen hät­ten.«

»Nun, wir ha­ben uns nichts vor­zu­wer­fen; denn der An­blick Ih­rer Grä­fin hat mei­nen Freund, Herrn de Sucy, bei­na­he ge­tö­tet.«

»Soll­te das der Baron Phil­ipp de Sucy sein?« rief der Un­be­kann­te und preß­te die Hän­de zu­sam­men. »War er in Ruß­land bei dem Über­gang über die Be­re­si­na?«

»Ja­wohl,« er­wi­der­te d’Al­bon; »er wur­de von den Ko­sa­ken ge­fan­gen und nach Si­bi­ri­en ge­bracht, von wo er erst vor etwa elf Mo­na­ten zu­rück­ge­kehrt ist.«

»Kom­men Sie her­ein, mein Herr«, sag­te der Un­be­kann­te und führ­te den Rat in einen im Erd­ge­schoß der Woh­nung be­le­ge­nen Sa­lon, wo al­les die Zei­chen ei­ner lau­nen­haf­ten Zer­stö­rung zeig­te.

Kost­ba­re Por­zel­lan­va­sen stan­den zer­bro­chen ne­ben ei­ner Ka­min­uhr, de­ren Ge­häu­se un­be­rührt war. Die sei­de­nen, an den Fens­tern an­ge­brach­ten Vor­hän­ge wa­ren zer­ris­sen, wäh­rend der dop­pel­te Mus­selin­vor­hang un­be­rührt war.

»Sie se­hen«, sag­te er beim Ein­tre­ten zu Herrn d’Al­bon, »die Zer­stö­run­gen, die das ent­zücken­de We­sen, dem ich mich ge­wid­met habe, ver­übt hat. Sie ist mei­ne Nich­te; trotz der Ohn­macht mei­ner Kunst hof­fe ich, ihr ei­nes Ta­ges den Ver­stand wie­der­ge­ben zu kön­nen, in­dem ich eine Kur an­wen­de, die un­glück­li­cher­wei­se nur den Rei­chen ge­stat­tet ist.« Dann er­zähl­te er, wie alle Per­so­nen, die ein­sam le­ben und im­mer wie­der an ih­rem Schmer­ze zeh­ren, dem Rat ein­ge­hend das nach­fol­gen­de Aben­teu­er, des­sen Dar­stel­lung hier zu­sam­men­ge­faßt und von zahl­rei­chen Ab­schwei­fun­gen, die der Er­zäh­ler und der Rat mach­ten, be­freit ist.

»Als er ge­gen neun Uhr abends die Hö­hen von Stud­zi­an­ka ver­ließ, die er am 28. No­vem­ber 1812 wäh­rend des gan­zen Ta­ges ver­tei­digt hat­te, ließ der Mar­schall Vic­tor hier etwa tau­send Mann zu­rück mit dem Be­fehl, bis zum letz­ten Au­gen­blick die­je­ni­ge der bei­den Brücken über die Be­re­si­na zu de­cken, die noch stand­hielt. Die­se Nach­hut hat­te sich auf­ge­op­fert, um zu ver­su­chen, eine furcht­ba­re Men­ge von vor Frost er­starr­ten Nach­züg­lern zu ret­ten, die sich hart­nä­ckig wei­ger­ten, den Train der Ar­mee im Stich zu las­sen. Der He­ro­is­mus die­ser edel­mü­ti­gen Trup­pe soll­te ver­geb­lich sein. Die Sol­da­ten, die in Mas­sen den Ufern der Be­re­si­na zu­ström­ten, fan­den hier un­glück­li­cher­wei­se eine Rie­sen­men­ge von Wa­gen, Kas­ten und Mö­bel­stücken je­der Art vor, die die Ar­mee ge­nö­tigt war, im Sti­che zu las­sen, als sie wäh­rend des 27. und 28. No­vem­ber ih­ren Marsch aus­führ­te. Als Er­ben un­er­war­te­ter Reich­tü­mer brach­ten sich die­se von der Käl­te er­starr­ten Un­glück­li­chen in den lee­ren Zel­ten un­ter, zer­bra­chen das dem Heer ge­hö­ri­ge Ma­te­ri­al, um sich Hüt­ten dar­aus zu bau­en, mach­ten Feu­er an mit al­lem, was ih­nen in die Hän­de fiel, zer­leg­ten die Pfer­de­kör­per, um sich zu er­näh­ren, zer­ris­sen das Tuch und den Stoff der Wa­gen, um sich zu be­de­cken, und schlie­fen dann, an­statt ih­ren Marsch fort­zu­set­zen und in Ruhe wäh­rend der Nacht die Be­re­si­na zu über­schrei­ten, die ein un­glaub­li­ches Ver­häng­nis der Ar­mee schon so ver­derb­lich ge­macht hat­te. Die Wil­len­lo­sig­keit die­ser ar­men Sol­da­ten kann nur von de­nen be­grif­fen wer­den, die sich er­in­nern wer­den, wie sie die­se rie­si­gen Schnee­wüs­ten durch­wan­dert ha­ben, ohne an­de­res Ge­tränk als Schnee, ohne ein an­de­res Bett als Schnee, ohne einen an­dern Aus­blick als auf einen Ho­ri­zont von Schnee, ohne eine an­de­re Nah­rung als Schnee oder ei­ni­ge er­fro­re­ne Rü­ben und et­li­che Hand­voll Mehl oder Pfer­de­fleisch. Halb­tot vor Hun­ger, Durst, Mü­dig­keit und Schlaf­sucht, lang­ten die Un­glück­li­chen an ei­nem Ufer an, wo sie Holz, Feu­er, Le­bens­mit­tel, un­zäh­li­ge ver­las­se­ne Fuhr­wer­ke und Zel­te vor­fan­den, kurz eine gan­ze im­pro­vi­sier­te Stadt. Das Dorf Stud­zi­an­ka war völ­lig zer­legt, ver­teilt und von den Hö­hen in die Ebe­ne hin­ab­ge­bracht wor­den. Wie kläg­lich und ge­fähr­lich die­se Stadt war, ihr Elend und ihr Jam­mer lach­ten die Leu­te an, die nur die schreck­li­chen Wüs­ten Ruß­lands vor sich sa­hen. Es war nur ein un­ge­heu­res Kran­ken­haus, dem kei­ne zwan­zig Stun­den Exis­tenz be­schie­den wa­ren. Die Mat­tig­keit ih­rer Le­bens­kräf­te oder das Ge­fühl ei­nes un­er­war­te­ten Wohl­be­ha­gens ließ in die­ser Men­schen­mas­se kei­nen an­de­ren Ge­dan­ken auf­kom­men als den der Ruhe. Ob­gleich die Ar­til­le­rie des lin­ken rus­si­schen Flü­gels ohne Un­ter­laß auf die­se Men­ge schoß, die sich als ein großer, bald dunk­ler, bald flam­men­der Fleck mit­ten auf dem Schnee ab­zeich­ne­te, war der un­er­müd­li­che Ku­gel­re­gen für die er­starr­te Mas­se nur eine Unan­nehm­lich­keit mehr. Es war wie ein Un­wet­ter, des­sen Blit­ze von al­ler Welt ge­ring ge­schätzt wur­den, weil sie hier oder dort nur auf Ster­ben­de, Kran­ke oder viel­leicht schon Tote tra­fen. Je­den Au­gen­blick tra­fen Nach­züg­ler in Grup­pen ein. Die­se Ar­ten wan­deln­der Ka­da­ver ver­teil­ten sich so­gleich und bet­tel­ten von Herd zu Herd um einen Platz; dann, meis­tens zu­rück­ge­trie­ben, ver­ei­nig­ten sie sich von neu­em, um mit Ge­walt die ver­wei­ger­te Gast­freund­schaft zu er­zwin­gen. Taub ge­gen die Stim­men et­li­cher Of­fi­zie­re, die ih­nen den Tod für den nächs­ten Tag vor­aus­sag­ten, ver­brauch­ten sie das für das Über­schrei­ten des Flus­ses er­for­der­li­che Quan­tum von Mut, um sich ein Asyl für die Nacht her­zu­stel­len und eine häu­fig ver­häng­nis­vol­le Mahl­zeit zu sich zu neh­men; der Tod, der sie er­war­te­te, schi­en ih­nen kein Un­glück mehr zu sein, da er ih­nen eine Stun­de Schlaf ver­gönn­te. Mit ›Un­glück‹ be­zeich­ne­ten sie nur den Hun­ger, den Durst, die Käl­te. Wenn sie kein Holz, kein Feu­er, kei­ne Klei­dung, kein Ob­dach fan­den, ent­span­nen sich fürch­ter­li­che Kämp­fe zwi­schen de­nen, die von al­lem ent­blö­ßt hin­zu­ka­men, und den Rei­chen, die eine Woh­nung be­sa­ßen. Die Schwä­che­ren un­ter­la­gen da­bei. Schließ­lich trat der Mo­ment ein, wo et­li­che von den Rus­sen Ver­jag­te nur noch Schnee als La­ger hat­ten und sich dar­auf nie­der­leg­ten, um sich nicht wie­der zu er­he­ben. Un­merk­lich schloß sich die­se Men­ge fast leb­lo­ser We­sen so fest zu­sam­men, wur­de so taub, so stumpf oder viel­leicht auch so glück­se­lig, daß der Mar­schall Vic­tor, ihr hel­den­mü­ti­ger Ver­tei­di­ger, der zwan­zig­tau­send von Witt­gen­stein be­feh­lig­ten Rus­sen Wi­der­stand ge­leis­tet hat­te, ge­nö­tigt war, sich mit schnel­ler Ge­walt einen Weg durch die­sen Wald von Men­schen zu bah­nen, um mit fünf­tau­send Tap­fe­ren, die er dem Kai­ser zu­führ­te, über die Be­re­si­na zu set­zen. Die­se Un­glück­li­chen lie­ßen sich lie­ber tottre­ten als sich zu rüh­ren, und gin­gen still­schwei­gend zu­grun­de, in­dem sie ih­ren er­lo­sche­nen Feu­ern zu­lä­chel­ten, ohne Frank­reichs zu ge­den­ken.

Erst um zehn Uhr abends be­fand sich der Her­zog von Bel­lu­ne am an­dern Ufer des Flus­ses. Be­vor er sich auf die Brücken be­gab, die nach Zem­bin führ­ten, ver­trau­te er das Schick­sal der Nach­hut von Stud­zi­an­ka Eblé an, dem Ret­ter al­ler de­rer, die das Un­glück der Be­re­si­na über­leb­ten. Es war un­ge­fähr ge­gen Mit­ter­nacht, als die­ser große Ge­ne­ral in Beglei­tung ei­nes tap­fe­ren Of­fi­ziers die klei­ne Hüt­te ver­ließ, die er nahe bei der Brücke be­wohn­te, und sich an­schick­te, das Schau­spiel zu be­trach­ten, wel­ches das La­ger zwi­schen dem Ufer der Be­re­si­na und dem Wege von Bo­ri­zof nach Stud­zi­an­ka bot. Die rus­si­sche Ar­til­le­rie hat­te auf­ge­hört zu feu­ern; die un­zäh­li­gen Feu­er in­mit­ten die­ser Schnee­mas­sen, die her­ab­ge­brannt wa­ren und kein Licht mehr zu ver­brei­ten schie­nen, be­leuch­te­ten hier und da Ge­sich­ter, die nichts Men­sch­li­ches mehr an sich hat­ten. Un­ge­fähr drei­ßig­tau­send Un­glück­li­che, zu al­len Na­tio­nen ge­hö­rig, die Na­po­le­on nach Ruß­land ge­wor­fen hat­te, wa­ren hier zu­sam­men und kämpf­ten mit bru­ta­ler Un­be­küm­mert­heit um ihr Le­ben.

›Ret­ten wir die­se al­le‹, sag­te der Ge­ne­ral zu dem Of­fi­zier. ›Mor­gen früh wer­den die Rus­sen Her­ren von Stud­zi­an­ka sein. Man muß also die Brücke nie­der­bren­nen im Au­gen­blick, wo die Rus­sen er­schei­nen wer­den; also Mut, mein Freund! Schla­ge dich durch bis zur Höhe. Sag dem Ge­ne­ral Four­nier, daß er kaum Zeit ha­ben wird, sei­ne Stel­lung auf­zu­ge­ben, die­se gan­ze Ge­sell­schaft zu durch­bre­chen und die Brücke zu pas­sie­ren. So­bald du siehst, daß er sich in Marsch setzt, wirst du ihm fol­gen. Mit Hil­fe ei­ni­ger kräf­ti­ger Leu­te wirst du mit­leid­los die La­ger, die Equi­pa­gen, die Kas­ten, die Wa­gen, al­les nie­der­bren­nen! Trei­be die gan­ze Ge­sell­schaft über die Brücke; zwin­ge al­les, was zwei Bei­ne hat, auf das an­de­re Ufer zu flüch­ten. Das Nie­der­bren­nen ist jetzt un­se­re letz­te Ret­tung. Hät­te Bert­hier mich die­se ver­damm­ten Equi­pa­gen ver­nich­ten las­sen, wür­de der Fluß nie­man­den fort­ge­schwemmt ha­ben als mei­ne ar­men Pio­nie­re, die fünf­zig Hel­den, die die ar­men ge­ret­tet ha­ben und die man ver­ges­sen wird!‹

Der Ge­ne­ral führ­te die Hand an sei­ne Stirn und ver­weil­te schwei­gend. Er hat­te die Emp­fin­dung, daß Po­len sein Grab sein wür­de, und daß kei­ne Stim­me sich zu­guns­ten die­ser edel­mü­ti­gen Män­ner er­he­ben wür­de, die sich im Was­ser hiel­ten, im Was­ser der Be­re­si­na!, um die Brücken­pfäh­le festz­u­ma­chen. Ein ein­zi­ger von ih­nen lebt, oder kor­rek­ter ge­sagt, lei­det heu­te noch in ei­nem Dor­fe, ein Un­be­kann­ter! Der Ad­ju­tant ent­fern­te sich. Kaum hat­te die­ser edel­mü­ti­ge Of­fi­zier hun­dert Schrit­te nach Stud­zi­an­ka hin ge­macht, als der Ge­ne­ral Eblé meh­re­re sei­ner lei­den­den Pio­nie­re auf­weck­te und sein Ret­tungs­werk be­gann, in­dem er die Zel­te, die um die Brücke her­um er­rich­tet wa­ren, an­zün­de­te und so die Schlä­fer, die ihn um­ga­ben, die Be­re­si­na zu über­schrei­ten zwang. In­zwi­schen war der jun­ge Ad­ju­tant nicht ohne Mühe bei dem ein­zi­gen Holz­hau­se an­ge­langt, das noch in Stud­zi­an­ka auf­recht stand.

