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18. Hartmut

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Molly Melone

Hartmut hatte Kristine doch nur zur U-Bahn gebracht, nachdem sie bis spät am Abend Krankenscheine sortiert und Eintragungen überprüft hatten.

Es war nicht so, dass er sie nicht hätte nach Hause begleiten wollen, aber aus irgend einem Impuls heraus hatte sich Kristine plötzlich entschlossen, den Rückweg alleine zu wagen. Zwei Entführungen an einem Tag waren schließlich äußerst unwahrscheinlich. Und außerdem wollte sie Hartmut, der ja schließlich ihr neuer Arbeitgeber sein sollte, nicht allzu sehr mit ihrem chaotischen Privatleben belasten, schon deshalb, weil sie gar nicht wusste, was sie zuhause erwarten würde. Vielleicht war Timmy schon da, die Wohnung ein Chaos oder sie stand weiterhin vor verschlossener Tür. Ihre Mutter in Prenzlau hatte sie telefonisch schon kurz benachrichtigt, dass sie vielleicht heute noch kommen könnte. Die war Kummer gewöhnt und wunderte sich über nichts mehr, schon gar nicht über die Entgleisungen von Timmy und sie hatte es ja schon immer vorausgesehen, dass das nicht gut gehen konnte ohne Mann, so in dem Stil.

Kristine schalt sich selbst einen Dummkopf, dass sie überhaupt angerufen hatte und beschloss schlimmstenfalls lieber einen Schlüsseldienst kommen zu lassen.

Hartmut fragte sicherheitshalber zwei Mal vorsichtig nach, ob es wirklich okay sei, sie jetzt in der Situation allein nach Hause gehen zu lassen, war dann aber ganz froh, dass Kristine nicht beleidigt reagierte und außerdem fühlte er sich müde und ausgelaugt von der ungewohnten Anstrengung, sehnte sich nach seinem gemütlichen Bier und seinem Sessel vor dem Fernseher.

Gegen 9 Uhr hatte er dann die Tür hinter sich zugeschlossen, einen frustrierten Rundgang durch seine Praxiswohnung absolviert, die Lampen ausgeschaltet und sich zum Kühlschrank begeben, um sich sein abendliches Bierchen zu genehmigen. Leider musste er jedoch feststellen, dass ihm von dort nur eisige Leere entgegenschlug, da er offensichtlich auch vergessen hatte einzukaufen. Oder vielmehr, dass die Vorräte, die Martina vorsorglich noch besorgt hatte, nun unbemerkt zur Neige gegangen waren, vor allem biertechnisch. Selbst der mehrmalige Blick unter die Butter konnten das Ergebnis seiner sehnsüchtigen Inspektion nicht verändern.

Er ertappte sich dabei, dass er wohl übermäßig lang Vergleiche zwischen der Leere seines Kühlgerätes und seinem eigenem Leben angestellt haben musste, da das Kühlaggregat plötzlich mit heftigen Vibrationen angefangen hatte zu arbeiten, um den Anstieg der Kühlschrankinnentemperatur wieder auf das erforderliche Niveau herunter zu regulieren. Also schloss er langsam dessen Tür und ging die ihm verbliebenen Alternativen für den heutigen Abend durch.

Ein kurzer Anruf bei Philipp erbrachte, dass dieser heute Nachtdienst hatte und bei mir, dass ich angeblich im Urlaub sei, ach ja, hatte Kristine ja gesagt.

Er ging die übrigen Kontakte durch, mit denen er sich vorstellen konnte, gemeinsam einen Kneipenabend zu verbringen, ließ das Notizbuch jedoch nach kurzer Zeit des unentschlossenen Grübelns wieder sinken und gab sich der Agonie hin.

Immerhin meldete sein Blutalkoholspiegel, welcher derzeit einen Tiefstand erreicht haben musste, dass jetzt, komme was das wolle, das halluzinierte Bier her musste, zumal es vor seinem geistigen Auge die erotische, werbetechnisch optimierte Form eines kühlen Dunklen mit leicht knisternden Schaum angenommen hatte, er stand auf irische Biere.

Nicht, dass er Alkoholiker war, zumindest nicht aktiver, nicht mehr. Seine letzte Langzeitentwöhnung in Lindow war mehrere Jahre her und während der Zeit mit Martina hatte er seine Rückfälle im Wesentlichen unter Kontrolle, meistens jedenfalls. Allerdings gab es offenbar in der Ausklingphase ihrer gemeinsamen Beziehung ein unausgesprochenes Arrangement. Je rarer sich Martina machte, desto besser war der Kühlschrank mit dem dunklen Gerstensaft gefüllt. Eine ungute Komplizenschaft, um das gemeinsam schlechte Gewissen und die Schuldgefühle beider Seiten zu beschwichtigen und vergessen zu machen.

