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20. Bruderschaft

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Judas

"Es ist ein Angriff auf unseren Glauben, auf unsere tiefsten Überzeugungen, Herrschaften!", polterte der Mann in der Mitte der 12-köpfigen Runde. "Und noch mehr ein Versuch, uns einzuschüchtern!" Ein unmerkliches Kopfnicken einiger der Anwesenden begleitete die Worte des Sprechers.

"Jawohl", ertönte es von einem Weiteren der Anwesenden beifällig.

Der Sprecher nickte erfreut, über die Zustimmung, die er gefunden hatte, und das gab ihm den Mut, seine übrigen Vermutungen kundzutun. Denn Vermutungen waren es zweifellos, allerdings bestens geeignet, ihm die nötige Aufmerksamkeit zu garantieren, die er für die bevorstehende Wahl zum zweiten Ältesten benötigte, einem begehrten und einflussreichen Platz, der durch den unerwarteten und grausamen Tod des Bruder Herold nun überraschend frei geworden war. Katastrophen oder Bedrohungen von Außen waren schon immer das geeignetste Mittel der Politik, wenn man von eigenen Schwächen ablenken wollte.

Der Sprecher, der beleibte Bruder Pankratius, wusste sehr wohl, dass er derzeit nicht die Mehrheit der Mitglieder des Bundes "Erasmus von Rotterdam" hinter sich vereinigen konnte. Die Skepsis einiger älterer Mitbrüder aufgrund seiner Herkunft aus der Freimaurerloge "Zu den drei Säulen" stand einem Durchmarsch an die Spitze des Ordens ebenso im Wege wie seine recht kurze Mitgliedschaft von nur 5 Jahren, protegiert und finanziert durch Hintermänner, die er selbst nur andeutungsweise kannte.

Soweit so gut.

Aber wenn er es erst einmal an die Spitze des Ordens und damit in die Schlüsselposition der Macht geschafft hatte, so würde er sich schon von seinen "Gönnern", wie er sie spöttisch bezeichnete, lösen und aller Welt zeigen, wo lang es gehen musste in Staat und Wirtschaft. Er lächelte stumm in sich hinein bei dem Gedanken, wie erstaunt seine "Gönner" über seinen plötzlichen Wandel wären. Oh nein, er war nicht der hirnlose Hampelmann, den man nach belieben einsetzen oder stürzen konnte, die Marionette, die andere im Hintergrund wirkende nach Gutdünken über die politische Bühne bewegen konnten. Er nicht.

Obwohl sich seine Mimik äußerlich um keinen Deut verändert haben konnte, denn er hatte seine Emotionen im Griff, das Ergebnis langer Selbstdisziplinierung, fühlte er sich durch die tiefliegenden stahlgrauen, senilen Augen des Ältesten, die unverwandt auf ihm ruhten, ertappt und zuckte leicht zusammen.

Er blickte zum Großmeister, der nun unvermittelt und energisch das Wort ergriff und die Diskussion beendete.

"Brüder ..., Mitbrüder ...!" Er machte eine kurze Pause, während das allgemeine Gemurmel erstarb, dann hob er beschwörend die Hände. Er wusste, dass alle Anwesenden gespannt darauf waren, zu erfahren, warum sie so kurzfristig zu einem informellen Gespräch eingeladen worden waren, wiedermal außerhalb des üblichen Turnus.

"Für uns alle ..., Mitbrüder ..., bedeutet die neue Situation eine enorme Herausforderung und ...", wieder machte er eine bedeutungsvolle Pause, während derer er im Kreise der Versammelten gewichtig von einem zum anderen schaute. "Sie erfordert mehr denn je ... Disziplin und Charakterstärke um ...!", er hob drohend den Zeigefinger der rechten Hand, " nicht ein Opfer von Selbstsucht und Intrigen zu werden."

Ein erstauntes Raunen ging durch die Versammelten.

Wollte der Großmeister eine Moralpredigt halten?

Unterbrochen wurde das Gemurmel durch das heftige, fast wütende Aufklopfen des Stockes des Ältesten, des ehrwürdigen Bruder Adalbert, auf dem Parkett. Erschrocken wandten sich die Anwesenden um. Eine derartige emotionale Geste hatte es vom Ältesten in der gesamten Zeit, die man erinnern konnte, nie gegeben. Vielleicht wurde er langsam senil.

Auch der Großmeister zog verwundert die Augenbrauen hoch, zögerte einen Moment, wurde jedoch durch die auffordernde Geste der greisen Hand des Ältesten aufgefordert fortzufahren.

