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„Niedergeschlagen“


Von Josef Hülsdünker

Die Geschichte trug sich vor vielen Jahren im „Bookel“ an der „Bookelbecke“ zu, wie wir damals auf „Platt-Deutsch“ die Gegend nannten, wo der Rhader Mühlenbach und der Rhader Bach zusammenfließen. Damals gehörten die kleinparzelligen und meist dauerfeuchten Wiesen den Bauern aus Endeln und Lasthausen. Deshalb wurde diese Gegend der Bauernschaft Endeln und damit der Gemeinde Lembeck zugerechnet.

Ende der fünfziger Jahre gab es in der weiteren Umgebung unserer Bauernschaft weit und breit kein Freibad. Der Halterner Stausee war zu weit, um ihn mit dem Fahrrad samt Kindern auf dem Gepäckträger zu erreichen. Der Rhader Mühlenteich mit seinem Stauwehr, den fehlenden Liegewiesen und der stetigen Strömung, die die fleißig mahlende Rhader Wassermühle antrieb, war für Badeausflüge mit Kindern weder geeignet noch besonders einladend. Wer mit der Familie baden wollte, fuhr damals zur Bookelbecke. So fuhren auch unsere Eltern an warmen Sommertagen manchmal mit uns Kindern an die Bookelbecke. Die Anfahrt war meist kein Vergnügen, weil wir Kinder auf den ältlichen Fahrrädern der Eltern ganz und gar ungemütlich entweder auf einem der Gepäckträger oder auf der „Stange“ von Vaters Herrenrad sitzen mussten. Kindersitze mit Rückenlehne wie sie heute Pflicht sind, gab es noch nicht.

Die Bookelbecke war natürlich keine öffentliche Schwimmanstalt. Es gab neben dem Zusammenfluss der beiden Bäche ein kleines Stück Wiese, welches irgendeinem Bauern gehörte und von allerlei Insekten wie Bremsen und Mücken bewohnt war. Das Gras dieser Heuwiese war wohl schon zu Anfang der Badesaison von den Badegästen aus der Bauernschaft niedergetrampelt worden, so dass gut erkennbar war, wo die Badestelle samt Liegewiese ihre Grenzen hatte. Die Ufer beider Bäche wurden von Bäumen und Sträuchern gesäumt, durch die einige Fußpfade ins Wasser führten. Mit dem Fahrrad erreichte man diesen Flecken in einer guten halben Stunde über holprige Feldwege. Erst wenn man die kleine Brücke über den Rhader Mühlenbach überquert hatte, war das Ziel erreicht. Rostiger Stacheldrahtzaun und Brennnesseln erschwerten zwar den Zugang zur Badestelle, waren aber gut zu überwinden. Und schon hörte man das leichte Rauschen des Wassers, welches durch die großen Steine hervorgerufen wurde, die nach Art eines Stauwehrs dafür sorgten, dass das Wasser an der Badestelle eine Handbreite erhöht wurde.


Die Badestelle an der Bookelbecke 2021. Das Ufer wurde entwaldet.

Wenn die mitgebrachte Decke ausgebreitet war, hatte die Familie für diesen Nachmittag ihren zentralen Ort gefunden: Hier saß man und hier aß man oder zog sich um. Was es zu Essen und zu Trinken gab, weiß ich heute nicht mehr zu sagen, aber es war sicher Obst aus dem Garten und Brot oder Kuchen aus dem eigenen Ofen. Damals backte meine Mutter alles Brot noch selbst. Süßigkeiten oder Kuchen aus der Bäckerei Hendricks gab es nicht, zu eng war das finanzielle Budget unserer Familie geschnürt. Dies war wohl auch einer der Gründe dafür, weshalb meine Eltern und wir Kinder damals nur selten die Bauernschaft, unsere kleine Welt, verließen. In dieser Zeit waren die verheerenden Folgen des Weltkriegs noch immer zu spüren. Das Wirtschaftswunder breitete sich nur sehr zögerlich in Richtung unserer kleinen Bauernschaft aus. Die schmalen Einkommen aus der Erwerbsarbeit mussten durch die Erträge aus Gärten und von kleinen Feldern aufgebessert werden, um über die Runden zu kommen.


Auch die Kirschen mussten gegen die Stare verteidigt werden Am Gewehr: Josef Hülsdünker

Angesichts der damaligen Knappheit in fast allen Dingen, war es nicht verwunderlich, dass es auch an „Badezeug“ mangelte. Also badeten wir in Unterhosen. Heute erinnere ich mich, dass ich meine Mutter niemals in einem Badeanzug gesehen habe. Sie hatte wohl gar keinen. Und ob mein Vater, der uns Kindern in der Bookelbecke die ersten Schwimmbewegungen zeigte, eine richtige Badehose hatte, kann ich heute nicht mehr sagen. Für mich und meine Geschwister war dies damals alles unwichtig, wir fanden diese seltenen Ausflüge aufregend und schön.