›Ist denn die­se Ba­ra­cke sehr voll, Ka­me­rad?‹ sag­te er zu ei­nem Man­ne, den er drau­ßen be­merk­te.

›Wenn Sie her­ein­kom­men, wer­den Sie ein ge­schick­ter al­ter Sol­dat sein,‹ er­wi­der­te der Of­fi­zier, ohne sich um­zu­wen­den und ohne auf­zu­hö­ren, mit sei­nem Sä­bel das Holz des Hau­ses zu zer­stö­ren.

›Sind Sie es, Phil­ipp?‹ sag­te der Ad­ju­tant, der am Klan­ge der Stim­me einen sei­ner Freun­de er­kann­te. ›Ja­wohl. Ach, du bist es, mein Al­ter!‹ ent­geg­ne­te Herr de Sucy und be­trach­te­te den Ad­ju­tan­ten, der, wie er, erst drei­und­zwan­zig Jah­re alt war. ›Ich glaub­te dich auf der an­de­ren Sei­te die­ses ver­damm­ten Flus­ses. Bringst du uns Ku­chen und Kon­fekt zu un­se­rem Des­sert? Du wirst schön emp­fan­gen wer­den,‹ füg­te er hin­zu, in­dem er mit dem Los­schä­len der Holz­rin­de be­schäf­tigt war, die er nach länd­li­cher Wei­se sei­nem Pfer­de als Fut­ter reich­te. ›Ich su­che Ihren Kom­man­dan­ten, um ihn im Na­men des Ge­ne­rals Eblé auf­zu­for­dern, nach Zem­bin zu ei­len. Sie wer­den kaum Zeit ha­ben, durch die­se Mas­se von Ka­da­vern hin­durch­zu­kom­men, die ich gleich in Brand set­zen wer­de, um ih­nen Bei­ne zu ma­chen.‹

›Du machst mir ja förm­lich warm! Dei­ne Neu­ig­keit bringt mich in Schweiß. Ich habe zwei Freun­de zu ret­ten! Ach, ohne die­se bei­den Schütz­lin­ge wäre ich schon tot! Ihret­we­gen sor­ge ich für mein Pferd und esse selbst nicht mehr. Um Him­mels­wil­len hast du nicht ir­gend­ein Stück­chen Brot? Es sind jetzt drei­ßig Stun­den her, daß ich nichts in den Ma­gen be­kom­men habe, und ich habe wie ein Wahn­sin­ni­ger ge­kämpft, um mir das biß­chen Wär­me und Mut zu er­hal­ten, das ich noch be­sit­ze.‹

›Ar­mer Phil­ipp! Nichts, nichts. Ver­su­che nicht, hier hin­ein­zu­kom­men! In die­ser Scheu­ne lie­gen un­se­re Ver­wun­de­ten. Stei­ge noch hö­her! Du wirst dann zu dei­ner Rech­ten eine Art von Schwei­ne­ko­ben fin­den: da ist der Ge­ne­ral! Leb wohl, mein Tap­fe­rer. Wenn wir je­mals wie­der auf ei­nem Pa­ri­ser Par­kett Qua­dril­le tan­zen …‹

Er vollen­de­te den Satz nicht: der Sturm weh­te in die­sem Mo­ment so tückisch, daß der Ad­ju­tant los­mar­schier­te, um nicht zu er­frie­ren, und die Lip­pen des Ma­jors Phil­ipp er­starr­ten. Bald herrsch­te völ­li­ges Schwei­gen. Es wur­de nur von Seuf­zern un­ter­bro­chen, die aus dem Hau­se dran­gen, und durch das dump­fe Geräusch, das das Pferd des Herrn de Sucy mach­te, das vor Hun­ger und Wut die er­fro­re­ne Rin­de kau­te, aus der das Haus er­baut war. Der Ma­jor steck­te sei­nen Sä­bel in die Schei­de, nahm das kost­ba­re Tier, das er zu be­wah­ren ver­stan­den hat­te, jäh beim Zü­gel und riß es, trotz sei­nes Wi­der­stan­des, von der un­heil­vol­len Nah­rung zu­rück, nach der es so gie­rig war.

›Vor­wärts, Bi­chet­te, vor­wärts! Du al­lein kannst Ste­pha­nie ret­ten. War­te nur, spä­ter, da wer­den wir uns aus­ru­hen und si­cher ster­ben kön­nen.‹

Phil­ipp, in einen Pelz gehüllt, dem er sei­ne Er­hal­tung und sei­ne Ener­gie ver­dank­te, fing an zu lau­fen, in­dem er mit den Fü­ßen scharf auf den ge­fro­re­nen Schnee trat, um sich warm zu er­hal­ten. Kaum hat­te der Ma­jor fünf­hun­dert Schritt ge­macht, als er ein tüch­ti­ges Feu­er an dem Plat­ze wahr­nahm, wo er seit heu­te mor­gen sei­nen Wa­gen un­ter der Ob­hut ei­nes al­ten Sol­da­ten ge­las­sen hat­te. Eine furcht­ba­re Un­ru­he be­mäch­tig­te sich sei­ner. Wie alle die, wel­che wäh­rend die­ser Flucht von ei­ner mäch­ti­gen Emp­fin­dung be­herrscht wur­den, ver­spür­te er, um sei­nen Freun­den zu hel­fen, Kräf­te in sich, die er zu sei­ner ei­ge­nen Ret­tung nicht auf­ge­bracht hät­te. Bald be­fand er sich we­ni­ge Schritt von ei­ner Ter­rain­fal­te ent­fernt, in der er, vor den Ku­geln ge­bor­gen, eine jun­ge Frau un­ter­ge­bracht hat­te, sei­ne Ju­gend­ge­fähr­tin und sei­nen teu­ers­ten Schatz!

Et­li­che Schrit­te vom Wa­gen hat­ten sich etwa drei­ßig Nach­züg­ler vor ei­nem rie­si­gen Feu­er zu­sam­men­ge­fun­den, das sie mit hin­ein­ge­wor­fe­nen Bret­tern, mit den Ober­tei­len von Kas­ten, mit Rä­dern und Wa­gen­wän­den un­ter­hiel­ten. Die­se Sol­da­ten wa­ren je­den­falls die letz­ten al­ler Her­bei­ge­kom­me­nen, die von dem Ein­schnitt zwi­schen dem Ter­rain von Stud­zi­an­ka bis zu dem ver­häng­nis­vol­len Flus­se einen Ozean von Köp­fen, Feu­ern und Ba­ra­cken bil­de­ten, ein le­ben­des, von fast un­merk­li­chen Wo­gen be­weg­tes Meer, aus dem ein dump­fes, manch­mal von schreck­li­chem Lärm un­ter­bro­che­nes Geräusch em­por­drang. Von Hun­ger und Verzweif­lung ge­trie­ben, hat­ten die­se Un­glück­se­li­gen sich wahr­schein­lich zu dem Wa­gen hin­ge­drängt. Der alte Ge­ne­ral und die jun­ge Frau, die hier auf Fet­zen, in Män­tel und Pel­ze ge­wi­ckelt la­gen, wa­ren in die­sem Mo­ment vor dem Feu­er nie­der­ge­kniet. Der eine Wa­gen­vor­hang war zer­ris­sen. So­bald die um das Feu­er ge­la­ger­ten Män­ner die Trit­te des Pfer­des und des Ma­jors hör­ten, er­ho­ben sie einen Schrei wü­ten­den Hun­gers.

»Ein Pferd, ein Pferd!«

Al­les ver­ei­nig­te sich zu ei­nem ein­zi­gen Ruf.

›Zu­rück! Neh­men Sie sich in acht!‹ rie­fen zwei bis drei Sol­da­ten und mach­ten sich an das Pferd.

Phil­ipp stell­te sich vor sein Tier und sag­te: ›Schuf­te! Ich sto­ße euch alle in euer Feu­er. Da oben gib­t’s ge­nug tote Pfer­de! Holt sie euch.‹

›Ist das ein Spaß­vo­gel, die­ser Of­fi­zier! Eins, zwei, willst du dich weh­ren?‹ ent­geg­ne­te ein rie­si­ger Gre­na­dier. ›Na, gut, wie du willst!‹

Der Schrei ei­ner Frau lenk­te den Schuß ab. Phil­ipp wur­de glück­li­cher­wei­se nicht ge­trof­fen; aber Bi­chet­te, die zu­sam­men­ge­bro­chen war, kämpf­te mit dem Tode; drei Män­ner stürz­ten sich auf sie und ga­ben ihr mit Ba­jo­nett­stö­ßen den Rest.

›Kan­ni­ba­len! Laßt mich we­nigs­tens die De­cke und mei­ne Pis­to­len neh­men,‹ sag­te Phil­ipp ver­zwei­felt. ›Die Pis­to­len, ja‹, er­wi­der­te der Gre­na­dier. ›A­ber was die De­cke an­langt, da ist ein In­fan­te­rist, der seit zwei Ta­gen ›nichts auf sei­ner La­ter­ne‹ hat, und der in sei­nem elen­den Jam­mer­rock zit­tert. Das ist un­ser Ge­ne­ral …‹

Phil­ipp schwieg, als er einen Mann sah, des­sen Schuh­zeug ver­braucht, des­sen Hose an zehn Stel­len durch­lö­chert war, und der auf dem Kop­fe eine schlech­te, mit Eis be­deck­te Po­li­zei­müt­ze trug. Er be­eil­te sich, sei­ne Pis­to­len an sich zu neh­men. Fünf Män­ner zo­gen das Tier vor das Feu­er und be­gan­nen, es mit sol­cher Ge­schick­lich­keit zu zer­le­gen, wie es Flei­scher­ge­sel­len in Pa­ris hät­ten ma­chen kön­nen. Mit be­wun­de­rungs­wür­di­ger Kunst wur­den die Stücke ab­ge­löst und auf Koh­len ge­legt. Der Ma­jor stell­te sich ne­ben die Frau, die einen Schrei des Ent­set­zens aus­ge­sto­ßen hat­te, als sie ihn wie­der­er­kann­te; er sah sie un­be­weg­lich auf ei­nem Wa­gen­kis­sen sit­zend und sich wär­me­nd; sie be­trach­te­te ihn still­schwei­gend, ohne ihm zu­zu­lä­cheln. Phil­ipp sah jetzt ne­ben ihr den Sol­da­ten, dem er die Ver­tei­di­gung des Wa­gens an­ver­traut hat­te; der arme Mensch war ver­wun­det wor­den. Über­wäl­tigt von der Men­ge, war er eben den Nach­züg­lern ge­wi­chen, die ihn an­ge­grif­fen hat­ten; aber wie ein Hund, der bis zum letz­ten Au­gen­blick das Es­sen sei­nes Herrn ver­tei­digt hat, hat­te er sich sei­nen Teil an der Beu­te ge­nom­men und sich aus ei­nem wei­ßen Tuch eine Art Man­tel ge­macht. Jetzt war er da­mit be­schäf­tigt, ein Stück Pfer­de­fleisch um­zu­dre­hen, und der Ma­jor nahm auf sei­nem Ge­sich­te die Freu­de wahr, die ihm die Zu­rüs­tun­gen zu dem Fes­tes­sen ver­ur­sach­ten. Der Graf von Van­dières, seit drei Ta­gen in eine Art kin­di­schen Zu­stan­des ver­fal­len, blieb auf sei­nem Kis­sen ne­ben sei­ner Frau sit­zen und be­trach­te­te mit un­be­weg­li­chen Au­gen die Flam­men, de­ren Wär­me an­fing, sei­ne Er­star­rung zu mil­dern. Er war von der Ge­fahr und der An­kunft Phil­ipps nicht mehr er­regt wor­den, als von dem Kampf, bei dem sein Wa­gen ge­plün­dert wor­den war. Sucy er­griff zu­erst die Hand der jun­gen Grä­fin, um ihr ein Zei­chen sei­ner Hin­ga­be aus­zu­drücken und ihr den Schmerz dar­über kund­zu­ge­ben, daß sie so ins letz­te Elend ge­ra­ten war; aber er blieb stumm ne­ben ihr auf ei­nem Schnee­h­au­fen, der sich in Was­ser auf­lös­te, sit­zen und gab selbst dem Wohl­ge­fühl, sich zu er­wär­men, nach, die Ge­fahr und al­les an­de­re ver­ges­send. Sein Ge­sicht nahm ge­gen sei­ne Ab­sicht einen bei­na­he stumpf­sin­ni­gen Aus­druck von Freu­de an, und er war­te­te un­ge­dul­dig auf den Au­gen­blick, wo das sei­nen Sol­da­ten ge­ge­be­ne Stück Pfer­de­fleisch ge­bra­ten war. Der Ge­ruch die­ses ver­kohl­ten Flei­sches reiz­te sei­nen Hun­ger, und sein Hun­ger ließ sein Her­zens­emp­fin­den, sei­nen Mut und sei­ne Lie­be schwei­gen. Ohne Zorn be­trach­te­te er die Er­geb­nis­se der Plün­de­rung sei­nes Wa­gens. Alle Leu­te, die das Feu­er um­ga­ben, hat­ten sich in die De­cken, die Kis­sen, die Pel­ze, die männ­li­chen und weib­li­chen Klei­dungs­stücke des Gra­fen und der Grä­fin ge­teilt. Phil­ipp wand­te sich um, weil er se­hen woll­te, ob man noch Nut­zen aus sei­ner Kas­se zie­hen konn­te. Beim Lich­te der Flam­men be­merk­te er Gold, Dia­man­ten und Sil­ber­zeug zer­streut, ohne daß je­mand dar­an dach­te, sich auch nur das ge­rings­te Stück da­von an­zu­eig­nen. Je­des der In­di­vi­du­en, die der Zu­fall um das Feu­er zu­sam­men­ge­bracht hat­te, be­wahr­te ein Still­schwei­gen, das et­was Fürch­ter­li­ches an sich hat­te, und tat nichts wei­ter, als was er für sein Wohl­be­fin­den für not­wen­dig er­ach­te­te. Die­ses Elend hat­te et­was Gro­tes­kes. Die von der Käl­te ver­än­der­ten Ge­sich­ter wa­ren mit ei­nem Über­zug von Schmutz be­deckt, auf dem sich die Trä­nen­spu­ren von den Au­gen bis zum un­te­ren Teil der Wan­gen mit ei­ner Fur­che ab­zeich­ne­ten, die die Di­cke die­ser Krus­te an­zeig­te. Die Unsau­ber­keit ih­rer lan­gen Bär­te mach­te die Sol­da­ten noch ab­scheu­li­cher. Die einen wa­ren in Wei­ber­schals ge­wi­ckelt; die an­de­ren tru­gen Pfer­de­scha­bra­cken, schmut­zi­ge De­cken und Lum­pen, be­deckt mit Reif, der an­fing zu zer­schmel­zen; ei­ni­ge hat­ten einen Fuß in ei­nem Schuh, den an­dern in ei­nem Stie­fel; schließ­lich gab es nie­man­den, des­sen Klei­dung nicht ir­gend­ei­ne lä­cher­li­che Be­son­der­heit auf­wies. In­mit­ten die­ser ko­mi­schen Um­hül­lung ver­harr­ten die Män­ner ernst und düs­ter. Das Schwei­gen wur­de nur von dem Kra­chen des Hol­zes un­ter­bro­chen, von dem Fla­ckern der Flam­me, von dem fer­nen Geräusch des Fel­des und von den Sä­bel­hie­ben, die die Ver­hun­gerts­ten Bi­chet­te ver­setz­ten, um die bes­ten Stücke da­von ab­zu­rei­ßen. Ei­ni­ge Un­glück­li­che, mat­ter als die an­dern, schlie­fen be­reits, und wenn ei­ner von ih­nen ins Feu­er roll­te, zog ihn nie­mand zu­rück. Die­se stren­gen Lo­gi­ker dach­ten, daß, wenn er nicht tot war, das Ver­bren­nen ihn schon ver­an­las­sen wür­de, sich an einen ge­eig­ne­te­ren Ort hin­zu­le­gen. Wenn aber der Un­glück­li­che im Feu­er er­wach­te und um­kam, so be­klag­te ihn nie­mand. Et­li­che Sol­da­ten sa­hen ein­an­der an, wie um ihre ei­ge­ne Un­be­küm­mert­heit durch die Gleich­gül­tig­keit der an­de­ren ge­recht­fer­tigt zu se­hen. Die jun­ge Grä­fin hat­te zwei­mal einen sol­chen An­blick und blieb stumm. Als die ver­schie­de­nen Stücke, die man auf die Koh­len ge­legt hat­te, ge­bra­ten wa­ren, still­te je­der sei­nen Hun­ger mit der Freß­gier, die uns bei den Tie­ren so wi­der­wär­tig er­scheint.

