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5. Herr Maus

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Flucht

Seine schmerzende, verbrannte Hand zitterte vor Angst, als er sie vorsichtig aus der Mülltonne mit den Essensabfällen wieder herauszog. Was er für eine tote Ratte gehalten hatte, entpuppte sich im fahlen Licht der Hoflaterne glücklicherweise als die Reste einer alten, bräunlichen Banane, die er mit Heißhunger verzehrte.

Beim Kauen bemühte er sich, kein unbedachtes Geräusch zu machen, was IHN anlocken könnte. ER suchte nach ihm, das war ihm klar.

ER, von dem nur die Augen zu spüren waren. Neugierige Augen, böse Augen, die ihn verfolgten, bei jeder Bewegung, bei jedem Gedanken. Augen die ihn durchdrangen, bis er glaubte, ganz nackt zu sein.

Jetzt suchte ER nach ihm, weil ER auf ihn aufmerksam geworden war, weil ER ihn bemerkt hatte.

Was sollte er nur tun? Er wagte nicht, aus dem Schatten der Mülltonne hervorzukriechen. Der Hof war zwar nur wenig erhellt, dennoch konnte ein geübtes Auge jede Bewegung erkennen.

Er beobachtete die Lichter in den wenigen hofseitigen Fenstern des Wohnblockes, in dem er sich in seiner Not versteckt hielt. Glücklicherweise war die größere Gemeinschaftstonne heute früh geleert worden, so hätte er einen sicheren Schlafplatz heute Nacht.

Er stank nach Schmutz und Urin, aber das störte ihn nicht. Ihn störte der Rhythmus, in dem die Treppenhausbeleuchtung aufflammte und wieder erlosch, wenn jemand den Hausflur betrat. Gewiss wurde er beobachtet und wahrscheinlich gab ER geheime Botschaften zu anderen über die Treppenhauslichter. An - Aus, Pause, Pause, An..., Aus..., An..., Aus..., Pause..., Pause..., Pause..., ein Morsecode, gewiss. Dann flammte in unregelmäßigen Abständen ein Licht in einem höher gelegenen kleinen Toilettenfenster auf, um sich mit den Treppenhauslichtern zu einem weiteren Code zu verbinden.

Er durfte sich nicht verraten!

Vorsichtig suchte er tastend mit den Fingern seiner rechten Hand nach den Knöpfen, die er sorgfältig vor sich aufgereiht hatte, um seine Verfolger abzulenken und nahm sie einer nach dem anderen geräuschlos auf, um sie in die Manteltasche seines verschlissenen Mantels zurückzustecken. Vielleicht würde er sie noch brauchen, wer weiß?

Er lächelte in sich hinein. ER war gewitzt, sein Verfolger, aber er selbst war auch nicht dumm. Er würde IHN mit verschiedenen Maßnahmen in die Irre leiten.

Als Erstes würde er IHN mit einer Geheimbotschaft verwirren. Seine Knöpfe waren ein Teil davon, doch offenbar waren sie nicht gesehen worden.

Das machte aber nichts, besser eine unnötige Maßnahme, als sich überraschen lassen.

ER hatte ihn gesehen! Nur kurz hatte er sich umgewandt, weil die Stimme ihn wieder und wieder beleidigt hatte. Warum ließ die Stimme ihn nicht ihn Ruhe, warum tat sie ihm das an? Er fürchtete die Stimme, er verfluchte sie, es half nichts. Sie verspottete und beschimpfte ihn, sie verfluchte ihn wieder und wieder. Wie oft hatte er vor Verzweiflung geweint?

Zuletzt hatte sie ihn gewarnt, ihn angefleht, ihm zugeflüstert. Im Gespräch mit dem Professor hatte sie ihm befohlen. "Töte ihn, töte ihn oder er wird dich töten!" Er weigerte sich mit aller Kraft, er wollte nicht töten, hatte noch nie getötet. Er war noch immer stark, konnte sich noch immer widersetzen. Wenn sie ihn nur schlafen ließe!

