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19. Herr Maus

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Geprügelt

Der Hunger trieb ihn, weiter und weiter zu gehen. Er hatte in einer Mülltonne neben einer Wurstbude einige Reste gefunden, doch bevor es ihm gelang, genügend davon zusammen zu klauben, war er unter dem Gespött der Anwesenden von der resoluten Standbesitzerin unter wütenden Schimpftiraden vertrieben worden und so unverrichteter Dinge weiter gezogen. Immerhin hatten sie ihn nicht geschlagen, wie am S-Bahnhof, wo er ebenfalls die Mülleimer nach Essbarem oder Pfandflaschen durchsucht hatte. Dort war nicht etwa der Security gegen seine Anwesenheit handgreiflich vorgegangen, sondern andere Obdachlose, in deren Gebiet er eingedrungen war, das ihnen als eigenes Stammesgebiet galt. Die Stimme hatte gelacht, als er sich unter deren Fußtritten wand, bis sie endlich von ihm abließen.

Die vorbeieilenden Passanten strömten wie auf Schienen montierte ausdruckslose Puppen an ihm vorbei, eifrig bemüht, ihn nicht zu sehen. Er konnte die zart leuchtenden Linien sehen, die sie aneinander ketteten. Merkwürdige Bänder, die sie kreuz und quer verbanden, so wie Marionetten an ihren Schnüren hängen, die achtlos aufgehängt worden waren. Sie dehnten sich oder schrumpften je nachdem, wie weit die jeweilige Person von einer weiteren entfernt war, rissen ab und knüpften sich neu, ein endloses, verwirrendes Spiel. Einige der Passanten waren beladen mit merkwürdigen Auswölbungen aus lichtartigen Anhängen, die wie saugende Blutegel an ihnen pulsierten, meist in der Nackengegend, teilweise als monströse Auswüchse auch am Kopf, am Bauch oder am Unterleib.

Es hatte den Anschein, dass die betroffenen Menschen sich umso schwerfälliger bewegten, ihre Gesichter um so grauer und ausdrucksloser waren, je größer diese Anhängsel wurden.

Manche dieser Gebilde lösten sich plötzlich ab und schwebten davon, wie Quallen in einem Aquarium, andere, meist kleinere Gebilde wirbelten um die Dahineilenden herum, wie in einem Strudel, und blieben gelegentlich haften, um sich dort, wo sie auftrafen, festzukleben und ihr pulsierendes Saugen aufzunehmen.

Niemand der Betroffenen schien irgendetwas davon zu merken, denn alle strömten ohne die geringste Reaktion weiter.

Die Stimme in seinem Kopf war verstummt, als er nahezu bewusstlos und blutend am Boden lag. Sie hatte in der letzten Zeit öfters geschwiegen, länger als je zuvor. Seit er die Risse in der Sonne entdeckt hatte, seit er das Knistern und Brechen gehört hatte, dass um ihn herum war, leise, fast unhörbar, aber stetig. Wie Eiswürfel die schmelzen und dabei zerspringen.

Risse, die auch immer größere Teile des Himmels durchzogen. Die Stimme hatte aus Angst geschwiegen, das wusste Herr Maus und das erfüllte ihn mit Verwunderung und Genugtuung. Sie war doch nicht unbezwingbar. Da gab es etwas, etwas Größeres als sie, etwas das sie fürchtete. So wie die Augen, die ihn verfolgten, ohne selbst sichtbar zu sein. Vielfältige Augen, mit stummen durchdringenden Blicken, prüfend, suchend, interessiert und dennoch unbeteiligt. Alte Augen und jüngere, böse und mitleidige, interessierte und angewiderte Augen. Mörderaugen, Mörderaugen, Mörderaugen.

Sie verfolgten ihn überall hin, ließen sich nicht abschütteln, nicht ausblenden, sahen in seinen Kopf hinein, in sein Gehirn hinein bis es schmerzte. Doch auch ahnungslose Augen, naive, kindische, unwissende, unbeteiligte Augen.

Seit er durch die Glasscherbe einer zerbrochenen braunen Bierflasche geschaut und die Risse in der Sonne entdeckt hatte, war die Stimme leiser geworden, vorsichtiger. Doch die Augen hatten mehr Interesse an ihm gezeigt, waren wacher geworden, präsenter.

Auch die Bienen zogen diese merkwürdigen Fäden hinter sich her, diese Bienen, die überall auftauchten, wo auch er war. Doch ihre Fäden waren geordneter, nicht so wirr wie die der Passanten. Sie glichen eher einem zarten Gewebe, welches sich zwischen ihnen aufspannte, einer Struktur von makeloser Symmetrie und Tiefe.

Ein Mann hatte ihm aufgeholfen, wieder keine Bahnsecurity, die hatten sich nicht blicken lassen. Er hatte ein Papiertaschentuch aus seiner Hosentasche gekramt und ihm vor die blutende Nase gehalten. Der Mann hatte weiche, weiße Fäden um sich herum, die nur kurz nach ihm tasteten und sich zart an die anderen Passanten schmiegten, bevor sie sich wieder lösten. Er hatte ihm aufgeholfen und ihm einen 10-Euro-Schein hingehalten. Als er ihn nicht nahm, steckte er ihn Herrn Maus einfach in die Manteltasche, nahm seine dicke Aktentasche auf, die er neben ihm abgestellt haben musste, und ging davon, ohne sich nochmals umzudrehen. Doch er zog den Faden, der von Herrn Maus ausging und sich an seiner Hand, die die Aktentasche hielt, festgehaftet hatte, wie ein immer länger werdendes Seil hinter sich her, bis es schließlich zu dünn und durchsichtig geworden, nicht mehr wahrnehmbar war.

Herr Maus war weiter gehinkt, der Hunger trieb ihn an, weiter und weiter zu gehen.

Der Tanz der Bienen

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