»Das ist das ers­te­mal, daß man drei­ßig In­fan­te­ris­ten auf ei­nem Pfer­de ge­se­hen hat,« rief der Gre­na­dier, der das Tier ab­ge­sto­chen hat­te.

Das war der ein­zi­ge Scherz, der na­tio­na­len Witz be­zeug­te.

Bald roll­te sich die Mehr­zahl der ar­men Sol­da­ten in ihre Klei­der, leg­te sich auf Bret­ter, auf al­les, was sie vor der Berüh­rung mit dem Schnee schüt­zen konn­te, und schlief un­be­küm­mert bis zum nächs­ten Mor­gen. Als der Ma­jor sich er­wärmt und sei­nen Hun­ger ge­füllt hat­te, drück­te ihm ein un­be­zwing­li­ches Schlaf­be­dürf­nis auf die Wim­pern. Wäh­rend sei­nes ziem­lich kur­z­en Kamp­fes mit dem Schla­fe be­trach­te­te er die jun­ge Frau, die, mit dem Ge­sicht zum Feu­er ge­wen­det, um zu schla­fen, ihre ge­schlos­se­nen Au­gen und einen Teil ih­rer Stirn se­hen ließ; sie war in einen dich­ten Pelz und einen di­cken Dra­go­ner­man­tel ge­wi­ckelt; ihr Kopf lag auf ei­nem blut­be­fleck­ten Kopf­kis­sen; ihre, von ei­nem um den Hals ge­schlun­ge­nen Ta­schen­tuch fest­ge­hal­te­ne Astra­chan­müt­ze schütz­te ihr Ge­sicht so viel als mög­lich vor der Käl­te; die Füße hat­te sie in den Man­tel ver­steckt. So in sich selbst zu­sam­men­ge­rollt, glich sie in der Tat nichts Men­sch­li­chem. War sie die letz­te Mar­ke­ten­de­rin? War sie die ent­zücken­de Frau, der Stolz ei­nes Lieb­ha­bers, die Kö­ni­gin der Pa­ri­ser Bäl­le? Ach! Selbst das Auge ih­res hin­ge­bends­ten Freun­des konn­te nichts Weib­li­ches mehr in die­sem Hau­fen von Wä­sche und Lum­pen er­ken­nen. Der Käl­te war die Lie­be im Her­zen ei­ner Frau ge­wi­chen. Durch die dich­ten Schlei­er, die der un­wi­der­steh­lichs­te Schlaf über die Au­gen des Ma­jors brei­te­te, sah er den Mann und die Frau nur noch wie zwei Punk­te. Die Flam­men des Feu­ers, die Ge­sich­ter über­all, die schreck­li­che Käl­te, die, drei Schrit­te von der flüch­ti­gen Wär­me ent­fernt, sich durch­boh­rend gel­tend mach­te, al­les floß in einen Traum zu­sam­men. Ein pein­li­cher Ge­dan­ke er­schreck­te Phil­ipp. »Wir wer­den alle ster­ben, wenn ich ein­schla­fe; ich will nicht schla­fen,« sag­te er sich. Aber er schlief. Ein schreck­li­cher Lärm und eine Ex­plo­si­on er­weck­ten Herrn de Sucy nach ei­ner Stun­de Schlaf. Das Ge­fühl, sei­ne Pf­licht tun zu müs­sen, die Ge­fahr sei­ner Freun­de fie­len ihm plötz­lich schwer aufs Herz. Er stieß einen Schrei ähn­lich ei­nem Ge­heul aus. Er und sein Sol­dat stan­den al­lein auf­recht. Sie er­blick­ten ein Feu­er­meer vor sich, das im Schat­ten der Nacht vor ih­nen eine Mas­se Men­schen ab­schnitt, in­dem es die Hüt­ten und Zel­te ver­zehr­te; sie hör­ten Verzweif­lungs­schreie und Ge­heul; sie sa­hen Tau­sen­de von ent­setz­ten Ge­sich­tern und wü­ten­den Köp­fen. In­mit­ten die­ser Höl­le bahn­te sich eine Ko­lon­ne von Sol­da­ten einen Weg nach der Brücke zu zwi­schen zwei Rei­hen von Ka­da­vern hin­durch.

»Das ist der Rück­zug uns­res Nachtrabs!« rief der Ma­jor. »Kei­ne Hoff­nung mehr!«

»Ich habe Ihren Wa­gen ge­schont, Phil­ipp,« sag­te eine Freun­des­s­tim­me.

Als er sich um­wand­te, er­kann­te Sucy beim Licht der Flam­men den jun­gen Ad­ju­tan­ten.

»Ach, es ist al­les ver­lo­ren!« er­wi­der­te der Ma­jor. »Sie ha­ben mein Pferd ver­zehrt. Und wie soll ich auch den stumpf­sin­ni­gen Ge­ne­ral und sei­ne Frau auf den Weg brin­gen?«

»Neh­men Sie einen Feu­er­brand und dro­hen Sie ih­nen.«

»Soll ich die Grä­fin be­dro­hen?«

»Adieu!« rief der Ad­ju­tant. »Ich habe ge­ra­de nur noch Zeit, die­sen fa­ta­len Fluß zu über­schrei­ten, und das muß ge­sche­hen. Ich habe eine Mut­ter in Frank­reich. Was für eine Nacht! Die­se Mas­se hier will lie­ber auf dem Schnee blei­ben, und die Mehr­zahl die­ser Un­glück­li­chen will sich lie­ber ver­bren­nen las­sen als sich er­he­ben. Es ist vier Uhr, Phil­ipp! In zwei Stun­den wer­den die Rus­sen an­fan­gen sich zu rüh­ren. Ich ver­si­che­re Ih­nen, daß Sie die Be­re­si­na bald vol­ler Leich­na­me se­hen wer­den. Den­ken Sie an sich, Phil­ipp! Sie ha­ben kei­ne Pfer­de, Sie kön­nen die Grä­fin nicht tra­gen; also vor­wärts, kom­men Sie mit mir,« sag­te er und faß­te ihn am Arme.

»Aber, lie­ber Freund, wie soll ich Ste­pha­nie ver­las­sen!«

Der Ma­jor er­griff die Grä­fin, stell­te sie auf die Bei­ne, schüt­tel­te sie mit der Rau­heit ei­nes Verzwei­fel­ten und zwang sie, auf­zu­wa­chen; sie sah ihn mit to­tem, star­rem Bli­cke an.

›Wir müs­sen vor­wärts, Ste­pha­nie, oder wir ster­ben hier.‹

Als alle Ant­wort ver­such­te die Grä­fin, sich zur Erde glei­ten zu las­sen, um zu schla­fen. Der Ad­ju­tant er­griff einen Feu­er­brand und be­weg­te ihn vor dem Ge­sicht Ste­pha­nies hin und her.

›Ret­ten wir sie ge­gen ih­ren Wil­len!‹ rief Phil­ipp, hob die Grä­fin auf und trug sie in den Wa­gen.

Er kehr­te zu­rück und bat den Ad­ju­tan­ten um Hil­fe. Bei­de nah­men den al­ten Ge­ne­ral, ohne zu wis­sen, ob er tot oder le­ben­dig war, und leg­ten ihn ne­ben sei­ne Frau. Der Ma­jor stieß mit dem Fuße je­den ein­zel­nen der auf der Erde lie­gen­den Leu­te weg, nahm ih­nen ab, was sie ge­raubt hat­ten, häuf­te alle Klei­der auf die bei­den Gat­ten und warf in eine Ecke des Wa­gens et­li­che ge­bra­te­ne Stücke ih­res Pfer­des. ›Was wol­len Sie denn ma­chen?‹ frag­te ihn der Ad­ju­tant.

›Sie schlep­pen‹, sag­te der Ma­jor.

›Sie sind wohl toll!‹

›Das ist wahr!‹ rief Phil­ipp und kreuz­te die Arme über der Brust.

Plötz­lich schi­en er von ei­nem ver­zwei­fel­ten Ge­dan­ken ge­packt zu sein.

›Du!‹, sag­te er und er­griff den ge­sun­den Arm sei­nes Sol­da­ten, ›ich ver­traue sie dir für eine Stun­de an! Den­ke dar­an, daß du eher ster­ben mußt, als, wer es auch sei, an den Wa­gen her­an­kom­men las­sen darfst.‹ Der Ma­jor be­mäch­tig­te sich der Dia­man­ten der Grä­fin, nahm sie in die eine Hand, zog mit der an­dern den Sä­bel und be­gann wü­tend auf die Schlä­fer los­zu­schla­gen, die er für die un­er­schro­ckens­ten hielt, und es ge­lang ihm auch, den ko­los­sa­len Gre­na­dier und noch zwei an­de­re Män­ner, de­ren mi­li­tä­ri­scher Rang un­mög­lich zu er­ken­nen war, auf­zu­we­cken.

»Wir sind ver­lo­ren«, sag­te er zu ih­nen.

»Das weiß ich wohl,« ant­wor­te­te der Gre­na­dier, »aber das ist mir egal.«

»Nun also, so oder so tot, ist es nicht bes­ser, sein Le­ben für eine hüb­sche Frau zu ver­kau­fen, auf die Ge­fahr hin, Frank­reich noch ein­mal wie­der­zu­se­hen?«

»Ich will lie­ber schla­fen,« sag­te ei­ner von den Leu­ten und roll­te auf den Schnee, »und wenn du mich wei­ter be­läs­tigst, Ma­jor, wer­de ich dir mein Ba­jo­nett in die Wam­pe pflan­zen.«

»Worum han­delt es sich, Herr Ma­jor?«, frag­te der Gre­na­dier. »Der Kerl ist be­trun­ken! Das ist ein Pa­ri­ser; die wol­len es be­quem ha­ben.«

»Das hier ist für dich, mein bra­ver Kerl,« rief der Ma­jor und bot ihm einen Dia­man­ten­schmuck an, »wenn du mir fol­gen und wie ein Wil­der kämp­fen willst. Die Rus­sen wer­den in zehn Mi­nu­ten auf dem Mar­sche sein, sie sind be­rit­ten; wir wer­den auf ihre ers­te Bat­te­rie los­mar­schie­ren und zwei Pfer­de mit uns neh­men.«

»Aber die Schild­wa­chen, Herr Ma­jor?«

»Ei­ner von uns drei­en« , sag­te er zu dem Sol­da­ten. Er un­ter­brach sich und sah den Ad­ju­tan­ten an; »Sie kom­men mit uns, Hip­po­lyt, nicht wahr?«

Hip­po­lyt stimm­te mit ei­nem Kopf­ni­cken zu.

»Ei­ner von uns«, fuhr der Ma­jor fort, »wird die Schild­wa­che auf sich neh­men. Üb­ri­gens wer­den sie auch viel­leicht schla­fen, die­se ver­damm­ten Rus­sen.«

»Bist du wirk­lich so tap­fer, mein Ma­jor? Aber du wirst mich auch in dei­nem Wa­gen mit­neh­men?» sag­te der Gre­na­dier.

»Ja­wohl, wenn du dort oben nicht dein Fell op­fern mußt. Wenn ich fal­le, ver­sprecht mir, Hip­po­lyt und du, Gre­na­dier,» sag­te der Ma­jor und wand­te sich an sei­ne bei­den Ge­fähr­ten, ,»daß ihr euch für die Ret­tung der Grä­fin auf­op­fern wollt.»

