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17. Levi

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Landkarte des Lebens

Ich möchte behaupten, dass jeder Mensch im Kopf eine Landkarte hat. Diese Landkarte ist die Summation aller Orte, die er im Allgemeinen aufsucht, aller Wege, die er benutzt.

Würde ich jeden Tag einen Strich für die Wege ziehen, die ich nehme, und einen Punkt für die Orte, an denen ich mich aufhalte, so würde der Stadtplan eine Verdichtung von Linien aufweisen, die nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Karte ausmachte.

Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, eine solche Landkarte meiner "Fährten" nachzuzeichnen, das war, glaube ich, als meine letzte Ehe in die Brüche gegangen ist.

Die alten Wege waren mir lieb geworden und die Landkarte musste nun neu gezeichnet und ergänzt werden und zwar deshalb, weil dies mit einem Umzug meinerseits verbunden war, was mir nicht sonderlich behagte.

Andererseits bekam das Muster meiner alltäglichen Linien und Punkte wurzelartige Ergänzungen, so wie eine Pflanze, die ihre Wurzelausläufer seitlich ausbreitet, um sich mehr Raum zu verschaffen, um sich diesen zu eigen zu machen. Genauso nahm ich die Stadt, in der ich wohnte, etwas mehr in Besitz, machte sie mir etwas mehr zu eigen, verinnerlichte sie einerseits intensiver und baute andererseits ein unsichtbares Beziehungsnetz weiter aus, zu den Menschen, deren Wege und Punkte sich in der Schnittmenge mit den meinen überkreuzten.

Denn durch die örtliche Veränderung meiner inneren Landkarte kam es notgedrungen auch zeitlich und räumlich zu neuen Begegnungen, aus denen wiederum neue Kontakte erwachsen konnten. Ein kompliziertes mehrdimensionales Gebilde erwuchs mit jedem Schritt, den ich tat.

Während ich so durch die nun nächtlich erleuchtete Innenstadt trottete, immer noch tief in Gedanken versunken, dem mysteriösen Weg des Siegels von meinem Hirn bis auf des Professors Stirn nachsinnend, fiel mir auf, dass ich lediglich Straßen benutzte, die ich bereits kannte, weil ich sie vormals vielfach gegangen war, Plätze aufsuchte, auf denen ich mich zurechtfand, ja und in Gedanken in Gaststätten einkehrte, in denen ich Bekannte wähnte oder wenigstens den Wirt kannte. Wie eine Brieftaube unweigerlich ihren heimatlichen Hort wiederfindet, so lief ich mit der Präzision eines Roboters bekannte Wege ab, blieb an Stellen stehen, an denen ich schon hundertmal gestanden hatte, schaute in Schaufenster, die ich schon tausendfach betrachtet hatte und fühlte mich einsam und verlassen.

Als mir dies bewusst wurde, blieb ich so plötzlich stehen, dass eine hinter mir gehende Person gegen mich prallte und ich fast gestürzt wäre. Als ich mich ärgerlich umdrehte, hörte ich ein, "Ach nee! So een Zufall!", und schaute in Kristines verdutztes Gesicht.

"Hubs, kannst du nicht anklopfen?", fragte ich mehr erfreut als verärgert, denn auch Kristine gehörte zu den bekannten Stellen meiner Landkarte. "Was machst du denn hier?", kam es synchron von ihr und von mir.

"Hm, ehrlich gesagt, weiß ich das selbst nicht so genau!", murmelte ich.

"Ich dachte, du wärst in Urlaub?", fragte Kristine.

"Wer sagt das?"

"Na, dene Anmeldung!", entgegnete Kristine entrüstet. "Nie bist du da, wenn man dich braucht!"

"Bin doch da!", grinste ich.

"Na, nu hab ich die Krankmeldung schon von Hartmut bekommen!"

"Ist es wieder mal so weit?", fragte ich.

Sie seufzte schwer. "Also diesmal ist es besonders schlimm. Aber weeste was, icke bin nicht mehr bei den Bekloppten, ich bin jetzt bei Hartmut angestellt!"

"Wie denn das?", fragte ich erstaunt. "Und was machste denn hier mitten in der Nacht Mutterseelen allein im Kiez? Brauchste Geld?"