Dann war ER gekommen, von dem er nur den Blick spürte und hatte ihn gesehen. Er war gerannt und gerannt, ohne sich umzusehen. Auch als er über den Zaun stieg, sah er sich nicht um, denn er wusste, dass er IHN anlocken würde mit seinen Blicken. ER war ihm nicht gefolgt, soweit er wusste. Aber sicher würde ER ihn suchen.

Er spürte diese Augen ständig auf sich ruhen, wesenlose Augen, boshafte Augen, verwirrte Augen.

So blieb er, wo er war, hinter der Mülltonne im Schutz der Dunkelheit des Hinterhofes.

Vorsichtig kletterte er in die große Mülltonne, nachdem er den Deckel zurückgeschoben hatte, und legte sich zurecht. Seine geröteten, brandigen Handflächen schmerzten so sehr, dass er sie nicht zu schließen wagte. Dennoch musste er vor Erschöpfung sofort eingeschlafen sein.

Geweckt wurde er durch das entfernte Geräusch einer sich öffnenden Tür. Schritte, die sich näherten. Er war sofort hellwach und versuchte, seinem Versteck zu entkommen, indem er den Deckel des Müllcontainers aufschieben wollte. Zu spät. Er sah durch den schmalen Spalt, den er offen gelassen hatte, eine Männerhand den Griff fassen und der Deckel wurde mit einem Ruck aufgeschoben. Ein Abfallkorb mit Unrat drohte über ihm entleert zu werden. Er sprang auf, um zu fliehen. Ein kurzer erschreckter Laut des Mannes, überrascht, als er schnell aus der Tonne kletterte, ließ ihn einen Moment verharren.

Es war ein junger Mann, nicht unsympathisch, der ihn fassungslos anstarrte und in seiner Bewegung erstarrt war.

"Mein Gott, haben Sie mich erschreckt!"

Er fühlte, wie er erstaunt angeschaut wurde, erstaunt, aber nicht wütend. Das dämpfte seine Angst ein wenig.

"Was machen Sie denn in der Mülltonne?", fragte der Mann.

Er wollte weglaufen, aber irgendetwas im Blick des Mannes tröstete ihn, etwas Bekanntes, aber auch unerträgliches, Mitleid.

Diese Situation kannte er und er schaltete schnell um. Er ließ die Schultern hängen und bemühte sich, ein wenig hilflos zu schauen, als er leise antwortete: "Nix, hab hier geschlafen, entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich geh auch sofort weg. Entschuldigen Sie vielmals."

Er drehte sich langsam um, bewusst langsam, um dann noch einmal mit traurigem Hundeblick zurückzuschauen. Der andere reagierte wie erhofft.

"Warten Sie mal, Sie haben in dieser Mülltonne geschlafen? Haben Sie denn kein Zuhause?"

Herr Maus blickte ihn routiniert traurig an und schüttelte den Kopf.

"Oh mein Gott, na kommen Sie erst mal rein. Sie müssen ja halb erfroren sein!"

Herr Maus zögerte, die Stimme lachte und flüsterte ihm einige beleidigende Worte zu, die er nicht genau verstand. So war es immer, er verstand die Stimme häufig nicht, aber der Ton, in dem sie die Worte sagte, machten ihm deutlich, dass sie ihn einen Abschaum nannte.

Als der junge Mann ihn weiterhin freundlich anblickte, während er den Mülleimer nun doch in die leere Tonne entleerte, da lächelte er sein scheues Lächeln, sein mausgraues, und stammelte: "Na schon, war nicht gerade warm heute Nacht."

Der Mann nahm ihn mit in das Haus, von dem Herr Maus nur die Hofseite kannte. Es stellte sich als ein Studentenwohnheim heraus, mit einer Küche im Souterrain. Da es noch früh war, schien noch kaum jemand wach zu sein. Studenten schlafen lange.

Eine große Gemeinschaftsküche mit vor Schmutz starrenden, an einer Wand aufgereihten kleinen, zweiflammigen Gasherden.

Der junge Mann, der sich als Jürgen vorstellte, Soziologiestudent, fragte ihn nach seinem Namen und lächelte, als er ihn nannte, Martin Maus. Er hasste sich für diesen Namen.