»Ab­ge­macht«, rief der Gre­na­dier.

Sie wand­ten sich der Li­nie der Rus­sen zu, nach den Bat­te­ri­en hin, die so furcht­bar die Mas­se der Un­glück­li­chen zer­schmet­tert hat­ten, die am Ufer des Flus­ses la­gen. Ei­ni­ge Au­gen­bli­cke nach ih­rem Ver­schwin­den er­tön­te der Ga­lopp zwei­er Pfer­de auf dem Schnee, und die wach­ge­wor­de­ne Bat­te­rie sand­te ei­ni­ge Sal­ven hin­ter­her, die über die Häup­ter der Schlä­fer hin­weg­gin­gen; der Ga­lopp der Pfer­de war so über­stürzt, daß man von Schmied­häm­mern hät­te re­den mö­gen. Der edel­mü­ti­ge Ad­ju­tant war ge­fal­len. Der ath­le­ti­sche Gre­na­dier war heil und ge­sund ge­blie­ben. Phil­ipp hat­te bei der Ver­tei­di­gung sei­nes Freun­des einen Ba­jo­nett­stich in die Schul­ter er­hal­ten; trotz­dem klam­mer­te er sich an die Na­cken­haa­re des Pfer­des und preß­te es so fest mit sei­nen Bei­nen, daß das Tier sich wie in ei­nem Schraub­stock be­fand.

»Gott sei ge­lobt!« rief der Ma­jor, als er sei­nen Sol­da­ten un­be­weg­lich im Wa­gen an sei­nem Plat­ze vor­fand.

»Wenn Sie ge­recht sein wol­len, Herr Ma­jor, wer­den Sie mir das Kreuz ver­schaf­fen. Wir ha­ben hübsch mit dem Schieß­prü­gel und dem Stich­ge­wehr ge­spielt, was?«

»Wir ha­ben noch nichts ge­leis­tet. Jetzt müs­sen wir die Pfer­de an­span­nen. Neh­men Sie die Sei­le.«

»Es sind nicht ge­nug da­von vor­han­den.«

»Dann, Gre­na­dier, müs­sen Sie Hand an die Schlä­fer le­gen und ihre Um­hän­ge und ihre Wä­sche dazu neh­men …«

»Sieh mal an, er ist tot, die­ser Hans­wurst!« rief der Gre­na­dier, als er den ers­ten, an den er sich wand­te, um­dreh­te. »Ach, wie ko­misch, sie sind ja tot!«

»Alle?«

»Ja­wohl, alle! Es scheint, das Pferd ist ein un­ver­dau­li­ches Es­sen, wenn man es mit Schnee ge­nießt.« die­se Wor­te lie­ßen Phil­ipp er­zit­tern. Der Frost war noch stär­ker ge­wor­den.

»Mein Gott! Eine Frau ver­lie­ren, die ich schon zwan­zig­mal ge­ret­tet habe.«

Der Ma­jor schüt­tel­te die Grä­fin und rief: »Ste­pha­nie! Ste­pha­nie!«

Die jun­ge Frau öff­ne­te ihre Au­gen.

»Wir sind ge­ret­tet, Ma­da­me.«

»Ge­ret­tet!« wie­der­hol­te sie und fiel zu­rück.

Die Pfer­de wur­den, so gut es ging, an­ge­spannt. Mit sei­nem Sä­bel in der ge­sun­den Hand, die Zü­gel in der an­dern, be­stieg er, mit sei­nen Pis­to­len be­waff­net, das eine Pferd, wäh­rend der Gre­na­dier sich auf das an­de­re setz­te. Der alte Sol­dat, des­sen Füße er­fro­ren wa­ren, wur­de quer in den Wa­gen über den Ge­ne­ral und die Grä­fin ge­wor­fen. Durch Sä­bel­hie­be an­ge­sta­chelt, tru­gen die Pfer­de die Equi­pa­ge mit wü­ten­der Eile in die Ebe­ne hin­aus, wo un­zäh­li­ge Schwie­rig­kei­ten den Ma­jor er­war­te­ten. Bald war es un­mög­lich, vor­wärts zu kom­men, ohne zu ris­kie­ren, Män­ner, Frau­en und ein­ge­schla­fe­ne Kin­der tot­zu­fah­ren, die alle sich zu rüh­ren ver­wei­ger­ten, als der Gre­na­dier sie auf­weck­te. Ver­geb­lich such­te Herr de Sucy den Weg, den der Nachtrab in­zwi­schen sich mit­ten in die­ser Men­schen­mas­se ge­bahnt hat­te; er war ver­schwun­den wie das Kiel­was­ser des Schif­fes auf dem Mee­re; es ging nur im Schritt wei­ter, meist von den Sol­da­ten an­ge­hal­ten, die da­mit droh­ten, die Pfer­de zu tö­ten.

›Wol­len Sie wei­ter kom­men?‹ frag­te der Gre­na­dier.

›Um den Preis mei­nes Blu­tes, um den Preis der gan­zen Wel­t‹, er­wi­der­te der Ma­jor.

›Vor­wärts! Man macht kei­ne Ome­let­ten, ohne Eier zu zer­schla­gen.‹

Und der Gre­na­dier jag­te die Pfer­de auf die Men­schen los, ließ blu­ti­ge Ge­lei­se hin­ter sich, stürz­te die Zel­te um und bahn­te sich eine dop­pel­te Fur­che quer durch die­ses Feld von Köp­fen. Aber wir müs­sen ihm die Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­ren las­sen, daß er nie­mals un­ter­ließ, mit don­nern­der Stim­me zu ru­fen: ›Ach­tung, ihr Bies­ter!‹

›Die Un­glück­li­chen!‹ rief der Ma­jor.

›Bah! Ent­we­der der Frost oder die Ka­no­nen!‹ sag­te der Gre­na­dier, trieb die Pfer­de an und stach mit der Spit­ze sei­nes Sä­bels auf sie los.

Eine Ka­ta­stro­phe, die ih­nen sehr viel frü­her hät­te be­geg­nen und vor der bis da­hin ein fa­bel­haf­ter Zu­fall sie be­wahrt hat­te, hielt plötz­lich ih­ren Weg an. Der Wa­gen stürz­te um.

›Das dach­te ich mir!‹ rief der un­er­schüt­ter­li­che Gre­na­dier aus. ›Oh, oh! Der Ka­me­rad ist tot!‹

›Ar­mer Lau­rent!‹ sag­te der Ma­jor.

›Lau­rent? Ist er nicht von den fünf­ten Jä­gern?‹

›Ja­wohl.‹

›Das ist mein Vet­ter. Bah! Das Hun­de­le­ben ist nicht schön ge­nug, daß man es in der jet­zi­gen Zeit zu be­dau­ern hät­te.‹

Der Wa­gen wur­de nicht wie­der auf­ge­rich­tet, die Pfer­de nicht wie­der frei­ge­macht ohne einen un­end­li­chen, nicht wie­der gut zu ma­chen­den Zeit­ver­lust. Der Stoß war so hef­tig ge­we­sen, daß die jun­ge Grä­fin, die er­wacht und durch die Be­we­gung aus ih­rer Be­täu­bung auf­ge­rüt­telt wor­den war, die Klei­dungs­stücke ab­warf und sich er­hob.

»Wo sind wir denn, Phil­ipp?« rief sie mit sanf­ter Stim­me und sah um sich.

»Fünf­hun­dert Schritt von der Brücke ent­fernt. Wir wol­len über die Be­re­si­na. Jen­seits des Flus­ses, Ste­pha­nie, wer­de ich Sie nicht mehr quä­len, wer­de Sie schla­fen las­sen, wir wer­den in Si­cher­heit sein und in Ruhe Wil­na er­rei­chen. Gebe Gott, daß Sie nie­mals er­fah­ren, was Ihr Le­ben ge­kos­tet hat!«

»Du bist ver­wun­det?«

»Es be­deu­tet nichts.«

Die Stun­de der Ka­ta­stro­phe war her­an­ge­kom­men. Die Ka­no­nen der Rus­sen kün­dig­ten den Tag an. Her­ren von Stud­zi­an­ka, feu­er­ten sie über die Ebe­ne; und bei dem ers­ten Mor­gen­licht be­merk­te der Ma­jor ihre Ko­lon­nen sich auf den Hö­hen for­mie­ren. Ein Alarm­ge­schrei er­hob sich mit­ten aus der Men­ge, die in ei­nem Mo­ment auf den Bei­nen war. In­stinkt­mä­ßig be­griff je­der die ihm dro­hen­de Ge­fahr, und alle dräng­ten sich in Wel­len­be­we­gun­gen der Brücke zu. Die Rus­sen eil­ten mit der Schnel­lig­keit ei­nes Feu­er­bran­des hin­ab. Män­ner, Wei­ber, Kin­der, Pfer­de, al­les mar­schier­te auf die Brücke los. Glück­li­cher­wei­se be­fan­den sich der Ma­jor und die Grä­fin noch ziem­lich ent­fernt vom Ufer. Der Ge­ne­ral Eblé hat­te Feu­er an die Zel­te am an­dern Ufer ge­legt. Trotz der War­nun­gen, die vor dem Be­tre­ten der Ret­tungs­plan­ke ge­ge­ben wur­den, woll­te nie­mand zu­rück­wei­chen. Nicht nur senk­te sich die mit Men­schen über­la­de­ne Brücke, son­dern der hef­ti­ge Strom von Men­schen­zu­fluß stürz­te wie eine ver­häng­nis­vol­le La­wi­ne so hin­ab, daß eine Men­schen­men­ge wie ein Schnee­sturz ins Was­ser mit­ge­ris­sen wur­de. Man hör­te kei­nen Schrei, son­dern nur das dump­fe Geräusch ei­nes ins Was­ser ge­fal­le­nen Steins; dann war die Be­re­si­na mit Leich­na­men be­deckt. Der Rück­stoß der­je­ni­gen, die in die Ebe­ne zu­rück­wi­chen, um die­sem Tode zu ent­ge­hen, war so furcht­bar, daß eine große Men­ge von Leu­ten durch Er­sti­ckung star­ben. Der Graf und die Grä­fin ver­dank­ten ihr Le­ben nur ih­rem Wa­gen. Nach­dem die Pfer­de eine Mas­se Ster­ben­der zer­schmet­tert und ver­nich­tet hat­ten, gin­gen sie selbst zu­grun­de un­ter den Fü­ßen ei­ner Art mensch­li­cher Was­ser­ho­se, die auf das Ufer stürz­te. Der Ma­jor und der Gre­na­dier ret­te­ten sich durch ihre Kraft. Sie tö­te­ten, um nicht selbst ge­tö­tet zu wer­den. Die­ser Or­kan von mensch­li­chen Ge­sich­tern, die­ses Hin- und Her­flie­ßen von durch die glei­che Be­we­gung ge­tra­ge­nen mensch­li­chen Kör­pern, ließ wäh­rend ei­ni­ger Au­gen­bli­cke das Ufer der Be­re­si­na ver­las­sen er­schei­nen. Die Mas­se hat­te sich zu­rück in die Ebe­ne ge­wor­fen. Wenn et­li­che Men­schen sich von oben den stei­len Ab­hang hin­a­blie­ßen, so ge­sch­ah das we­ni­ger in der Hoff­nung, das an­de­re Ufer zu er­rei­chen, was für sie Frank­reich be­deu­te­te, als um den Wüs­ten Si­bi­ri­ens zu ent­rin­nen. Die Verzweif­lung wur­de eine Ret­tung für et­li­che mu­ti­ge Leu­te. Ein Of­fi­zier sprang von Schol­le zu Schol­le bis an das an­de­re Ufer; ein Sol­dat klet­ter­te mit wun­der­ba­rer Ge­schick­lich­keit über einen Hau­fen von Leich­na­men und Eis­schol­len. Die­se rie­sen­haf­te Volks­mas­se be­griff schließ­lich, daß die Rus­sen nicht zwan­zig­tau­send waf­fen­lo­se, er­fro­re­ne, stumpf­ge­wor­de­ne Men­schen, die sich nicht ver­tei­di­gen wür­den, tö­ten woll­ten, und je­der er­war­te­te sein Los mit furcht­ba­rer Re­si­gna­ti­on. So blie­ben also der Ma­jor, sein Gre­na­dier, der alte Sol­dat und sei­ne Frau al­lein ei­ni­ge Schrit­te von dem Orte, wo sich die Brücke be­fand. Alle vier stan­den hier auf­recht, mit tro­ckenen Au­gen, still­schwei­gend und von ei­ner Men­ge To­ter um­ge­ben. Et­li­che kräf­ti­ge Sol­da­ten, et­li­che Of­fi­zie­re, de­nen die Ver­hält­nis­se alle ihre Ener­gie wie­der­ga­ben, fan­den sich ne­ben ih­nen ein. Die­se ziem­lich zahl­rei­che Grup­pe um­faß­te un­ge­fähr fünf­zig Men­schen. Der Ma­jor be­merk­te in ei­ner Ent­fer­nung von zwei­hun­dert Schritt die Rui­nen der Brücke, die für die Wa­gen her­ge­stellt, aber vor­her zu­sam­men­ge­bro­chen war.

»Zim­mern wir uns ein Floß zu­sam­men!« rief er.

Kaum hat­te er die­ses Wort fal­len las­sen, als die gan­ze Grup­pe auf die Trüm­mer zu­lief. Eine Men­ge Men­schen schick­te sich an, Ei­sen­stä­be auf­zu­sam­meln, Holz­stücke, Sei­le auf­zu­su­chen, kurz al­les für den Bau ei­nes Flos­ses not­wen­di­ge Ma­te­ri­al. Eine Trup­pe von zwan­zig Sol­da­ten und Of­fi­zie­ren bil­de­ten eine von dem Ma­jor be­feh­lig­te Gar­de, um die Ar­bei­ter ge­gen die ver­zwei­fel­ten An­grif­fe zu schüt­zen, die die Mas­se voll­füh­ren könn­te, wenn sie ih­ren Plan er­riet. Das Ge­fühl der Frei­heit, das die Ge­fan­ge­nen be­seelt und ih­nen Wun­der ein­flö­ßt, kann mit dem nicht ver­gli­chen wer­den, das in die­sem Au­gen­blick die un­glück­li­chen Fran­zo­sen han­deln ließ.