"Na hör mal", protestierte Kristine und boxte mir freundschaftlich auf den Arm. "Was hältst du denn von mir?"

Ich fragte sie wieder nicht, ob sie mich heiraten würde, sondern: "Haste nicht Lust auf ein gepflegtes Abendessen?"

Kristine zögerte. "Weißt du, ich bin eigentlich auf dem Weg nach Hause weil ich keinen Schlüssel hab und schauen ob Timmy da ist!"

"Also ja!"

"Nun ja, weiß nicht!"

"Ich fahr dich danach nach Hause", lud ich sie ein, denn ich wusste, dass uns gar keine andere Möglichkeit blieb, der Neugierde wegen und weil ich Kristine kenne.

"Aber nur kurz und nicht viel, aber Hunger habe ich ehrlich gesagt auch. Ich glaub, ich hab heute noch überhaupt nix zu mir genommen, bis auf einen Kaffee bei Hartmut."

"Bis'te auf Diät?"

Wieder seufzte Kristine. "Mir ist der Appetit vergangen, ehrlich!"

"Ist dir ein Psycho an die Wäsche gegangen?", frotzelte ich, merkte aber, dass ich tonfallmäßig mit meiner schnoddrigen Art nun völlig auf dem Holzweg war, als Kristine spontan einige Tränen kamen.

"Sorry!", beschwichtigte ich sie und umfasste ihre Schulter kameradschaftlich.

"So schlimm?"

Kristine nickte nur.

"Timmy macht mich fix und fertig!", heulte sie nun los. "Ich weiß nicht, was ich mit dem Scheißkerl noch machen soll!"

Nun ja, Timmy war ja eigentlich auch der Grund, warum ich Kristine noch nie einen Heiratsantrag gemacht hatte.

"Na komm, lass uns ins Gambrinus, da kannste in dein Bier weiterheulen!", versuchte ich es.

Kristine nickte, denn sie geht gerne ins Gambrinus und ich auch. Erstens ist es die älteste Kneipe im Viertel, ich glaub schon an die 400 Jahre alt, und zweitens gibt es da unkomplizierte Speisen zu einem anständigen Preis, nur das Bier lassen sie sich mit Gold bezahlen.

Besonders mag ich den Geruch, der aus alten hölzernen Wandtafeln, vermischt mit diesem typischen Kneipengeruch herrührt, die gedrechselten, rauchgeschwärzten Säulen, die den massiven, eichernen Deckenbalken eine zusätzliche Stütze geben. Geraucht wird ja nicht mehr, glücklicherweise, aber das Inventar atmet noch heute den kalten Rauch von hunderten von Generationen bierfröhlicher Besucher aus.

Um diese Uhrzeit, es musste knapp vor neune sein, war es noch leicht, einen Platz zu ergattern, ab 23 Uhr konnte man nur noch mühsam in der dritten Reihe stehen, ein Traum für jeden anderen Kneipier.

Wir setzten uns an einen der massiven, runden Eichentische mitten im Schankraum, der einen guten Rundumblick bot. Eigentlich brauchte ich die Speisekarte gar nicht zu studieren, da ich ohnehin immer dasselbe bestellte, aber da sich eine etwas peinliche Sprachlosigkeit eingestellt hatte, nachdem wir uns gesetzt hatten, gab ich vor, die Seiten zu studieren.

"Was willst du denn?", fragte ich Kristine.

"Lädst du mich ein?", bat sie keck. Ich nickte. "Na geht auch nicht anders, ich hab nämlich gar keen Geld dabei!", kicherte sie.

Held rettet hilfloses Mädchen gehört zu meinem Standartprogramm, erfüllt mich mit archaischem Stolz und hatte eben auch einen festen Platz in unserer Freundschaft. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich dabei das Gefühl, dass Kristine mir umso mehr noch einen kleinen Gefallen schuldig war, je größer ihr Dispo bei mir wurde, aber sie sah das wohl anders.

"Nun erzähl mal!", ermunterte ich sie und hörte mir zunehmend fassungslos ihren Bericht an.