So bestand das Frühstück heute aus den Resten einer nicht ausgetrunkenen Flasche Irish Stout, der letzten, wie er jetzt erkannte, die sein Kühlschrank beherbergt haben musste.

Seufzend erhob er sich aus der Hocke, schnappte sich seinen Mantel, verließ die Wohnung, um in Richtung Molly Melone, einem Irish Pub, zu gehen, wobei er auf dem halben Weg feststellte, dass er vergessen hatte, seine Hausschuhe durch festes Schuhwerk auszutauschen. Wieder war er entschlusslos hin und hergerissen, sich in die ein oder andere Richtung bewegen zu müssen, weg vom ersehnten Ziel und hin zu soliden Schuhwerk oder die schrägen Blicke der anderen Kneipenbesucher zu riskieren, dafür aber früher seinen Durst zu löschen.

Schließlich schlurfte er weiter, er konnte ja versuchen, möglichst unauffällig zu bleiben, sein Bier zu trinken und dann wieder schnell zu gehen.

Das Molly Malone war nicht gerade voll. An der Theke hingen die üblichen Kandidaten rum, der Fernseher über der Eingangstür war lautstark auf den Sportkanal eingeschaltet, an einem Tisch sahen sich ein Männlein und ein Weiblein in die geröteten Augen und lallten sich Liebesschwüre zu.

Hartmut nickte dem Wirt zu, einem kräftigen, rotgesichtigen Iren, was dieser in "Ein Kilkenny, aber groß", übersetzte und ließ sich an einem einsamen Tisch nieder, an dem er sowohl das lallende Liebespärchen als auch den Fernseher und Ausgang im Blick hatte. Die Hauspantoffeln verbarg er vorsichtshalber unter seinem Stuhl, anstatt gemütlich die Beine von sich zu strecken, wie er es gewohnt war.

Kaum hatte der Wirt ihm das Bier mit einem "Zum Wohl" auf den Tisch geknallt, als er es auch bereits halb leerte und sich ein behagliches Gefühl in ihm breitmachte, mit dem er sich sogar die endlosen Versuche der Fußballmannschaft im überdimensionalen Fernseher anschauen konnte, einen Ball ins feindliche Tor zu manövrieren. Ein Unterfangen, dem er im Allgemeinen nur sein gelegentliches Interesse abgewinnen konnte.

Entsprechend abwesend verfolgte er das Geschehen auf dem Bildschirm, während er eigentlich damit beschäftigt war, sich selbst zu bemitleiden. Seine erste Frau, Antje, mit der er keine Kinder hatte, glücklicherweise, brannte nach einem Fehmarnurlaub mit dem Besitzer einer kleinen Segeljacht im "Yachthafen am Südstrand" durch. Nun ja, sie war in der Seeluft geboren, in Bremerhaven nämlich, und nur versehentlich nach Berlin abgedriftet, sozusagen vom Kurs abgekommen und bei ihm kurz angelandet. Sie benötigte männliche Verstärkung an Bord, gewissermaßen. Hartmut wurde von der ganzen Schaukelei auf den Schiffen nur seekrank, was dazu führte, dass er den Seegeltörn für Touristen mit dem Skipper gar nicht erst antrat und in der Folge seine Angetraute die Fahne wechselte. Während er die Maserung der Tischplatte durch Grund des nun leeren Bierglases inspizierte wie durch ein Bullauge eines gesunkenen Schiffes, kam ihm die Heimreise in seinem altersschwachen Mercedes in den Sinn, wo nun auf der ganzen langen Fahrt ein freier Beifahrersitz zu beklagen war.

Über die Gründung seiner ersten Praxis sinnierte er bereits beim zweiten Glase Kilkenny nach, er erinnerte sich nicht, eines bestellt zu haben. Der mitfühlende Wirt musste Mitleid mit ihm bekommen haben und eigenmächtig, oder heißt das selbstsüchtig, fragte er sich, nachgeschenkt haben.

Die hatte er von einem befreundeten Kollegen zu einem weit überhöhten Preis in der Schloßstraße übernommen, der Steglitzer Renommiermeile, seine laufenden Kosten jedoch nicht erwirtschaften können. Schuld waren wohl auch seine mangelnden Führungsfähigkeiten dem angestammten und mitgekauften Personal gegenüber. Dies führte zum Rückzug in die jetzige Wohnpraxis führte, ein nicht ganz koscheres Arrangement, welches durch zwei seiner ehemaligen Patientinnen zustande kam. Einmal einer fürsorglichen Witwe und Besitzerin einer kleinen Villa, die ihn offenbar an Kindes statt und nach Versterben ihres Dackels adoptiert hatte, und eben Martina, die Hartmuts Sehnsucht nach einem umwälzenden Ereignis, welches das Leben von Grund auf umkrempelte, ohne dass man selbst etwas dazu zu tun brauchte, teilte. In der unteren Etage der Villa lebte und arbeitete er nun seit Jahren und Martina, na ja, die war nun eben wieder fort. Scheiße ...