»Da sind die Rus­sen! Da sind die Rus­sen!« schrie­en den Ar­bei­tern ihre Ver­tei­di­ger zu.

Das Holz kreisch­te, die Boh­len wuch­sen in die Brei­te, Höhe und Tie­fe. Ge­ne­ra­le, Sol­da­ten, Obers­ten, al­les bog sich un­ter dem Ge­wicht der Rä­der, der Ei­sen, der Bret­ter: es war ein wahr­haf­tes Bild des Bau­es der Ar­che Noah. Die jun­ge Grä­fin saß ne­ben ih­rem Man­ne und sah mit Be­dau­ern zu, weil sie an der Ar­beit nichts mit­tun konn­te; trotz­dem half sie, Kno­ten zu knüp­fen, um die Sei­le fes­ter zu ma­chen. End­lich war das Floß fer­tig. Vier­zig Men­schen stürz­ten sich ins Was­ser des Flus­ses, wäh­rend ein Dut­zend Sol­da­ten die Sei­le hiel­ten, die dazu die­nen soll­ten, an dem Ab­hang fest­zu­hal­ten. Kaum aber sa­hen die Er­bau­er ihre Ein­schif­fung auf der Be­re­si­na sich voll­zie­hen, so stürz­ten sie sich von dem Ufer oben hin­ab mit äu­ßers­ter Selbst­sucht. Der Ma­jor, der die Wut des ers­ten An­sturms be­fürch­te­te, hielt Ste­pha­nie und den Ge­ne­ral an der Hand fest; aber er er­beb­te, als er die dunkle Mas­se sich ein­schif­fen sah und die dar­auf zu­sam­men­ge­preß­ten Men­schen er­blick­te, wie Zuschau­er im Par­terre ei­nes Thea­ters.

›Ihr Wil­den!‹ rief er, ›ich habe euch doch den Ge­dan­ken ein­ge­ge­ben, ein Floß zu er­bau­en; ich bin euer Ret­ter, und ihr ver­wei­gert mir mei­nen Platz!‹

Ein ver­wor­re­ner Lärm war die Ant­wort. Die am Ran­de des Flos­ses un­ter­ge­brach­ten und mit Stä­ben zum Ab­sto­ßen vom Ab­hang ver­se­he­nen Män­ner stie­ßen mit Ge­walt den Holz­zug vor­wärts, um ihn an das an­de­re Ufer zu drän­gen und ihn die Eis­schol­len und Leich­na­me durch­schnei­den zu las­sen.

›Zum Don­ner­wet­ter noch­mal! Ich ren­ne euch ins Was­ser, wenn ihr den Ma­jor und sei­ne bei­den Ge­fähr­ten nicht rich­tig auf­nehmt!‹ schrie der Gre­na­dier, er­hob sei­nen Sä­bel, ver­hin­der­te ih­ren Auf­bruch und ließ sie zu­sam­men­rücken trotz der schreck­li­chen Schreie.

›Ich wer­de fal­len! Ich fal­le!‹ schrie­en sei­ne Ge­fähr­ten. ›Im­mer wei­ter vor­wärts.‹

Der Ma­jor be­trach­te­te tro­ckenen Au­ges sei­ne Ge­lieb­te, die ihre Au­gen zum Him­mel mit er­ha­be­ner Er­ge­bung auf­hob.

»Mit dir zu­sam­men ster­ben!« sag­te sie.

Es lag et­was Ko­mi­sches in der Hal­tung der Leu­te auf dem Floß. Ob­gleich sie ein schau­der­haf­tes Ge­brüll aus­stie­ßen, wag­te doch kei­ner dem Gre­na­dier Wi­der­stand zu leis­ten; denn sie wa­ren so zu­sam­men­ge­drängt, daß eine ein­zi­ge Per­son nur zu sto­ßen brauch­te, um al­les um­zu­stür­zen. In die­ser Ge­fahr ver­such­te ein Haupt­mann sich von ei­nem Sol­da­ten zu be­frei­en, der die feind­li­che Be­we­gung des Of­fi­ziers wahr­nahm, ihn an­pack­te und ihn ins Was­ser stürz­te mit den Wor­ten: »Ach, du Ente, du willst trin­ken! Na dann los!«

»Hier sind zwei Plät­ze frei!« rief er dann. »Vor­wärts, Ma­jor, wer­fen Sie uns Ihre klei­ne Frau her­über und kom­men Sie selbst mit! Las­sen Sie doch den al­ten Mops zu­rück, der wird ja mor­gen doch ster­ben!«

»Be­eilt euch!« schrie eine Stim­me, die sich aus hun­dert zu­sam­men­setz­te.

»Vor­wärts, Ma­jor … Die an­dern schimp­fen, und sie ha­ben recht.«

Der Graf von Van­dières ent­le­dig­te sich sei­ner Um­klei­dung und stand auf­recht in sei­ner Ge­ne­rals­uni­form.

»Ret­ten wir den Gra­fen«, sag­te Phil­ipp.

Ste­pha­nie drück­te ih­rem Freun­de die Hand, warf sich über ihn und um­arm­te ihn mit wil­dem Druck.

»Adieu!« sag­te sie.

Sie hat­ten sich ver­stan­den. Der Graf von Van­dières fand sei­ne Kräf­te und sei­ne Geis­tes­ge­gen­wart wie­der, um zur Ein­schif­fung hin­un­ter­zu­sprin­gen, wo­hin Ste­pha­nie ihm folg­te, nach­dem sie einen letz­ten Blick auf Phil­ipp ge­wor­fen hat­te.

»Ma­jor, wol­len Sie mei­nen Platz ha­ben? Ich pfei­fe aufs Le­ben« , rief der Gre­na­dier. »Ich habe we­der Frau, noch Kind, noch Mut­ter.«

»Ich ver­traue sie dir an« , rief der Ma­jor und zeig­te auf den Gra­fen und sei­ne Frau.

»Sei­en Sie be­ru­higt, ich wer­de sie wie mei­nen Aug­ap­fel hü­ten.«

Das Floß wur­de mit sol­cher Ge­walt an das Ufer ge­sto­ßen, das der Stel­le, wo Phil­ipp un­be­weg­lich stand, ge­gen­über war, daß sein Stoß an die Erde al­les er­schüt­ter­te. Der an Bord be­find­li­che Graf roll­te in den Fluß. Als er hin­ein­fiel, schlug ihm eine Eis­schol­le auf den Kopf und trieb ihn wie eine Ku­gel weit weg.

»He! Ma­jor!« schrie der Gre­na­dier.

»Adieu!« rief eine Frau­en­stim­me.

Und Phil­ipp de Sucy fiel vor Schreck er­starrt nie­der, über­wäl­tigt von der Käl­te, dem Schmerz und der Mü­dig­keit.

»Mei­ne arme Nich­te war irr­sin­nig ge­wor­den«, füg­te der Arzt nach ei­ner kur­z­en Pau­se hin­zu. »Ach, mein Herr«, fuhr er fort und er­griff Herrn d’Al­b­ons Hand, »wie ent­setz­lich wur­de das Le­ben für die­se klei­ne, so jun­ge, so zar­te Frau! Nach­dem sie in­fol­ge ei­nes un­glaub­li­chen Miß­ge­schicks von dem Gar­de­gre­na­dier, ei­nem ge­wis­sen Fleu­ri­ot, ge­trennt wor­den war, wur­de sie zwei Jah­re hin­durch hin­ter der Ar­mee her­ge­schleppt, als Spiel­zeug ei­nes Hau­fens von Elen­den. Man hat mir er­zählt, daß sie mit blo­ßen Fü­ßen, schlecht be­klei­det, gan­ze Mo­na­te hin­durch ohne Pfle­ge, ohne Nah­rung blieb; bald in Kran­ken­häu­sern ge­hal­ten, bald wie ein Tier weg­ge­jagt; Gott al­lein weiss, wie­viel Un­glück die­se Un­se­li­ge den­noch über­lebt hat! Sie be­fand sich in ei­ner klei­nen deut­schen Stadt, mit Irr­sin­ni­gen zu­sam­men­ge­sperrt, wäh­rend ihre Ver­wand­ten, die sie für tot hiel­ten, ihre Erb­schaft teil­ten. Im Jah­re 1816 er­kann­te sie der Gre­na­dier Fleu­ri­ot in ei­ner Straß­bur­ger Her­ber­ge, wo sie an­ge­langt war, nach­dem sie eben aus ih­rem Ge­fäng­nis ent­wi­chen war. Ei­ni­ge Bau­ern er­zähl­ten dem Gre­na­dier, daß die Grä­fin einen gan­zen Mo­nat in ei­nem Wal­de ge­lebt hät­te und daß sie nach ihr ge­jagt hät­ten, um sich ih­rer hab­haft zu ma­chen und zu ihr ge­lan­gen zu kön­nen. Ich be­fand mich da­mals we­ni­ge Mei­len von Straß­burg ent­fernt. Als ich von ei­nem wil­den Mäd­chen re­den hör­te, hat­te ich den Wunsch, die un­ge­wöhn­li­chen Tat­sa­chen fest­zu­stel­len, die Grund zu so lä­cher­li­chen Er­zäh­lun­gen ga­ben. Wie wur­de mir, als ich die Grä­fin wie­der­er­kann­te! Fleu­ri­ot be­rich­te­te mir al­les, was er von die­ser trau­ri­gen Ge­schich­te wuß­te. Ich nahm die­sen ar­men Men­schen mit mei­ner Nich­te nach der Au­ver­gne mit, wo ich das Un­glück hat­te, ihn zu ver­lie­ren. Er hat­te ein we­nig Herr­schaft über Frau von Van­dières. Er al­lein konn­te bei ihr er­rei­chen, daß sie sich an­klei­de­te. ›A­dieu!‹, die­ses Wort, worin ihr gan­zes Spre­chen be­stand, sag­te sie frü­her nur sel­ten. Fleu­ri­ot hat­te es un­ter­nom­men, ei­ni­ge Ge­dan­ken in ihr wie­der zu er­we­cken; aber er war nicht wei­ter­ge­kom­men, er hat­te sie nur dazu ge­bracht, die­ses trau­ri­ge Wort et­was häu­fi­ger aus­zu­spre­chen. Der Gre­na­dier ver­stand sie zu zer­streu­en und zu be­schäf­ti­gen, in­dem er mit ihr spiel­te, und auf sei­ne Kunst hoff­te ich, aber …«

Der On­kel Ste­pha­nies schwieg einen Au­gen­blick. »Hier«, fuhr er fort, »hat sie ein an­de­res We­sen ge­fun­den, mit dem sie sich zu ver­ste­hen scheint. Das ist eine idio­ti­sche Bäue­rin, die trotz ih­rer Häß­lich­keit und Stumpf­sin­nig­keit einen Mau­rer ge­liebt hat. Die­ser Mau­rer woll­te sie hei­ra­ten, weil sie ei­ni­ge Mor­gen Land be­sitzt. Die arme Ge­no­ve­fa war wäh­rend ei­nes Jah­res das glück­lichs­te Ge­schöpf der Welt. Sie putz­te sich und ging Sonn­tags mit Dal­lot tan­zen; sie ver­stand sich auf die Lie­be; es fand sich in ih­rem Her­zen und in ih­rem Geis­te Platz für ein sol­ches Ge­fühl. Aber Dal­lot stell­te sei­ne Über­le­gun­gen an. Er fand ein jun­ges Mäd­chen, das sei­nen ge­sun­den Ver­stand und zwei Mor­gen Land mehr be­saß als Ge­no­ve­fa. Da hat Dal­lot Ge­no­ve­fa ste­hen ge­las­sen. Das arme Ge­schöpf ver­lor das biß­chen In­tel­li­genz, das die Lie­be bei ihr ent­wi­ckelt hat­te, und ver­steht sich nun nur noch auf Kühe hü­ten und Gras schnei­den. Mei­ne Nich­te und die­ses arme Mäd­chen sind ge­wis­ser­ma­ßen durch die un­sicht­ba­re Ket­te ei­nes ge­mein­sa­men Ge­schicks an­ein­an­der ge­bun­den und durch das Ge­fühl, das ih­ren Irr­sinn ver­an­laßt hat. Hier, se­hen Sie«, sag­te Ste­pha­nies On­kel und führ­te den Mar­quis d’Al­bon ans Fens­ter.

Der Rich­ter be­merk­te jetzt in der Tat die hüb­sche Grä­fin auf der Erde zwi­schen den Bei­nen Ge­no­ve­fas sit­zend; die mit ei­nem rie­si­gen knö­cher­nen Kamm be­waff­ne­te Bäue­rin wen­de­te viel Sorg­sam­keit dar­auf, das lan­ge schwar­ze Haar Ste­pha­nies durch­zu­käm­men, die sich das ge­fal­len ließ, in­dem sie er­stick­te Schreie von sich gab, de­ren Ak­zent ein in­stink­tiv emp­fun­de­nes Be­ha­gen ver­riet. Herr d’Al­bon er­schau­er­te, als er die Hin­ge­bung des Kör­pers und die tie­ri­sche Halt­lo­sig­keit be­merk­te, die bei der Grä­fin die voll­kom­me­ne Ab­we­sen­heit des Geis­tes ver­riet.

»Phil­ipp, Phil­ipp!« rief er aus, »das ver­gan­ge­ne Un­glück be­deu­tet ja noch nichts. Gibt es denn kei­ne Hoff­nung mehr?«, frag­te er.

Der alte Arzt hob die Au­gen zum Him­mel em­por.

»Adieu, mein Herr«, sag­te Herr d’Al­bon und drück­te dem Al­ten die Hand. »Mein Freund er­war­tet mich, Sie wer­den ihn bald se­hen.«

»Also sie ist es doch!« rief Sucy aus, nach­dem er die ers­ten Wor­te des Mar­quis d’Al­bon ge­hört hat­te.

»Ach, ich zwei­fel­te noch dar­an«, füg­te er hin­zu und ließ ei­ni­ge Trä­nen aus sei­nen dunklen Au­gen her­ab­fal­len, de­ren Aus­druck un­ge­wöhn­lich ernst war.

»Ja, es ist die Grä­fin von Van­dières«, ant­wor­te­te der Rich­ter.

Der Oberst er­hob sich jäh und klei­de­te sich ei­lig an.