"Wir haben durch den beklagenswerten Tod unseres lieben Mitbruders eine ganz besondere Belastungsprobe durchzustehen. Ich sage das nicht nur, weil nun aus unserer Runde ein neuer Aspirant für den Vizegroßmeister gefunden werden muss, und dass schnell, sondern auch, weil über unsere internen Belange hinaus Ereignisse besprochen werden müssen, die von viel weitreichender Bedeutung sein können, als es die interne Postenvergabe darstellt."

"Warum sind denn nicht alle Brüder geladen?", fragte ein Mitbruder in die erneute Stille vorsichtig hinein.

Das stimmt, dachte sich der ehemalige Freimaurer Bruder Pankratius verwundert, der die Diskussion angefacht hatte, nachdem die Rede auf die ungeklärten Hintergründe des Mordes und deren mögliche Ursachen gekommen war.

War das vielleicht ein geschickter Schachzug des Ältesten, den er nicht zu Unrecht hinter dem etwas farblos wirkenden Großmeister vermutete, dessen Schützling dieser ja auch war, um die Wahlen in seinem Sinne zu manipulieren?

Wen würde er als Nachfolger vorschlagen?

Er schaute sich nach den anderen Anwesenden um. Alle waren wesentlich länger im Orden als er selbst, die meisten bereits weit über das Rentenalter hinaus, ein Haufen seniler, handverlesener Männer aus akademischen Berufen oder wichtigen Beratungsinstituten, die graue Eminenz hinter Politik und Wirtschaft und Kirchen.

Da war einmal Bruder Remigius, seines Zeichens emeritierter Geschichts- und Politikwissenschaftler. Es gab wohl keine offizielle Statistik des Institutes für politische Meinungsbildung, die nicht durch seine Hände gegangen war. Ergebnisse, die politisch nicht opportun waren, kamen aus diesem Kreise jedenfalls seines Wissens nie.

Oder Bruder Magelan, der seines Wissens gleichzeitig auch Rosenkreuzer war, mit dem Hang zu mystischen Spekulationen und verschrobenen Ansichten, gleichwohl geschäftstüchtig und idealistisch. Warum eigentlich hatte er keinen Nachteil durch seine Mitgliedschaft bei den Rosenkreuzern?

Und dann Bruder Patrizius, der wohl früher einmal Ordinarius des Heiligen Stuhles in Rom gewesen sein musste, sich auf Religionskritik spezialisiert hatte, je nach Dienstherrn dafür oder dagegen und immer noch über reichliche Verbindungen in diese Richtung verfügte. Diese wurden mitunter genutzt, obwohl der Orden, ausdrücklich der Neutralität in religiösen und politischen Angelegenheiten verpflichtet, keine allzu intensiven Kontakte zu religiösen Organisationen und Verbänden pflegte.

Die benötigte er auch gar nicht, da gerade die langjährige aufrechte und neutrale Haltung des Bruder Adalberts in weltlichen und religiösen Glaubensfragen es war, die dem Orden zu einem so enormen Ansehen verholfen hatte, dass alle erdenklichen Interessengruppen von sich aus den Kontakt zu den Mitgliedern suchten, mit der Bitte um Beratung, der Vermittlung von Kontakten oder immer häufiger, der Vermittlung zwischen den widerstreitenden Interessen konkurrierender Verbände. Der Nachfolger und jetzige Großmeister hatte, obwohl selbst Zögling von Bruder Adalbert, noch lange nicht das Format seines Vorgängers. Er wirkte eher unentschlossen und innerlich weniger gefestigt, verstrahlte nur mit Mühe die Autorität, die Bruder Adalbert ohne jegliche Anstrengung zuteil wurde.

Wieder hob der Großmeister beschwörend die Hände. Er wirkte heute straffer und entschlossener als sonst, so als habe er neue Kräfte gesammelt.

"Ich habe mich mit Bruder Adalbert beraten und mich entschlossen vorerst nur die Brüder zusammen zu rufen, die mit dem Studium und der Entschlüsselung des Siegels unmittelbar beschäftigt sind."

Es trat ein fast greifbares Schweigen ein, die Anspannung der Brüder war mit einem Mal geradezu materiell geworden.

"Die Vorkommnisse um das Siegel, und das betrifft nicht nur den rätselhaften Tod unseres Mitbruders, bedürfen nun endlich der schnellen Klärung und, das betone ich, der konzentrierten Anstrengung aller hier versammelten Mitbrüder. Jeder einzelne von uns ...", wieder blickte er lange in die Gesichter der Anwesenden, " ist mit der Lösung dieses Rätsels überfordert und ... gefährdet!"

Ein allgemeines Räuspern löste die Spannung.