Martin Maus, das Mäuschen, der Doofe, wie sie ihn in der Schule gehänselt hatten, das doofe Mäuschen. Seinen Zorn über die feige Übermacht der Mitschüler hatte er begraben hinter einer Mauer des Schweigens, der Regungslosigkeit, der Empfindungslosigkeit, der gespielten Passivität, wenn sie ihn herumschubsten, ihm nachstellten, um ihn zu quälen.

Sie spielten mit ihm wie Katzen, die ihren Opfern die Beine abbeißen und sich an deren Hilflosigkeit ergötzen, bevor sie sie mit einem Biss erlösten.

Hilfe brauchte er nicht zu erwarten, von niemanden. Er kannte nur das mühsam zurückgehaltene Lächeln der Lehrer, die wütenden Anschuldigungen der Eltern, die ihn eine ›Schande‹ nannten. Das "Wehr dich!" seines Vaters, welches in dessen Ohrfeigen zermahlen wurde wie grobe Kiesel zu Sand.

Von niemandem hatte er etwas zu erwarten. Auch dieser hier würde sich über ihn hermachen, ihn zertreten wie eine Kakerlake, wenn er sich in seinem Mitleid erschöpft hatte.

›Bohr ihm die Augen aus, du Drecksack‹, sagte seine Stimme, die den Klang eines aufsässigen Kindes angenommen hatte. Herr Maus weigerte sich, zuzuhören, was nur weitere wütende Tiraden der Stimme nach sich zog. Er hielt sich die Ohren zu, obwohl er wusste, dass dies nicht helfen würde. Die Stimme zerfraß ihn von innen.

"Ist ihnen nicht gut?", hörte er die besorgte Stimme des Studenten. Glücklicherweise brauchte er nicht zu antworten, da in diesem Moment ein zweiter Student im Morgenmantel und übernächtigt wirkend in die Küche geschlurft kam, einen Moment stutzte, zum riesenhaften Gemeinschaftskühlschrank weiterging und dessen Tür öffnete. Er wischte sich murrend mit dem Handrücken über den Mund, als ihm eine geöffnete Quarkschachtel mit verschimmelten Inhalt vor die Füße fiel, die jemand vorher waghalsig auf mehreren Bierflaschen und halb geöffneten Konservendosen abgelegt haben musste. Ohne sich um den auf den Boden verstreuten Quark zu kümmern ließ er die Tür wieder zuschnappen und setzte sich an den großen Tisch, der den überwiegenden Teil der Küche in Beschlag nahm und griff nach einer Kanne mit kaltem Kaffee, die wohl vom Vortag dort noch stehen musste, ebenso die schmutzige Tasse mit Spuren von rotem Lippenstift, die daneben abgestellt worden war.

"Wer is'n das?", fragte er Jürgen mit einem vieldeutigen Blick in Richtung von Herrn Maus.

"'Nen Penner, hat in der Mülltonne geschlafen!", antwortete dieser und grinste schief.

"Cool", ließ sich der Neue vernehmen, schniefte und schlurfte mit der halbvollen Tasse wieder in Richtung Tür.

Herr Maus folgte dem Dialog nicht wirklich, sondern sein Blick wurde wie magisch von der Quarkpfütze angezogen, die sich vor dem Kühlschrank ausgebreitet hatte. Er sah es gleich, die zwei Augen, die ihn anstarrten. Die Flecken, die zwei größere weiße Kleckse mit den dunklen Kacheln des Fußbodens bildeten, flossen zu böse starrenden Augen zusammen und blickten ihn unverwandt an. Bei genauerer Betrachtung war auch ein Gesicht zu erkennen, ein grobes Gesicht, mit breiter Nase und geöffnetem Mund. Merkwürdige dunkle Linien durchzogen es, die ein labyrinthartiges Muster entstehen ließen, ein feines Netz gesponnen aus fraktalen Strukturen, während sie das Gesicht immer weiter durchzogen, je länger er hinsah. ER beobachtete ihn auch hier, hatte ihn entdeckt! Mit einem kleinen Schrei sprang er auf und drängte sich in eine Ecke der Küche. Der Student, der vorgab Jürgen zu heißen, blickte ihn erschrocken an. "Was haben Sie denn?" Sein Blick folgte dem von Herrn Maus und endete vereint mit seinem Schauen auf dem verschütteten Quark. In diesem Moment veränderte sich die Struktur des Fleckes und nahm in Verbindung mit dem Fußboden ein schachbrettartiges Muster an. "Sauerei", brummte der Student und suchte nach einem Geschirrtuch, welches er auf den Fleck warf, um mit den Fuß darüber zu schrubben. Dann nahm er das schmutzige Tuch vom Boden auf und warf es in die Spüle, wo sich weiteres ungewaschenes Geschirr stapelte. "Wollen Sie sich waschen?", fragte der Student nun und wandte sich wieder um. Doch Herr Maus war bereits verschwunden, entflohen in die schützende Anonymität der erwachenden Stadt.