Baden fahren (nicht Schwimmen fahren) war ein Erlebnis, welches wir mit nur wenigen anderen Endelnern teilen konnten. Deshalb war diese Badestelle auch nie überfüllt. Die Bauern der Gegend samt ihren Kindern fanden sich - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nicht an dieser Badestelle ein. Sie waren „im Heu“ oder die Roggenernte war in vollem Gang und bedurfte aller helfenden Hände. Noch gab es keine mechanisierte Landwirtschaft mit Maisanbau, Häckslern und Mähdreschern, so dass die vielen kleinparzellierten Flächen sehr viel Handarbeit erforderten. Der Gegend gab das ein parkähnliches Aussehen, von dem heute durch die Vergrößerung der Acker- und Wiesenflächen sowie durch die Beseitigung von Knicks und baumbestandenen Feldwegen nur noch wenig erhalten ist.

Dass wir als Familie nicht öfter baden waren, lag auch daran, dass meine Eltern auf dem elterlichen Hof meiner Mutter sehr häufig im Ernteeinsatz waren, weil es dafür täglich drei Liter Milch als eine Art naturales Entgelt gab. Zudem war das Wetter damals ganz und gar unberechenbar, weil es keine Wettervorhersagen von heutiger Qualität gab und so die Eltern und die Bauern immer auch ein wenig Glück brauchten, um zwischen Schichtarbeit und Ernteeinsatz einen arbeitsfreien Sonntag zu erwischen, der auch noch warm genug zum Baden war. So war für mich das Baden an diesem Ort ein schönes, aber ziemlich seltenes Erlebnis.

Mein Vater war damals der einzige in unserer Familie, der schwimmen konnte. An der Stelle, wo die beiden Bäche aufeinandertrafen und das Bachbett ein wenig tiefer ausgespült war, reichte es ihm für einige wenige Schwimmzüge. Meine Geschwister und ich versuchten natürlich die Schwimmbewegungen nachzumachen, konnten am Ende aber bestenfalls einige Meter weit tauchen. Schwimmen gelernt haben wir nicht. Diese Fähigkeit erwarb ich später im Freibad von Hervest-Dorsten.

Erst einige Jahre später fuhren wir Kinder auf eigenen Fahrrädern und ohne Eltern an warmen Nachmittagen zur Bookelbecke. Hier spielten wir stundenlang im Wasser und lagen danach oft zitternd und mit den Zähnen klappernd auf der Decke, um in der schon tief stehenden Sonne allmählich wieder warm zu werden. Es galt damals die „Winterzeit“ und mit Beginn der Dämmerung mussten wir wieder zu Hause sein. Baden war für uns ein riesen Spaß samt der damit verbundenen Fahrradfahrt, weil wir uns immer in der Gemeinschaft mit anderen Kindern befanden und beispielsweise kleine Radrennen nicht ausgeschlossen waren. Im Sommer war die Bookelbecke bei gutem Wetter ein bedeutender Treffpunkt der Endelner Kinder, jedenfalls für die diejenigen, die gerade nicht zu Hause mithelfen mussten. Außerdem tauchten in der Woche selten Erwachsene auf, so dass wir Kinder dann unter uns waren.


Der kleine Josef Hülsdünker aus Endeln eigentlich ganz harmlos

Eines Tages trafen wir Endelner Kinder ganz unerwartet auf andere, die etwas älter als wir waren und die wohl aus dem nahe gelegenen Holsterhausen gekommen waren, so vermuteten wir später. Nach einiger Zeit gab es Streit zwischen denen und uns. Worum es dabei ging, weiß ich heute nicht mehr. Wahrscheinlich befanden wir „Endelner“ es befremdlich, dass sich andere an unser Badestelle im Wasser und auf Handtüchern ´breit` machten. So dauerte es nicht lange, bis der Streit mit den Eindringlingen eskalierte. Ich war damals einer der Größeren und Stärkeren. Jedenfalls dachte ich das und die Kinder aus unserer Bauernschaft wohl auch. Üblich war es für uns damals, dass sich die jeweils vermeintlich Stärksten aus den verfeindeten Gruppen einem Zweikampf stellten, stellvertretend für die Gruppe sozusagen. Dass wir „Einheimischen“ mit Besitzanspruch auf unsere Badestelle uns den Eindringlingen erfolgreich entgegenstellen würden, wurde nicht eine Sekunde in Zweifel gezogen. Ich war größer und hatte schon manchen Ringkampf gewonnen – sogar gegen meinen jüngeren Bruder. Das war Anlass genug, sehr optimistisch in diesen Kampf zu gehen.