"Mitbrüder", hob der Großmeister wieder an, "das Siegel ist kein Gegenstand, der geeignet erscheint, die persönliche Eitelkeit einzelner zu befriedigen, oder derjenigen, die um der Mehrung ihrer persönlichen Macht auf Kosten der Bruderschaft willen glauben, einen Vorteil aus den Forschungen erlangen zu können!"

"Aber ich bitte Euch, Großmeister, was für eine Unterstellung!", empörte sich Bruder Pankratius direkt, da er sich zum Anwalt der Opposition zum Großmeister auserwählt fühlte. Dies hatte wiederum ein Nicken anderer Anwesender zur Folge, die er nun genau fixierte. Das waren seine Anhänger, die er protegieren musste.

Die Augen des Ältesten bohrten sich immer noch unangenehm in ihn, wie er feststellte, und so zog er es vor, in Deckung zu gehen und zu schweigen.

Auch der Großmeister wandte sich nun an ihn. "Bruder Pankratius. Bei allem gegenseitigem Respekt, wollen wir doch nicht so tun, als wenn uns die unterschiedlichen Motive, die jeden einzelnen von uns bewegen, im Orden seine Aufgabe zu erfüllen, unbekannt wären und als seien die allzu menschlichen Begierden uns fremd, die jeder von uns in sich trägt!"

Er blickte wieder in die erstaunten Gesichter der Anwesenden. So hatten sie ihren Großmeister noch nie reden hören. Einige fühlten sich gemaßregelt, andere eher bestätigt.

"Es war jedoch schon jeher ein Teil unserer Aufgabe und unseres Selbstverständnisses, auch den Kampf gegen die Schattenseite in uns selbst aufzunehmen und den ehrlichen Versuch der Läuterung zu wagen, trotz aller Verführungen, die unser jahrhundertealter Orden mit seinem erheblichen Einfluss in weite gesellschaftliche Kreise in sich birgt."

Er flüsterte fast, als er die nächsten Worte aussprach.

"Brüder, ich gestehe es nur ungern, aber ich beginne mich vor dem Siegel und dessen unheilvollen Wirkungen zu fürchten und flehe euch an, haltet inne und findet wieder zueinander!"

Bruder Pankratius schnaubte hörbar und wütend die angehaltene Luft durch die Nase aus. Was bildete sich dieser Laffe ein, sie wie dumme Schuljungen hier vorzuführen?

Niemals würde er seine Erkenntnisse, so spärlich wie sie auch waren, mit den anderen teilen, niemals! Ein derartiges Phänomen, wie es das Siegel offenbar darstellte, war eine einmalige Chance. Durch die gesamten fünf Jahrhunderte, die der ehrwürdige Orden wohl bestanden haben musste, konnte es keine vergleichbare Chance gegeben haben, nun endgültig die Macht zu ergreifen. Diese Schreiberlinge, die sich Erasmus von Rotterdam verschrieben hatten, der ebenfalls nichts weiter als ein Sesselpfurzer war, der sich einbildete, mit seinem Geschreibsel die Herrscher der damaligen Welt belehren zu müssen. Diese Schreiberlinge erkannten überhaupt nicht, dass sie es hier mit einem Faktotum zu tun hatten, dessen außergewöhnliche Herkunft den Verstand größerer Geister als der hier Anwesenden benötigte. Buchgelehrte ohne Saft und Kraft, die sich an staubigen alten Pergamenten festhielten und glaubten, damit die Welt begreifen zu können!

Immerhin musste er zugeben, dass derzeit mehr offen als gelöst war um das mysteriöse Zeichen. Und so besann er sich schnell, dass er vielleicht ein wenig den Ahnungslosen spielen sollte, um die anderen so weit als möglich auszuforschen.

Soweit er es bislang verstanden hatte, gab es eine Ähnlichkeit der Rückseite des Siegels mit dem Symbol der Rosenkreuzer, der Monas Hieroglyphe, jedoch nicht genug, um dort die Quelle seiner Herkunft zu vermuten. Immerhin konnte dies ein Ansatz sein.

"Was schlagt ihr vor?", meldete sich Bruder Raphael zu Wort, ein eher vorsichtiger, zurückhaltender Bruder, welcher, wie Pankratius wusste, sich der Tradition calvinistischer Schlichtheit verbunden fühlte, die seinen enormen Reichtum, als Herrscher über ein Altenpflegeheim-Imperium, welches sogar börsennotiert war, nicht anzusehen war. Dennoch regierte er mit starker Hand, orientierte sich an moralischen Grundsätzen des Humanismus und hielt sich im Wesentlichen im Hintergrund.