Wann er bereits das dritte Glas halb leer getrunken hatte, wusste er eigentlich gar nicht oder war es gar nicht voll gewesen?

Das Liebespaar war offenbar gegangen, der Gast an der Theke wurde gerade vom Wirt animiert, nicht in den Schankraum zu kotzen und nach draußen befördert. Der Fernseher zeigte zu x-ten Mal die Wiederholung eines gigantischen Torschusses in Superzeitlupe und Hartmut hob mühsam den Blick vom Grund des wieder geleerten Bierglases und winkte dem Wirt. Dieser wischte die Armaturen gerade sauber, weil er Schluss machen wollte und übersetzte die Geste mit "Bitte zahlen!", was nicht ganz das war, was Hartmut wollte.

Dem "Das waren vier Halbe, macht 26,50 Euro" konnte Hartmut zwar mathematisch nicht folgen, zumal ihm das vierte Bier offensichtlich entgangen war, aber das war ja schließlich jetzt auch scheißegal. Mühsam formte seine Zunge die entschuldigenden Worte "Ich hab meine Schuhe wohl vergessen!", als er sich genötigt sah, die Geldbörse, die in seiner Manteltasche an der Garderobe verblieben war zu erreichen und deshalb wohl seine Füße unter dem Stuhl hervorziehen musste.

Der Wirt betrachtete alles mit müder Gelassenheit, Hartmut war ihm nicht unbekannt und wartete geduldig darauf, sich einen 50 Euro Schein aushändigen zu lassen. Immerhin hatte er den Anstand, das gestammelte "Schschschtimmt so!", zu ignorieren und gab Hartmut 20 Euro zurück.

Der ließ sich beim vergeblichen Versuch, den zweiten Ärmel seines Mantels zu finden vom Wirt helfen, um dann auf visualisierter Zielgeraden das Lokal zu verlassen.

Draußen kühlte ihn die Abendluft ein wenig ab, jedoch setzte nun das Gefühl eines erheblichen Druckes auf der

gefüllten Blase ein. Um nicht wieder in innere Diskussionen zu kommen, ob er lieber nochmals in die Kneipe zurückkehren oder schnellstens nach Hause eilen solle, was in seinem gegenwärtigen Zustand einem erheblichen Aufwand gleichgekommen wäre, entschied er sich einfach Gassi zu gehen und an den nächsten Baum zu pinkeln. War ja niemand zu sehen weit und breit. In Ermangelung eines Baumes wurde es dann die nächstbeste Laterne, an der er sich jedoch, um sie nicht zu verfehlen mit dem Kopf abstützen musste, vor allem auch, weil er seine Hausschuhe nicht versehentlich besudeln wollte.

Um so mehr erschrak er, nachdem er sein Geschäft erledigt und seine Kleider sortiert hatte, dass ihm gegenüber ein Penner im Halbschatten stand, der ihn regungslos anschaute. Wie lange der dort gestanden haben mochte, konnte Hartmut nicht sagen, er hatte ihn vorher wirklich nicht bemerkt.

"Was gibt es denn da zu glotzen?", gab Hartmut ungewohnt heftig von sich.

Der Penner reagierte nicht, schaute ihn nur immer weiter an.

"Ey, mach, dass du weiter kommst!", fauchte Hartmut, nun bereits etwas ernüchterter. Er fühlte sich beschämt und verunsichert zugleich.

Doch der Penner, schon auf Metern nach Urin und Dreck stinkend, kam im Gegenteil langsam auf ihn zu. Durch seine runden Brillengläser schaute er Hartmut ruhig an. "Haben Sie nicht gesehen, dass der Himmel aufreißt? Die Welt wird bald untergehen. Sie müssen auf sich aufpassen!"

"Spinner!", gab Hartmut im Umdrehen zurück und torkelte leicht beim Versuch, den Bürgersteig nicht zu verfehlen.

"Spinner!" Nach wenigen Meter drehte er sich nochmals um, schon um sich zu versichern, dass der Penner ihm nicht folgte. Der stand jedoch nach wie vor regungslos im Lichtschein der Laterne und blickte ihm nach.

Hartmut begann zu kichern, "Die Welt geht unter!", blieb stehen, hob den Kopf zum Himmel und sank auf seine Knie. "Die Welt geht unter!" Er war sich nicht sicher ob die Tränen, die ihm die Wangen hinunter liefen, vom Lachen oder Weinen herrührten.

Der Tanz der Bienen

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