»Aber Phil­ipp!« sag­te der Rich­ter ver­blüfft, »wirst du ver­rückt?«

»Aber ich bin ja nicht mehr krank«, ant­wor­te­te der Oberst ein­fach. »Die­se Nach­richt hat alle mei­ne Schmer­zen be­ru­higt. Und was für ein Un­glück könn­te ich emp­fin­den, wenn ich an Ste­pha­nie den­ke. Ich gehe nach Bons-Hom­mes, sie se­hen, mit ihr spre­chen, sie hei­len. Sie ist frei. Schön! Das Glück wird uns lä­cheln, oder es gäbe kei­ne Vor­se­hung mehr. Glaubst du denn, daß die­se arme Frau mich an­hö­ren könn­te, ohne ih­ren Ver­stand wie­der zu ge­win­nen?«

»Sie hat dich schon ge­se­hen, ohne dich wie­der­zu­er­ken­nen«, ent­geg­ne­te sanft der Rich­ter, der, als er die über­trie­be­ne Hoff­nung sei­nes Freun­des wahr­nahm, ver­such­te, ihm heil­sa­men Zwei­fel ein­zu­flö­ßen. Der Oberst er­zit­ter­te. Aber er be­gann zu lä­cheln und ließ sich eine leich­te Be­we­gung der Ungläu­big­keit ent­schlüp­fen. Nie­mand wag­te es, dem Plan des Obers­ten sich zu wi­der­set­zen. Nach we­ni­gen Stun­den be­fand er sich in der al­ten Prio­rei bei dem Arz­te und der Grä­fin von Van­dières.

»Wo ist sie?« rief er aus, als er an­kam.

»Still!« ant­wor­te­te ihm Ste­pha­nies On­kel. »Sie schläft. Dort ist sie.«

Phil­ipp sah die arme Irre in der Son­ne auf ei­ner Bank nie­der­ge­hockt. Ihr Kopf war ge­gen die Hit­ze der Luft durch einen Wald ver­wirr­ter Haa­re auf ih­rem Ge­sicht ge­schützt; ihre Arme hin­gen gra­zi­ös bis auf die Erde hin­ab; ihr Kör­per lag in reiz­vol­ler Stel­lung wie der ei­ner Hirsch­kuh; ihre Füße wa­ren ohne Mühe un­ter ihr zu­sam­men­ge­bo­gen; ihr Bu­sen hob sich in re­gel­mä­ßi­gen In­ter­val­len; ihre Haut, ihr Teint wies die Por­zel­lan­bläs­se, die wir so sehr auf den Ge­sich­tern von Kin­dern be­wun­dern. Un­be­weg­lich ne­ben ihr ste­hend, in der Hand einen Zweig, den Ste­pha­nie zwei­fel­los von dem höchs­ten Wip­fel ei­nes Pap­pel­baums ab­ge­pflückt hat­te, be­weg­te die Idio­tin sanft die Blät­ter über ih­rer ein­ge­schla­fe­nen Ge­fähr­tin, um die Flie­gen zu ver­ja­gen und die Luft zu er­fri­schen. Die Bäue­rin be­trach­te­te Herrn Fan­jat und den Obers­ten; dann, wie ein Tier, das sei­nen Herrn er­kannt hat, wand­te sie lang­sam den Kopf der Grä­fin zu und fuhr fort, über ihr zu wa­chen, ohne das ge­rings­te Zei­chen von Er­stau­nen oder Ver­ständ­nis zu ge­ben. Die Luft war glü­hend. Die Stein­bank schi­en zu fun­keln, und die Wie­se strahl­te dem Him­mel die­se ru­he­lo­sen Düf­te ent­ge­gen, die über den Kräu­tern flim­mern und glü­hen wie ein gol­de­ner Staub; aber Ge­no­ve­fa schi­en die ver­zeh­ren­de Hit­ze nicht zu spü­ren. Der Oberst drück­te hef­tig die Hän­de des Arz­tes in den sei­ni­gen. Aus den Au­gen des Sol­da­ten roll­ten Trä­nen die männ­li­chen Wan­gen ent­lang und fie­len auf den Ra­sen zu Ste­pha­nies Fü­ßen.

»Mein Herr,« sag­te der On­kel, »jetzt sind es zwei Jah­re her, daß mir täg­lich das Herz bre­chen will. Bald wer­den Sie so weit sein wie ich. Wenn Sie nicht mehr wei­nen, so wer­den Sie Ihren Schmerz nicht um so we­ni­ger emp­fin­den.«

»Sie ha­ben für sie ge­sorgt?« sag­te der Oberst, des­sen Bli­cke eben­so­viel Dank­bar­keit wie Ei­fer­sucht aus­drück­ten.

Die bei­den Män­ner ver­stan­den sich; und in­dem sie sich von neu­em die Hand drück­ten, blie­ben sie un­be­weg­lich in der Be­trach­tung der herr­li­chen Ruhe, die der Schlaf über die­ses ent­zücken­de We­sen aus­brei­te­te. Von Zeit zu Zeit stieß Ste­pha­nie einen Seuf­zer aus, und die­ser Seuf­zer, der alle An­zei­chen des Ge­fühls zeig­te, ließ den un­glück­li­chen Obers­ten vor Freu­de er­zit­tern.

»Ach,« sag­te Herr Fan­jat lei­se zu ihm, »täu­schen Sie sich nicht, mein Herr, Sie se­hen sie jetzt bei vol­ler Ver­nunft.«

Wer je vol­ler Ent­zücken da­mit be­schäf­tigt war, gan­ze Stun­den lang eine zärt­lich ge­lieb­te Per­son schla­fen zu se­hen, de­ren Au­gen im Schla­fe lä­cheln müß­ten, wird zwei­fel­los das süße und furcht­ba­re Ge­fühl be­grei­fen, das den Obers­ten be­weg­te. Für ihn war der Schlaf eine Vor­spie­ge­lung; das Er­wa­chen muß­te für ihn den Tod be­deu­ten, und zwar den schreck­lichs­ten al­ler Tode. Plötz­lich lief eine jun­ge Zie­ge in drei Sprün­gen auf die Bank zu und wit­ter­te Ste­pha­nie, wel­che das Geräusch er­weck­te; sie rich­te­te sich leicht auf den Fü­ßen auf, ohne daß die­se Be­we­gung das lau­ni­sche Tier er­schreck­te; aber als sie Phil­ipp be­merk­te, floh sie, von ih­rem vier­fü­ßi­gen Ge­fähr­ten ge­folgt, bis zu ei­ner Hol­lun­der­he­cke; dann ließ sie einen klei­nen wil­den Vo­gel­schrei hö­ren, den der Oberst nahe beim Git­ter schon ge­hört hat­te, wo die Grä­fin Herrn d’Al­bon zum ers­ten­mal er­schie­nen war. Schließ­lich klet­ter­te sie auf einen wil­den Eben­holz­baum, hock­te sich in dem grü­nen Gip­fel die­ses Bau­mes fest und fing an, den »Un­be­kann­ten« mit der Neu­gier der Nach­ti­gal­len des Wal­des zu be­trach­ten.

»Adieu, adieu, adieu!« sag­te sie, ohne daß ihre See­le die­sem Wor­te eine Be­to­nung ver­lieh.

Es war die Gleich­gül­tig­keit ei­nes in der Luft sin­gen­den Vo­gels.

»Sie er­kennt mich nicht mehr! rief der ver­zwei­fel­te Oberst. »Ste­pha­nie! Das ist ja Phil­ipp, dein Phil­ipp, Phil­ipp!«

Und der arme Sol­dat sprang auf den Baum zu; aber als er drei Schritt von ihm ent­fernt war, sah ihn die Grä­fin an, wie um ihm zu trot­zen, ob­wohl ein furcht­sa­mer Aus­druck in ih­rem Auge er­schi­en; dann ret­te­te sie sich von dem Eben­holz­baum auf eine Aka­zie, und von da auf eine nor­di­sche Tan­ne, wo sie sich von Zweig zu Zweig mit un­er­hör­ter Leich­tig­keit wieg­te.

»Ver­fol­gen Sie sie nicht«, sag­te Herr Fan­jat zu dem Obers­ten. »Sie könn­ten zwi­schen ihr und sich einen un­über­wind­li­chen Zwie­spalt auf­rich­ten; ich wer­de Ih­nen hel­fen, sie ken­nen­zu­ler­nen und sie zu zäh­men. Kom­men Sie auf die­se Bank hier. Wenn Sie Ihre Auf­merk­sam­keit nicht auf die­se arme Irre rich­ten, dann wer­den Sie sie bald un­merk­lich nä­her kom­men se­hen, um Sie zu prü­fen.«

»Sie! Mich nicht wie­der­er­ken­nen und mich flie­hen!« wie­der­hol­te der Oberst und lehn­te den Rücken ge­gen einen Baum, des­sen Blät­ter eine länd­li­che Bank be­schat­te­ten. Der Dok­tor ver­harr­te still­schwei­gend.

Bald kam die Grä­fin von dem Gip­fel der Tan­ne sach­te von oben her­ab, in­dem sie wie ein Irr­licht her­ab­schwank­te und sich zu­wei­len mit den Re­gun­gen des Win­des mit­ge­hen ließ, die er den Bäu­men mit­teil­te. Bei je­dem Aste hielt sie still, um nach dem Frem­den aus­zu­spä­hen; aber da sie ihn un­be­weg­lich sah, sprang sie schließ­lich auf das Gras, stell­te sich auf­recht und kam mit lang­sa­mem Schritt quer über die Wie­se auf ihn zu. Als sie an ei­nem Baum, un­ge­fähr zehn Fuß von der Bank ent­fernt stand, sag­te Herr Fan­jat lei­se zu dem Obers­ten:

»Neh­men Sie vor­sich­tig in mei­ner rech­ten Ta­sche et­li­che Stücke Zu­cker und zei­gen Sie sie ihr, sie wird dann nä­her kom­men; ich wer­de zu Ihren Guns­ten auf das Ver­gnü­gen ver­zich­ten, ihr ei­ni­ge Le­cke­rei­en zu ver­schaf­fen. Mit Un­ter­stüt­zung des Zuckers wird sie Sie lei­den­schaft­lich lie­ben, Sie wer­den sie ge­wöh­nen, Ih­nen nä­her zu kom­men und Sie wie­der zu er­ken­nen.«

»Als sie ein ech­tes Weib war,« ant­wor­te­te Phil­ipp trau­rig, »hat­te sie gar kei­nen Ge­schmack für Sü­ßig­kei­ten.«

Als der Oberst Ste­pha­nie mit dem Stück­chen Zu­cker wink­te, das er ihr mit dem Dau­men und Zei­ge­fin­ger der rech­ten Hand hin­hielt, stieß sie einen neu­en wil­den Schrei aus und eil­te auf Phil­ipp zu; dann blieb sie ste­hen, von der in­stink­ti­ven Furcht be­wegt, die sich ihr auf­dräng­te; ab­wech­selnd be­trach­te­te sie den Zu­cker und wand­te den Kopf ab, wie die arm­se­li­gen Hun­de, de­nen die Her­ren ver­bie­ten, an ein Ge­richt zu rüh­ren, be­vor man ih­nen einen der letz­ten Buch­sta­ben des Al­pha­bets nennt, das man lang­sam re­zi­tiert hat. End­lich sieg­te die tie­ri­sche Lei­den­schaft über die Furcht: Ste­pha­nie stürz­te sich auf Phil­ipp, streck­te schüch­tern ihre hüb­sche brau­ne Hand aus, um die Beu­te zu er­grei­fen, be­rühr­te die Fin­ger ih­res Ge­lieb­ten, pack­te den Zu­cker und ver­schwand in ei­nem Ge­büsch des Wal­des. Die­se schau­der­haf­te Sze­ne schlug den Obers­ten vollends da­nie­der, der in Trä­nen aus­brach und sich in sei­nen Sa­lon flüch­te­te.

»Ver­leiht die Lie­be denn we­ni­ger Mut als die Freund­schaft?« sag­te Herr Fan­jat zu ihm: »Ich habe noch Hoff­nung, Herr Baron. Mei­ne arme Nich­te war in ei­nem viel be­dau­erns­wer­te­ren Zu­stan­de, als dem, in dem Sie sie se­hen.«

»Ist das noch mög­lich?« rief Phil­ipp aus.

»Sie war nackt ge­blie­ben«, er­wi­der­te der Me­di­zi­ner. Der Oberst mach­te eine Schre­ckens­ge­bär­de und er­bleich­te; der Dok­tor glaub­te in die­ser Bläs­se ei­ni­ge bö­sen Sym­pto­me zu er­ken­nen: er faß­te ihm den Puls und fand ihn ei­nem hef­ti­gen Fie­ber aus­ge­lie­fert; auf ernst­li­ches Drän­gen ge­lang es ihm, ihn ins Bett zu brin­gen, und er be­rei­te­te ihm eine leich­te Do­sis Opi­um, um ihm einen ru­hi­gen Schlaf zu ver­schaf­fen. So ver­lie­fen un­ge­fähr acht Tage, wäh­rend de­ren der Baron von Sucy oft mit töd­li­cher Angst kämpf­te; bald fan­den sei­ne Au­gen kei­ne Trä­nen mehr. Sei­ne oft er­schüt­ter­te See­le ver­moch­te sich nicht an das Schau­spiel zu ge­wöh­nen, das ihm der Irr­sinn der Grä­fin dar­bot; aber er fand sich in ge­wis­sem Sin­ne mit der grau­sa­men Lage ab und er­blick­te in sei­nem Schmer­ze einen Trost. Sein He­ro­is­mus kann­te kei­ne Gren­zen. Er fand den Mut, Ste­pha­nie zu zäh­men, in­dem er ihr Sü­ßig­kei­ten aus­such­te; er gab sich sol­che Mühe, ihr die­se Nah­rung her­bei­zu­brin­gen, er ver­stand es, die be­schei­de­nen Erobe­run­gen, die er dem In­stinkt sei­ner Ge­lieb­ten die­sen letz­ten Rest ih­rer In­tel­li­genz auf­drän­gen woll­te, so vor­sich­tig ab­zu­mes­sen, daß es ihm ge­lang, sie ver­trau­li­cher zu ma­chen, als sie es je­mals ge­we­sen war.