Aber es sollte ganz anders kommen als erwartet. Der Gegner war zwar etwas kleiner und schmächtiger als ich, wirkte aber irgendwie frecher und wenig eingeschüchtert. Wir in Endeln begannen unsere Kämpfe seit eh und je auf dem Schulhof oder nachmittags beim Cowboy- und Indianerspiel immer mit einer Schubserei, die dann in einem Ringkampf endete. Wer unten auf dem Boden lag, hatte verloren. Beißen, kratzen und schlagen galten als extrem unfair. Wenn es doch mal dazu kam, griffen die Umstehenden sofort in das Kampfgeschehen ein. Kurz an den Haaren ziehen war das Äußerste, was ein halbwegs faires Kampfritual zuließ. Was ich damals nicht wusste und mir auch nicht vorstellen konnte, war, dass ein solcher Kampf nach ganz anderen, unbekannten Regeln ablaufen könnte. Und so nahm das lehrreiche Unglück seinen Lauf.

Die anfängliche Schubserei währte noch nicht lange, als ich urplötzlich mit einem Kinnhaken zu Boden gestreckt wurde. So etwas Unerhörtes kannten wir allesamt nicht. Mit Fäusten ins Gesicht schlagen, so war uns früh beigebracht worden, galt als Verfehlung schlimmster Art. Dass die Jungen aus dem benachbarten Bergbau-Stadtteil von Dorsten offenbar anders „erzogen“ waren und andere Formen und Regeln der Konfliktbewältigung bevorzugten, musste ich nun schmerzlich erfahren. Weil man nachher oft schlauer ist als vorher, fand ich schnell eine Erklärung für mein Desaster: Jugendliche aus Holsterhausen waren damals bekannt dafür, Schlägereien zu provozieren („Was guckst du so?“). Berüchtigt waren die Moped-Rocker, die als fast erwachsene Schläger schon mal auf einem der örtlichen Schützenfeste aufgetaucht waren, um der Landjugend einzuheizen. Außerdem gab es in Holsterhausen einen Box-Club, der junge Menschen auf das wahre Leben vorbereitete. Auf jeden Fall trafen an diesem Tag an der Bookelbecke zwei Kulturen aufeinander: die der proletarischen Bergmanns-Kolonie und die der Bauernschaft Endeln. Ich jedenfalls hatte all das weder theoretisch noch praktisch parat und landete deshalb unsanft auf dem Boden der Wiese.

Als ich nach diesem fulminanten Niederschlag mit blutender Nase zurück ins Leben fand, blieb mir nichts anderes übrig als in das kühlende Wasser der Bookelbecke zu steigen und mir das Blut aus dem Gesicht zu waschen. Ich weiß nicht mehr genau, wie sehr wir Endelner Jungen und die zuschauenden Mädchen von diesem Schlag beeindruckt waren – jedenfalls war ich um einiges klüger geworden und ziemlich peinlich berührt ob der Eindeutigkeit meiner Niederlage. Dies war meine letzte ernsthaft gemeinte körperliche Auseinandersetzung – außerhalb von Fußball und anderen Sportarten. Mit anderen Worten: ich war geläutert und um eine wichtige Erfahrung reicher.

Soweit ich mich erinnere, war das Baden an der Bookelbecke nach diesem Ereignis für mich und meine Kumpels in diesem Jahr zur Geschichte geworden. Wahrscheinlich wollte ich oder wollten wir nicht mehr unbedingt an diesen Ort unserer Niederlage zurück, vermutlich in der Hoffnung, auf diese Weise die Erinnerung daran zu verlieren. Wohl schon im nächsten Sommer konnten und durften wir mit unseren Fahrrädern in das doppelt so weit entfernte, neu eröffnete Freibad in Hervest-Dorsten fahren. In den nächsten Jahren fuhren wir Endelner Kinder dann in kleiner Gruppe an warmen Tagen nur noch in dieses Freibad. Dort habe ich dann auch Schwimmen gelernt. Das Baden an der Bookelbecke war für immer passé. Das Wasser dort war für uns einfach nicht mehr tief genug…

Diese kleine Geschichte aus den Untiefen meiner bewegten Jugend fand ich deshalb erzählenswert, weil nicht auszuschließen ist, dass einzelne Geschwister oder meine Cousinen und Cousins aus Endeln als Augenzeugen dieser lehrreichen Niederlage dabei waren. Für mich war dieses Ereignis eine Lehrstunde: Konflikte mit Fäusten auszutragen, würde nie mehr mein Ding sein. Insoweit hatte dieser Niederschlag für mich eine ausgesprochen zukunftsorientierte Bedeutung, die ich weder missen noch an dieser Stelle verschweigen möchte. Obwohl es doch auf den ersten Blick wie eine schlimme Niederlage ausgesehen hatte.

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