Als sie geendet hatte, nur einmal unterbrochen durch die Kellnerin, die die Bestellung aufnahm, schwiegen wir beide betroffen.

Ich sah, dass es ihr nicht gut ging und verzichtete auf meine sarkastischen Einwürfe. "Du meinst, man hat dich kidnappen wollen?"

"Was heißt wollen? Die hatten mich bereits am Wickel, und wenn der Nachbar nicht dazwischen gekommen wäre, wär ich wohl inzwischen in Polen oder unter der Erde!"

"Und du hast keine Ahnung wer und warum?", hakte ich nach.

"Ne, aber es sah ganz so aus, als wenn die auf mich gewartet hätten?"

"Wieso?"

"Na, der Wagen war genau gegenüber unserem Hauseingang gestanden und die Hintertür war bereits offen, als die mich gepackt hatten."

"Meinst du, es war was Sexuelles?", fragte ich.

"Weiß nicht, glaub ich eigentlich nicht, da könnten sie doch was Jüngeres nehmen und außerdem war es am hellichten Tag."

"Das genau finde ich auch ziemlich merkwürdig", grübelte ich. "Meinst du, es hat was mit dem Professor zu tun?"

"Wieso das denn?", entfuhr es ihr.

Ich zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht, war nur so ein Gedanke!"

Wieder breitete sich Schweigen aus.

"Meinst du, es ist gefährlich, wenn ich nach Hause gehe?", fragte sie unsicher.

Ich grübelte nach und sah sie lange an. So hilflos wie sie schaute, weckte sie meinen Beschützerinstinkt, der sich jedoch gefährlich mit dem Gedanken vermischte, dass dies ein guter Vorwand sein könnte, sie zu mir nach Hause zu locken, um dort meinen Begehrlichkeiten nachzugeben. Möglicherweise hatten sich meine Gedanken im Lauftext auf meiner Stirn abgebildet oder ich hatte versehentlich zu lange auf ihren Pullover geschaut, unter dem sich die Rundungen ihrer sehr weiblichen Brüste nur allzu deutlich abzeichneten, jedenfalls errötete sie und schaute weg. Wir schwiegen beide und blickten in entgegengesetzte Richtungen. Das Lokal hatte sich inzwischen weitgehend gefüllt, so dass nun kaum mehr ein Tisch frei war. Trotz der Lautstärke, die durch das vielfache Gebrabbel der Anwesenden angeschwollen war, entging uns nicht der angetrunkene Drogi, der, kaum zur Tür hineingekommen, laut krakehlig die Anwesenden anzupöbeln begann, glücklicherweise jedoch nach kurzer Zeit die Kneipe wieder fluchend und schimpfend verließ. Der Geräuschpegel hatte sich darauf hin etwas gesenkt, einige der Gäste nahe der Tür schienen geschrumpft zu sein oder blickten hilfesuchend oder kopfschüttelnd zur Theke nach dem Wirt. Dieser schien jedoch zu beschäftigt zu sein, um den Zwischenfall überhaupt wahrzunehmen, und außerdem war der Störenfried ja auch schon wieder gegangen.

Nach einer kurzen Pause nahmen wir das Gespräch wieder auf.

"Weiß nicht!", antwortete ich, "auf jeden Fall wäre ich vorsichtig."

"Ich hab ehrlich gesagt ein bisschen Angst nach Hause zu gehen!", nahm Kristine den Faden wieder auf.

"Willst du zu mir kommen?", fragte ich zögernd.

Ein leichtes Rot schoss Kristine über die Wangen. "Ne, lass mal, ich geh besser zu meiner Mutter. Aber ich muss zurück, um nachzusehen. Ich hab ja keinen Schlüssel!"