Er hielt sich immer nahe an den Häuserwänden, damit er nicht auffiel, versuchte nicht zu schnell zu gehen und nicht zu langsam, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Er fürchtete die Blicke anderer Menschen, auch wenn er in der Menge der Passanten meist unsichtbar wurde für IHN.

Als er eine noch qualmende, abgerauchte und achtlos fortgeworfene halbzertretene Zigarettenkippe neben einer Bushaltestelle fand, hob er diese schnell auf und nahm einen hastigen Zug. Die aufglimmende Glut verbrannte ihm den Finger, so ließ er die Kippe schnell wieder fallen. Sie prallte auf dem Boden auf, Funken sprühend und rollte ein wenig zur Seite. Da fragte er sich, ob er den Studenten vielleicht doch getötet hatte? Erschrocken schaute er seine beiden Hände an, als suche er Reste einer Bluttat an ihnen. Sie waren rot und blasig. Wieso hatte der Professor plötzlich da gelegen? Der Geruch von verbranntem Fleisch hatte in der Luft gelegen. Wo sollte er nun hin? Wohin sollte er nun gehen, um die anderen zu warnen?

Herr Maus blieb stehen. Er war sich nicht mehr sicher. Hatte er den Studenten getötet? Hatte er den Professor getötet? Wieder starrte er seine schmerzenden Hände an und verspürte den verzweifelten Drang, sie zu waschen. Schnell steckte er sie in die Manteltaschen. Er war sich nun sicher, dass er getötet hatte. Er musste die Schuld von sich abwaschen, doch wo? Ihm fiel die Küche des Studentenwohnheims ein. Aber sollte er wirklich wieder dorthin zurückgehen? Schon im Umdrehen begriffen zögerte er. Nein, ER würde ihm dort auflauern. Die Stimme tobte wütend in seinem Kopf. Er zwang sich, nicht hinzuhören und ging langsam weiter. Die Herbstblätter auf dem Boden lagen in geordneten Schichten übereinander. Sie formten um seine Füße einen Weg, den er nur nachzugehen brauchte. Er ließ sich von ihnen führen. Er vertraute den Blättern, den traurigen Vorboten des nahenden Todes. Mit gesenktem Kopf, ohne wirklich zu schauen, ließ er sich von ihnen führen. So entstand der Eindruck von Bewegung in ihnen. Es war nicht so, dass er ging, sondern es erschien so, als ob er auf der Stelle verharrte, Schritt, Schritt, Schritt, so dass die Blätter an ihm herzogen, an ihm vorbeiglitten, während sein Blick sich auf nichts Bestimmtes heftete. So bildeten sie einen dahineilenden Fluss unter seinen Füßen, bildeten plötzlich eine räumliche Tiefe, eine vorbeifließende dreidimensionale Form, eine bewegte Architektur von berauschender Schönheit. Er stoppte erst, als die Form plötzlich an einer Straßenkreuzung abbrach. Da blickte er auf und sah das Apothekenschild. Daneben die alte Handschwengelpumpe, die in dieser Stadt liebevoll konserviert wurden, jedoch meistens ohne Funktion waren. Diese hier gab nach mehreren mühsamen Versuchen mit dem Handschwengel unter sich sträubendem Quietschen jedoch einen dünnen Strahl Wasser von sich, der sich auf den Bürgersteig ergoss und in den Rinnstein abfloss. Schnell versuchte er, seine Hände zu säubern, bevor der Wasserstrahl gänzlich versiegte, dann betrat er die Apotheke.

Der Tanz der Bienen

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