Der Oberst stieg je­den Mor­gen in den Park hin­un­ter; und wenn er, nach­dem er lan­ge Zeit nach der Grä­fin ge­sucht hat­te, nicht ah­nen konn­te, auf wel­chem Baum sie sich leicht wieg­te, noch in wel­chem Win­kel sie ge­klet­tert war, um hier mit ei­nem Tier zu spie­len, noch auf wel­ches Dach sie ge­klet­tert war, so pfiff er den be­rühm­ten Marsch: Par­tant pour la Sy­rie, wor­an sich die Erin­ne­rung an eine Sze­ne ih­rer Lie­be ket­te­te. So­gleich lief Ste­pha­nie mit der Leich­tig­keit ei­nes jun­gen Rehs her­bei. Es war ihr so na­tür­lich ge­wor­den, den Obers­ten zu se­hen, daß er sie nicht mehr er­schreck­te; bald ge­wöhn­te sie sich dar­an, sich ne­ben ihn zu set­zen, ihn mit ih­rem ma­ge­ren be­weg­li­chen Arm zu um­fas­sen. In die­ser, den Lie­ben­den so teu­ren Hal­tung, gab ihr Phil­ipp lang­sam ei­ni­ges Zucker­zeug, für das die Grä­fin eine Vor­lie­be hat­te. Wenn sie al­les auf­gen­ascht hat­te, ge­sch­ah es zu­wei­len, daß Ste­pha­nie die Ta­schen ih­res Freun­des mit Ges­ten durch­forsch­te, die die me­cha­ni­sche Schnel­lig­keit ei­nes Af­fen zeig­ten. Wenn sie ganz si­cher war, daß er nichts mehr dar­in hat­te, be­trach­te­te sie Phil­ipp mit kla­rem Auge, ohne Ge­dan­ken, ohne ein Wie­de­rer­ken­nen; sie spiel­te dann mit ihm; sie ver­such­te dann, ihm die Stie­fel weg­zu­neh­men, um sei­nen Fuß an­zu­se­hen, sie zer­riß sei­ne Hand­schu­he, setz­te sei­nen Hut auf; sie ließ ihn sei­ne Hän­de in ihr Haar ste­cken, er­laub­te ihm, sie in sei­ne Arme zu neh­men, und emp­fing ohne Ver­gnü­gen glü­hen­de Küs­se. End­lich sah sie ihn schwei­gend an, wenn er Trä­nen ver­goß; sie be­griff wohl den Pfiff von Par­tant pour la Sy­rie, aber es woll­te ihm nicht ge­lin­gen, sie ih­ren ei­ge­nen Na­men »Ste­pha­nie« aus­spre­chen zu las­sen. Phil­ipp wur­de bei sei­nem schreck­li­chen Un­ter­neh­men in ei­ner Hoff­nung fest­ge­hal­ten, die ihn nie­mals ver­ließ. Wenn er an ei­nem schö­nen Herbst­vor­mit­tag die Grä­fin ru­hig auf ei­ner Bank sit­zend sah, un­ter ei­nem gelb ge­wor­de­nen Pap­pel­baum, la­ger­te sich der arme Lie­ben­de zu ih­ren Fü­ßen und sah ihr so lan­ge in die Au­gen, als sie ihn hin­ein­se­hen ließ, in der Hoff­nung, daß das Licht, das ihr dar­aus ent­schlüpf­te, wie­der zur Ver­nunft wer­den wür­de. Manch­mal bil­de­te er sich et­was ein: er glaub­te die har­ten und un­be­weg­li­chen Züge von neu­em zit­ternd, weich und le­ben­dig wer­den zu se­hen und rief aus: »Ste­pha­nie! Ste­pha­nie! Du ver­stehst mich, du siehst mich!« Aber sie hör­te den Ton sei­ner Stim­me wie ein Geräusch, wie die Wir­kung des Win­des, der die Bäu­me be­weg­te, wie das Brül­len der Kuh, auf die sie klet­ter­te; und der Oberst rang ver­zwei­felt sei­ne Hän­de, im­mer von neu­en ver­zwei­felt. Die Zeit und sei­ne ver­geb­li­chen Ver­su­che ver­mehr­ten nur sei­nen Schmerz. Ei­nes Abends, bei ru­hi­gem Him­mel und in­mit­ten des Schwei­gens und Frie­dens des länd­li­chen Asyls, be­merk­te der Dok­tor von fern, wie der Oberst eine Pis­to­le lud. Der alte Arzt be­griff, daß Phil­ipp kei­ne Hoff­nung mehr hat­te; er fühl­te, wie al­les Blut ihm zu Her­zen floß, und wenn er den Schwin­del, der sich sei­ner be­mäch­tig­te, wi­der­stand, so ge­sch­ah es, weil er lie­ber sei­ne Nich­te le­bend und irre se­hen woll­te als tot. Er lief her­zu.

»Was ma­chen Sie da?« sag­te er.

»Das ist für mich,« ant­wor­te­te der Oberst und zeig­te auf eine ge­la­de­ne Pis­to­le auf der Bank, »und die dort ist für sie!« füg­te er hin­zu und schob die Ku­gel in die Waf­fe, die er hielt.

Die Grä­fin lag auf der Erde aus­ge­streckt und spiel­te mit den Ku­geln.

»Sie wis­sen also nicht,« sag­te kalt der Arzt, der sei­nen Schre­cken ver­barg, »daß sie heu­te Nacht im Schla­fe ge­sagt hat: Phil­ipp?«

»Sie hat mei­nen Na­men ge­nannt!« rief der Baron und ließ sei­ne Pis­to­le zur Erde fal­len, die Ste­pha­nie wie­der auf­hob; aber er ent­riß sie ih­ren Hän­den, be­mäch­tig­te sich der­je­ni­gen, die sich auf der Bank be­fand, und ret­te­te sich.

»Arme Klei­ne!« rief der Arzt aus, glück­lich über den Er­folg, den sei­ne List ge­habt hat­te. Er drück­te die Irre an sei­nen Bu­sen und fuhr fort: »Er hät­te sie ge­tö­tet, der Ego­ist! Er will dir den Tod ge­ben, weil er sel­ber lei­det. Er ver­steht es nicht, dich um dei­net­wil­len zu lie­ben, mein Kind! Wir wer­den ihm ver­ge­ben, nicht wahr? Er ist un­sin­nig, und du, du bist nur irre. Gott, mein Lieb­ling, soll dich al­lein an ihn er­in­nern. Wir hal­ten dich für un­glück­lich, weil du an un­se­rem Elend nicht teil­nimmst, tö­richt wie wir sind! Du aber,« sag­te er und setz­te sie auf sei­ne Knie, »du bist glück­lich, nichts stört dich; du lebst wie eine Hirsch­kuh.«

Sie sprang auf eine jun­ge Am­sel los, die hüpf­te, pack­te sie mit ei­nem klei­nen Schrei der Ge­nug­tu­ung, er­stick­te sie, sah die Tote an und ließ sie am Fuße ei­nes Bau­mes lie­gen, ohne wei­ter an sie zu den­ken.

Als der nächs­te Mor­gen tag­te, stieg der Oberst in die Gär­ten hin­ab. Er such­te Ste­pha­nie, er glaub­te an sein Glück; und als er sie nicht fand, pfiff er nach ihr. Als die Ge­lieb­te her­an­ge­kom­men war, nahm er sie beim Arm und ging mit ihr zum ers­ten­mal in glei­chem Schritt, sie be­ga­ben sich in ein Ge­sträuch ver­blü­hen­der Bäu­me, von de­nen im Mor­gen­win­de Blät­ter her­ab­fie­len. Der Oberst setz­te sich, und Ste­pha­nie lehn­te sich von selbst an ihn. Phil­ipp zit­ter­te vor Freu­de.

»Mei­ne Ge­lieb­te,« sag­te er und küß­te mit glü­hen­der Lie­be die Hän­de der Grä­fin, »ich bin Phil­ipp.«

Sie sah ihn voll Neu­gier­de an.

»Komm«, füg­te er hin­zu und preß­te sie an sich. »Fühlst du, wie mein Herz schlägt? Es hat nur für dich ge­schla­gen. Ich lie­be dich noch im­mer … Phil­ipp ist nicht tot: er ist hier … Du bist bei ihm … Du bist mei­ne Ste­pha­nie, und ich bin dein Phil­ipp.«

»Adieu!« sag­te sie, »adieu!«

Der Oberst er­zit­ter­te, denn er glaub­te zu be­mer­ken, daß sei­ne Er­re­gung sich sei­ner Ge­lieb­ten mit­teil­te. Sein zer­rei­ßen­der Schrei, von der Hoff­nung an­ge­sta­chelt, die­se letz­te An­stren­gung ei­ner ewi­gen Lie­be, ei­ner ver­zeh­ren­den Lei­den­schaft, wür­de die Ver­nunft sei­ner Ge­lieb­ten er­we­cken.

»Ach, Ste­pha­nie! Wir wer­den glück­lich sein!«

Sie ließ sich einen Schrei der Ge­nug­tu­ung ent­schlüp­fen, und ihre Au­gen zeig­ten einen war­men Schim­mer von In­tel­li­genz.

»Sie er­kennt mich wie­der! Ste­pha­nie!«

Der Oberst fühl­te sein Herz schwel­len und sei­ne Au­gen feucht wer­den. Aber er sah plötz­lich die Grä­fin ihm ein Stück­chen Zu­cker zei­gen, das sie ge­fun­den hat­te, als sie ihn durch­such­te, wäh­rend er sprach. Er hat­te also für einen mensch­li­chen Ge­dan­ken die­sen Grad von Ver­stand ge­hal­ten, den die List des Af­fen vor­aus­setzt. Phil­ipp ver­lor die Be­sin­nung. Herr Fan­jat fand die Grä­fin auf dem Kör­per des Obers­ten sit­zend. Sie biß zum Zei­chen ih­res Ver­gnü­gens in ih­ren Zu­cker mit ei­ner Schön­tue­rei, die man be­wun­dert hät­te, wenn sie, im Be­sitz ih­rer Ver­nunft, zum Spaß ih­ren Pa­pa­gei oder ihre Kat­ze hät­te nach­ah­men wol­len.

»Ach, mein Freund!« rief Phil­ipp aus, als er wie­der zur Be­sin­nung kam, »ich st­er­be alle Tage, alle Au­gen­bli­cke! Ich lie­be sie zu sehr! Al­les wür­de ich er­tra­gen ha­ben, wenn sie in ih­rem Irr­sinn ein klein we­nig von weib­li­chem Cha­rak­ter bei­be­hal­ten hät­te. Aber sie im­mer wie eine Wil­de se­hen und selbst scham­los, sie se­hen …«

»Sie wol­len also einen Oper­nirr­sinn ha­ben«, sag­te bit­ter der Dok­tor, »und die Hin­ge­bung Ih­rer Lie­be ist Vor­ur­tei­len un­ter­wor­fen? Wie, mein Herr, ich habe mich des trü­ben Glücks be­raubt, mei­ne Nich­te zu er­näh­ren, ich habe Ih­nen das Ver­gnü­gen über­las­sen, mit ihr zu spie­len, und mir nur die drückends­ten Las­ten vor­be­hal­ten … Wäh­rend Sie schla­fen, wa­che ich über sie, ich … Nein, mein Herr, über­las­sen Sie sie mir wie­der. Ver­las­sen Sie die­se trau­ri­ge Ein­sie­de­lei. Ich kann mit die­sem teu­ren klei­nen We­sen le­ben; ich ver­ste­he ih­ren Irr­sinn, ich spä­he ihre Ges­ten aus, ich ken­ne ihre Ge­heim­nis­se. Ei­nes Ta­ges wer­den Sie mir da­für dan­ken.«

Der Oberst ver­ließ Bons-Hom­mes, um nur noch ein­mal dort­hin zu­rück­zu­keh­ren. Der Dok­tor war be­trof­fen von der Wir­kung, die er bei sei­nem Gast her­vor­ge­ru­fen hat­te; er be­gann ihn glei­cher­ma­ßen zu lie­ben wie sei­ne Nich­te. Wenn von den bei­den Lie­ben­den der eine des Mit­leids wert war, so war es si­cher Phil­ipp: trug er nicht für sich selbst al­lein die Last ei­nes schreck­li­chen Schmer­zes? Der Arzt zog Er­kun­di­gun­gen über den Oberst ein und er­fuhr, daß der Un­glück­li­che sich auf ein Gut ge­flüch­tet hat­te, das er in der Nähe von Saint-Ger­main be­saß. Der Baron hat­te, un­ter der Ein­ge­bung ei­nes Traums, einen Plan ge­faßt, um der Grä­fin den Ver­stand wie­der­zu­ge­ben. Ohne Wis­sen des Dok­tors ver­wand­te er den Rest des Herbs­tes auf die Vor­be­rei­tun­gen zu die­sem ge­wal­ti­gen Un­ter­neh­men. Ein Flüß­chen lief durch sei­nen Park, wo es im Win­ter einen großen Sumpf über­schwemm­te, der fast demje­ni­gen glich, der sich längs des rech­ten Ufers der Be­re­si­na aus­brei­te­te. Das Dorf Sa­tout, das auf ei­nem klei­nen Hü­gel lag, rahm­te die­se Sze­ne des Schre­ckens ein, wie Stud­zi­an­ka die Nie­de­rung der Be­re­si­na um­schloß. Der Oberst nahm eine An­zahl Ar­bei­ter an und ließ einen Kanal zie­hen, der den rei­ßen­den Fluß dar­stell­te, wo die Schät­ze Frank­reichs un­ter­ge­gan­gen wa­ren, Na­po­le­on und sei­ne Ar­mee. Mit Hil­fe sei­ner Erin­ne­rung ge­lang es Phil­ipp, in sei­nem Park das Ufer nach­zu­bil­den, wo der Ge­ne­ral Eblé sei­ne Brücken er­rich­tet hat­te. Er pflanz­te Bü­sche und ließ sie an­zün­den, um da­durch die ge­schwärz­ten und halb ver­brauch­ten Bret­ter dar­zu­stel­len, die auf bei­den Sei­ten des Ufers den Nach­züg­lern be­zeugt hat­ten, daß der Weg nach Frank­reich ih­nen ver­sperrt war. Der Oberst ließ Holz­trüm­mer her­bei­schlep­pen, ähn­lich de­nen, de­ren sich sei­ne Un­glücks­ge­fähr­ten be­dient hat­ten, um ihr Fahr­zeug zu kon­stru­ie­ren. Er ver­wüs­te­te sei­nen Park, um die Il­lu­si­on voll­kom­men zu ma­chen, auf die er sei­ne letz­te Hoff­nung bau­te. Er be­schaff­te zer­lump­te Uni­for­men und Klei­der, um meh­re­re hun­dert Bau­ern dar­ein zu klei­den. Er er­rich­te­te Hüt­ten, Bi­waks, Bat­te­rie­stän­de, die er in Brand setz­te. Kurz er ver­gaß nichts von al­le­dem, was ge­eig­net war, die schreck­lichs­te al­ler Sze­nen nach­zu­bil­den, und er er­reich­te sein Ziel. Um die ers­ten Tage des Mo­nats De­zem­ber, als der Schnee die Erde mit ei­nem di­cken wei­ßen Man­tel be­deckt hat­te, er­kann­te er die Be­re­si­na wie­der. Die­ses falsche Ruß­land war von ei­ner so er­schre­cken­den Wirk­lich­keit, daß auch meh­re­re sei­ner Waf­fen­ge­fähr­ten die Sze­ne ih­rer ehe­ma­li­gen Lei­den wie­der­er­kann­ten. Herr von Sucy hü­te­te das Ge­heim­nis die­ser tra­gi­schen Dar­stel­lung, über die zu je­ner Zeit sich meh­re­re Pa­ri­ser Ge­sell­schafts­krei­se wie über eine Narr­heit un­ter­hiel­ten.