"Ich fahr dich, dann sehen wir weiter!", warf ich schnell ein. Sie nickte, während ich der Kellnerin winkte. In diesem Augenblick betrat der schmuddelige, zahnlose Drogi wieder lärmend und pöbelnd das Lokal. Er stellte sich in den Eingang, schrie die Gäste nahe der Tür an und kippte fast vornüber auf deren Tisch. Das Gerede der übrigen Gäste verstummte und nahezu alle schauten hinüber, um den Fortgang der Ereignisse zu beobachten. Die zwei Frauen am betroffenen Tisch waren aufgesprungen, weil der Drogi beim Versuch sich wieder aufzurichten ein Glas mitriss, welches laut scheppernd zu Boden fiel. Manche in nächster Nähe Sitzende bemühten sich, so zu tun, als sähen sie nichts, so nach dem Motto, wenn ich nicht gucke, bin ich unsichtbar, andere schauten empört, wieder andere bewegten sich in Richtung Theke. Ich fühlte mich ärgerlich gestört im Gespräch und hin- und hergerissen, Stellung zu beziehen und fürchtete schon, das nächste Opfer werden zu können oder wenn die Situation weiter eskalierte, eingreifen zu müssen.

Plötzlich geschah etwas Merkwürdiges. Ich spürte, wie meine Aufmerksamkeit nachließ, so als sähe ich alles nur im Traum. Alles schien sich weit von mir wegzubewegen. Eine merkwürdige Ruhe breitete sich in mir aus. Gleichzeitig fühlte ich den Impuls, mich zu erheben. Es ging ganz leicht, einfach so. Ich spürte, wie meine Beine sich gewissermaßen von selbst und ohne jede Mühe streckten und mich vom Stuhl erhoben. Aus den Augenwinkeln machte ich eine seltsame Entdeckung. Auch Kristine hatte sich erhoben und nicht nur sie, alle anderen Gäste standen plötzlich auf und blickten den Drogi an. Eine merkwürdige Stille hatte sich im Raum ausgebreitet. Dem Drogi war

die Veränderung nicht entgangen. Er stierte schwankend in den Raum, als versuche er, die Situation mit seinem Resthirn zu ergründen. Er schnappte kurz nach Luft und schaute sich mit geröteten Augen vorsichtig um. Ich fühlte, wie sich mein Körper in Bewegung setzte, ganz ruhig, ohne jegliche Aufregung, ja eine große zufriedene innere Ruhe hatte von mir Besitz ergriffen. Ich bewegte mich langsam auf den Drogi zu. Auch Kristine schien nur ein Ziel im Auge zu haben, auf den Drogi zuzugehen. Und nicht nur sie, alle anderen hatten sich fast gleichzeitig in Bewegung gesetzt und anstatt ängstlicher, gestörter, verschüchterter Gäste sah sich der Drogi mit einer schweigenden Mauer langsam, aber unaufhaltsam auf ihn zuschreitender Menschen konfrontiert. Er rülpste, schwankte, schien nicht zu begreifen, was er sah, drehte sich dann aber mit einem gestammelten "Ach du Scheiße!", auf dem Absatz herum, um das Lokal fluchtartig zu verlassen. In dem Moment fiel der traumartige Zustand plötzlich von mir ab, um einem unendlichen Glücksgefühl Platz zu machen. Ich lächelte Kristine an, die mir ebenso zurücklächelte, was sie noch schöner wirken ließ. Einige Gäste in meiner Nähe lächelten mir ebenfalls zu, während wir uns wie selbstverständlich wieder mit dem Gefühl zu unseren Plätzen zurück begaben, etwas ganz Besonderes verstanden zu haben.

Es war lange recht still im Raum, bevor das allgemeine Gebrabbel wieder anstimmte.

"Was war denn das?", fragte Kristine mich erstaunt.

"Cool!", antwortete ich, dem sich langsam auflösenden Glücksgefühl nachspürend.

Der Zauber war verflogen, ich zahlte und beim Hinausgehen schien Kristine weniger Abstand von mir zu brauchen als beim Hineingehen. Irgendwas hatte sich ereignet, von dem ich nicht begriff, was es war.

Als die frische kühle Abendluft uns auf der Straße entgegenschlug, hatte ich ein Gefühl, als würde ich gerade eine großer Schar enger Freunde verlassen.

Doch mit jedem Schritt entfernte sich das Gefühl, wurde unwirklicher, unbedeutender, bis ich schließlich, als ich uns ein Taxi rief, schon gar nicht mehr daran dachte.

Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war es der erste deutliche Vorbote für die umwälzenden Ereignisse, die darauf hin folgten oder noch folgen werden.

Der Tanz der Bienen

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