"Wir müssen unsere Kräfte bündeln und unsere Erfahrungen austauschen!", erwiderte der Großmeister.

"Ach", warf nun Bruder Michael ein, ein emeritierter Astrophysiker der Universität Bonn, der die vorurteilsfreie, wissenschaftliche Denkweise kultivierte und im Orden hochhielt.

"Wir haben ja noch gar nichts unternommen, um überhaupt eine Grundlage für unsere Forschungen zu legen. Wir wissen nicht einmal, ob das Siegel sich noch dort befindet, wo es deponiert war."

Zustimmendes Gemurmel war zu vernehmen.

Pankratius hob schweigend die Augenbrauen hoch und zog es vor, sich nicht in die Karten schauen zu lassen.

"Brüder, das ist eben etwas, was ich mit euch besprechen möchte. Ich habe den Eindruck, dass wir alle unser Verhalten unmerklich verändert haben, seit das Siegel in unsere Hände gelangt ist. Es ist wie ...", er suchte mit hilfloser Geste nach Worten, "es ist wie eine Lethargie, die sich über uns gelegt hat. Wo ist unser Forschungseifer geblieben, wo unsere Neugierde? Warum sondern wir uns zunehmend voneinander ab, tauschen uns nicht mehr wie gewohnt aus?"

Ein erstauntes, aber zustimmendes Gemurmel ertönte aus der Runde.

Ein Bruder erhob sich spontan. "Unser Großmeister hat recht. Es ist, als wenn jeder bemüht wäre, einen Schatz zu hüten und vor den anderen zu verbergen. Eine gewisse habgierige Angst scheint jeden von uns ergriffen zu haben."

"Du übertreibst mal wieder, Bruder Valgus", kam es aus anderer Ecke und schon begann ein lebhafter und lautstarker Meinungsaustausch mit Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen.

Der Großmeister blickte hilfesuchend zu Bruder Adalbert hinüber, dieser schüttelte nur unmerklich den Kopf und deutete mit einer kleinen Geste an, die Diskussion zu beenden.

"Mitbrüder, ich bitte Euch. Bewahrt Haltung!", rief der Großmeister gegen den Lärm an.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Tumult gelegt hatte.

"Wir sollten nun erst einmal auseinandergehen und uns besinnen. Bitte teilt mir im Laufe der nächsten Tage mit, wie ihr euch die Weiterarbeit am Siegel vorstellt, damit wir zu einem Ergebnis kommen können."

Lange blieb er später wie erstarrt im Fenster stehen, durch welches das fahle Licht des beginnenden Tages hinein fiel, nachdem die Mitbrüder gegangen waren.

Auf ein scharrendes Geräusch hin, welches ihm sagte, dass Bruder Adalbert sich mühsam aus seinem Sitz erhoben haben musste, drehte er sich um.

"Was

ist nur aus uns geworden, Vater?", fragte er fast tonlos.

Bruder Adalbert schlurfte, sich mühsam auf seinen Stock stützend, auf ihn zu und legte die Greisenhand auf seine Schulter.

"Ich weiß es nicht, Bruder. Es scheint sich alles aufzulösen, die Bande scheinen zu zerbrechen, die wir viele Jahrzehnte geknüpft haben."

"Warum kommen wir nicht mehr zu einem konstruktiven Gespräch?", fragte der Großmeister ins Dunkel des Raumes?

"Im Moment geht es nicht miteinander", erwiderte der Älteste, ohne auf seine Frage einzugehen. "Wir müssen mit jedem einzelnen alleine sprechen!"

"Ein mühsames Unterfangen?", entgegnete der Großmeister.

Bruder Adalbert nickte. "Und nicht ungefährlich, da es Eifersüchteleien Vorschub leistet."

Beide schwiegen eine Weile, dann räusperte sich der Älteste. "Ich habe ein ganz ungutes Gefühl, ja ich möchte sogar sagen, ich beginne Angst zu haben."

Der Großmeister schaute den Alten verwundert an.

Dieser hielt seinem Blick starr auf ihn gerichtet.

"Nicht war?", fragte er ihn dann gerade heraus.

Der Großmeister nickte.

Der Alte hatte sich bereits auf den Weg zur Tür gemacht, als er sich noch einmal umdrehte und zurückrief:

"Lieber Bruder, lass doch bitte einmal prüfen, ob das Siegel sich noch in den Bleikammern befindet. Das hätten wir schon längst tun müssen."

Der Großmeister hob ratlos die Schultern, aber da hatte sich Bruder Adalbert schon abgewandt.

Wen um alles in der Welt konnte er beauftragen, in den sicheren Tod zu gehen?

Der Tanz der Bienen

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