Zu Be­ginn des Mo­nats Ja­nu­ar 1820 be­stieg der Oberst einen Wa­gen, ähn­lich dem, der Herr und Frau von Van­dières von Mos­kau nach Stud­zi­an­ka ge­führt hat­te, und wand­te sich nach dem Wal­de von Ile-Adam. Der Wa­gen wur­de von Pfer­den ge­zo­gen, die fast de­nen gli­chen, die er bei Ge­fahr sei­nes Le­bens aus den Rei­hen der Rus­sen ge­holt hat­te. Er trug die be­schmutz­ten und bi­zar­ren Klei­der, die Waf­fen, die Kopf­be­de­ckung, die er am 29. No­vem­ber 1812 an­hat­te. Er hat­te so­gar Bart und Haa­re lang wach­sen las­sen und sein Ge­sicht ver­nach­läs­sigt, da­mit nichts an die­ser scheuß­li­chen Wirk­lich­keit fehl­te.

»Ich habe Ihr Kom­men ge­ahnt,« rief Herr Fan­jat, als er den Oberst aus dem Wa­gen stei­gen sah. »Wenn Sie wün­schen, daß Ihr Pro­jekt glückt, dann zei­gen Sie sich nicht in die­sem Auf­zug. Heu­te Abend wer­de ich mei­ne Nich­te et­was Opi­um neh­men las­sen. Wäh­rend sie schläft, wer­den wir sie wie bei Stud­zi­an­ka an­zie­hen und wer­den sie in die­sen Wa­gen set­zen. Ich fol­ge Ih­nen in ei­nem Rei­se­wa­gen.«

Etwa um zwei Uhr mor­gens wur­de die jun­ge Grä­fin in den Wa­gen ge­tra­gen, auf Kis­sen ge­bet­tet und in eine gro­be De­cke ein­gehüllt. Ei­ni­ge Bau­ern hiel­ten Licht bei die­ser ein­zig­ar­ti­gen Ent­füh­rung. Plötz­lich er­scholl ein durch­drin­gen­der Schrei in der Stil­le der Nacht. Phil­ipp und der Arzt wand­ten sich um und er­blick­ten Ge­no­ve­fa, die halb­nackt aus der Kam­mer kam, in der sie schlief.

»Adieu, adieu! Es ist zu Ende, adieu!« rief sie, hei­ße Trä­nen wei­nend.

»Nun, was hast du denn, Ge­no­ve­fa?« sag­te Herr Fan­jat zu ihr.

Ge­no­ve­fa schüt­tel­te den Kopf mit ei­ner Be­we­gung der Verzweif­lung, hob die Arme gen Him­mel, blick­te den Wa­gen an, stieß einen lan­gen Kla­ge­ton aus, gab sicht­li­che Zei­chen ei­nes tie­fen Schre­ckens und kehr­te schwei­gend ins Haus zu­rück.

»Das ist ein gu­tes Vor­zei­chen«, rief der Oberst. »Die­ses Mäd­chen be­dau­ert, kei­ne Ge­fähr­tin mehr zu ha­ben. Sie sieht viel­leicht, daß Ste­pha­nie den Ver­stand wie­der­fin­den wird.

»Gott wol­le es!« sag­te Herr Fan­jat, der von die­sem Zwi­schen­fall tief­be­wegt zu sein schi­en. Seit­dem er sich mit dem Irr­sinn be­schäf­tig­te, hat­te er mehr­fa­che Bei­spie­le pro­phe­ti­schen Geis­tes und der Gabe des zwei­ten Ge­sichts an­ge­trof­fen, von de­nen ei­ni­ge Pro­ben von Geis­tes­kran­ken ge­ge­ben wor­den sind, und die, nach den Er­zäh­lun­gen meh­re­rer Rei­sen­der, auch bei den wil­den Völ­kern zu fin­den sind.

So wie es der Oberst be­rech­net hat­te, durch­quer­te Ste­pha­nie die ver­meint­li­che Nie­de­rung der Be­re­si­na etwa um 9 Uhr mor­gens; sie wur­de durch einen Böl­ler­schuß ge­weckt, der hun­dert Schritt von dem Ort ent­fernt ab­ge­feu­ert wur­de, wo die Sze­ne statt­fand. Das war das Si­gnal. Tau­send Bau­ern stie­ßen ein schreck­li­ches Ge­schrei aus, ähn­lich dem Verzweif­lungs­ruf, der die Rus­sen er­schreck­te, als zwan­zig­tau­send Nach­züg­ler sich durch ihre Schuld dem Tode oder der Skla­ve­rei aus­ge­lie­fert sa­hen. Bei die­sem Schrei, bei die­sem Ka­no­nen­schuß sprang die Grä­fin aus dem Wa­gen, rann­te mit ra­sen­der Angst auf den schnee­be­deck­ten Platz, sah die ver­brann­ten Bi­waks und das un­glück­se­li­ge Floß, das man in die ver­eis­te Be­re­si­na hin­a­bließ. Dort stand der Ma­jor Phil­ipp und ließ sei­nen Sä­bel über der Men­ge wir­beln. Frau von Van­dières ließ einen Schrei er­tö­nen, der alle Her­zen er­star­ren mach­te, und stell­te sich vor den Oberst hin, der krampf­haft zu­sam­men­zuck­te. Sie sam­mel­te sich und blick­te zu­nächst un­be­stimmt die­ses frem­de Bild an. Wäh­rend ei­nes Mo­ments, so kurz wie der Blitz, ge­wan­nen ihre Au­gen die ent­blö­ßte Klar­heit der In­tel­li­genz, die wir in dem er­staun­ten Auge der Vö­gel be­wun­dern; dann leg­te sie die Hand an die Stirn mit dem leb­haf­ten Aus­druck ei­nes Men­schen, der nach­denkt, sie er­faß­te die­se star­ke Erin­ne­rung, die­ses ver­flos­se­ne Er­leb­nis, das aus­ge­brei­tet vor ihr lag, wand­te leb­haft den Kopf zu Phil­ipp hin und er­kann­te ihn. Ein schreck­li­ches Schwei­gen las­te­te auf der Men­ge. Der Oberst seufz­te und wag­te nicht zu spre­chen; der Dok­tor wein­te. Ste­pha­nies schö­nes Ge­sicht färb­te sich schwach; dann, in all­mäh­li­cher Stei­ge­rung, ge­wann sie den Glanz ei­nes vor Fri­sche strah­len­den jun­gen Mäd­chens. Ihr Ge­sicht be­kam eine schö­ne Pur­pur­far­be. Le­ben und Glück, an­ge­facht durch eine blit­zen­de Ein­sicht, nah­men im­mer mehr zu gleich ei­ner Feu­ers­brunst. Ein kon­vul­si­ves Zit­tern brei­te­te sich von den Fü­ßen bis zum Her­zen aus. Dann ver­ei­nig­ten sich die­se Er­schei­nun­gen, die einen Mo­ment auf­leuch­te­ten, gleich­sam zu ei­nem ge­mein­sa­men Band, als die Au­gen Ste­pha­nies einen himm­li­schen Fun­ken, eine be­weg­te Flam­me aus­strahl­ten. Sie leb­te, sie dach­te! Sie schau­der­te, vor Schre­cken viel­leicht! Gott selbst lös­te zum zwei­ten­mal die er­stor­be­ne Zun­ge und warf von neu­em sein Feu­er in die­se er­lo­sche­ne See­le. Der mensch­li­che Wil­le er­wuchs mit sei­nen elek­tri­schen Strö­men und be­leb­te die­sen Kör­per, von dem er so lan­ge ab­we­send ge­we­sen war.

»Ste­pha­nie!« schrie der Oberst.

»Oh! das ist Phil­ipp,« sag­te die arme Grä­fin.

Sie stürz­te sich in die zit­tern­den Arme, die der Oberst ihr ent­ge­gen­streck­te, und die Umar­mung der bei­den Lie­ben­den er­schüt­ter­te die Zuschau­er. Ste­pha­nie floß in Trä­nen. Plötz­lich leg­te sich ihr Wei­nen, sie wur­de leb­los, als wenn der Blitz sie ge­rührt hät­te, und hauch­te mit schwa­cher Stim­me: »Adieu, Phil­ipp! Ich lie­be dich, adieu!«

»Oh, sie ist tot!« rief der Oberst, in­dem er die Arme öff­ne­te.

Der alte Arzt fing den leb­lo­sen Kör­per sei­ner Nich­te auf, um­arm­te sie, wie es ein jun­ger Mann ge­tan hät­te, trug sie fort und setz­te sich mit ihr auf einen Holz­hau­fen. Er blick­te die Grä­fin an und leg­te ihr sei­ne kraft­lo­se und krampf­haft zu­cken­de Hand aufs Herz. Das Herz schlug nicht mehr.

»So ist es also wahr?« sag­te er, in­dem er ab­wech­selnd den un­be­weg­li­chen Oberst und das Ge­sicht Ste­pha­nies be­trach­te­te, über das der Tod eine strah­len­de Schön­heit, eine flüch­ti­ge Glo­rie aus­brei­te­te, das Pfand viel­leicht ei­ner glän­zen­den Zu­kunft.

»Ja, sie ist tot.

»Ach, die­ses Lä­cheln!« rief Phil­ipp, »se­hen Sie nur die­ses Lä­cheln! Ist es mög­lich?«

»Sie ist schon kalt«, er­wi­der­te Herr Fan­jat.

Herr von Sucy mach­te ei­ni­ge Schrit­te, um sich von die­sem Schau­spiel loß­zu­rei­ßen; aber er hielt an, pfiff das Lied, das die Irre kann­te, und als er sei­ne Ge­lieb­te nicht kom­men sah, ent­fern­te er sich mit schwan­ken­dem Schritt, wie ein Trun­ke­ner, im­mer pfei­fend, aber ohne sich noch ein­mal um­zu­se­hen.

Der Ge­ne­ral Phil­ipp von Sucy galt in der Ge­sell­schaft als ein sehr lie­bens­wür­di­ger und na­ment­lich als ein sehr hei­te­rer Mann. Vor ei­ni­gen Ta­gen be­glück­wünsch­te ihn eine Dame we­gen sei­ner gu­ten Lau­ne und der Be­stän­dig­keit sei­nes Cha­rak­ters.

»Ach, mei­ne Gnä­di­ge,« sag­te er, »ich be­zah­le mei­ne Spä­ße recht teu­er, des Abends, wenn ich al­lei­ne bin!«

»Sind Sie denn je­mals al­lein?«

»Nein,« ant­wor­te­te er lä­chelnd.

Wenn ein klu­ger Beo­b­ach­ter der mensch­li­chen Na­tur in die­sem Au­gen­blick den Aus­druck des Gra­fen von Sucy hät­te be­ob­ach­ten kön­nen, wür­de er viel­leicht ge­schau­dert ha­ben.

»Wa­rum hei­ra­ten Sie nicht?« fuhr jene Dame fort, die selbst meh­re­re Töch­ter in ei­nem Pen­sio­nat hat­te. »Sie sind reich, Stan­des­per­son, von al­tem Adel; Sie ha­ben Ta­len­te, Sie ha­ben noch eine Zu­kunft, al­les lä­chelt Ih­nen zu.«

»Ja­wohl«, er­wi­der­te er, »aber es ist ein Lä­cheln, das mich tö­tet.«

Am nächs­ten Tage er­fuhr die Dame voll Er­stau­nen, daß Herr von Sucy sich wäh­rend der Nacht eine Ku­gel vor den Kopf ge­schos­sen hat­te. Die gute Ge­sell­schaft un­ter­hielt sich ver­schie­dent­lich über die­ses au­ßer­ge­wöhn­li­che Er­eig­nis, und je­der such­te nach dem Grun­de. Je nach dem Ge­schmack des Be­ur­tei­lers wur­den das Spiel, die Lie­be, der Ehr­geiz, ver­bor­ge­ne Aus­schwei­fun­gen als Er­klä­rung ge­ge­ben für die­se Ka­ta­stro­phe, die letz­te Sze­ne ei­nes Dra­mas, das im Jah­re 1812 be­gon­nen hat­te. Zwei Men­schen al­lein, ein Be­am­ter und ein al­ter Arzt, wuß­ten, daß der Graf von Sucy ei­ner je­ner star­ken Men­schen war, de­nen Gott die un­glück­se­li­ge Kraft ver­leiht, alle Tage sieg­reich aus ei­nem furcht­ba­ren Kampf her­vor­zu­ge­hen, den sie ei­nem un­be­kann­ten Schre­cken lie­fern. Und daß sie, wenn in ei­nem Au­gen­blick Gott ih­nen sei­ne mäch­ti­ge Hand ent­zieht, un­ter­lie­gen.

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke

Подняться наверх