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1. Kristine

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Und zwei gute Freunde

Wenige Tage später hätte ich die Geschichte normalerweise wieder vergessen. Nun gut, nicht ganz. Ich fand sie selbst so genial, dass ich sie zwei oder drei Freunden erzählte, denen ich unter Gelächter versichern musste, dass es sich wirklich so zugetragen hatte.

Herr Maus war nämlich wirklich von mir schnurstracks in die Psychiatrie gefahren, mit der BVG, und natürlich dortgeblieben. Diagnose: Schizophrenie. Freiwillige stationäre Aufnahme.

Kein Grund also, noch dran zu denken.

Allerdings wurde der Leiter der Psychiatrie, Herr Prof. Herold, kurze Zeit später in einem Waldstück auf dem Gelände der Psychiatrie mit einem Brandzeichen auf der Stirn tot aufgefunden.

Genau, mit einem frisch in die Stirn eingebrannten Zeichen, und zwar nicht mit einer Zigarette oder so, sondern ganz offensichtlich richtig mittels eines Brandeisens.

Die Polizei stand offenbar vor einem Rätsel, wie der Artikel vermeldete.

Ich erkannte den Professor gleich wieder, auf dem Zeitungsfoto. Als Täter kam ein Patient in Verdacht, mit dem er, ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten, ein Gespräch im Garten der Psychiatrie geführt hatte, eben auf einem Spaziergang durch das Gelände der Psychiatrie und dieser Patient war niemand anderes als Herr Maus, wie ich von Schwester Kristine erfuhr.

Die Mitteilung jedoch, dass Herr Maus offensichtlich der Letzte war, mit dem Prof. Herold Kontakt gehabt hatte, erschütterte mich tief.

Erstens war Herr Herold mein Lehranalytiker gewesen, mit dem ich in meiner eigenen Ausbildung zum psychosomatischen Arzt viele Stunden verbracht hatte, um ihm zu erzählen, welche verwinkelten Gedankengänge und Gefühlsregungen mich in meinem Innersten bewegten.

Das schafft Verbindung, wie zu einem Freund. - Mehr noch, wie zu einem Vater. Sogar zu einem echten Vater - der wirklich mal zuhört. Schon deshalb erschütterte mich diese Nachricht.

Zweitens geht ein Psychiater seit 1920 nicht mehr mit seinen Patienten spazieren.

Und drittens, hätte ich Herrn Maus nicht in dieses seltsame Gespräch verwickelt, so wäre Herr Prof. Herold wohl noch am Leben.

Und dieses Schuldgefühl nagt bis heute an mir.

Herr Maus blieb im Übrigen verschwunden.

Schwester Kristine war schon vor Jahren in meiner eigenen Praxis als Mitarbeiterin tätig, bevor ich mich aus finanziellen Gründen verkleinern musste. Sie wechselte dann auf meine Vermittlung hin als Schwesternhelferin in die geschlossene Männerstation in eben dieser Psychiatrie.

Wir hatten immer noch einen guten Kontakt und außerdem ist Kristine recht hübsch und fröhlich, so dass es Spaß machte, sie ab und an zu besuchen.

Sie hat einen unehelichen Sohn, der ihr jetzt schon über den Kopf gewachsen ist, wörtlich wie bildlich, und eine fixierte Vorstellung von ihrem Traummann, der sich aber einfach nicht in ihrem Leben einstellen möchte. Groß und stattlich muss er sein, Typ Offizier oder so, kantiges Gesicht. Na ja.

Ich suchte Kristine natürlich sofort auf, indem ich während meiner nachmittäglichen Hausbesuchstour einen kleinen Abstecher in der Psychiatrischen Klinik machte. Glücklicherweise hatte sie gerade Spätdienst.

Ich habe immer so ein ungutes Gefühl, wenn ich eine Psychiatrie besuche. Irgendwie kommt mir die Absurdität des menschlichen Lebens besonders deutlich zum Bewusstsein, sobald ich die Treppen zum Hauptportal emporsteige. Meist vorbei an rauchenden, blassgesichtigen Menschen mit verhaltenen Gesten, abwesenden oder durchdringend starrenden Blicken, ungepflegten Haaren und diesen typischen tippelnden Schritten. Das kommt von den Medikamenten.

Ganz schlimm wird es auf der geschlossenen Station. Eine ziemlich massive Eingangstür verwehrt dem Besucher den Zutritt. Auf das Läuten öffnet ein Pfleger oder eine Schwester selbst die Tür. Dann halte ich meist den Atem an. Denn in meiner eigenen Psychiatriezeit war dies genau der Moment, wo der eine oder andere Insasse versucht hat, dem fürsorglichen Zugriff der Medizin zu entweichen, wie ein Fisch dem Netz, in dem er ein Loch findet.

Einer lief im Nachthemd sogar durch die geschlossene Eingangstür in der Haupthalle und die ist aus massiven Glas. Seltsamerweise, ohne Verletzungen davon zu tragen. Zwei Tage später brachte ihn die Polizei wieder zurück. Sie konnten ihn nicht mehr in einer Einzelzelle halten, denn er hatte dort so ziemlich alles demoliert was irgendwie abzureißen, durchzubrechen oder zu zertrümmern war.

Glücklicherweise bekamen sie heraus, dass es ein entwichener Psychiatriepatient war. So konnten sie sich diesen Ärger vom Hals und aus dem eigenen Haus schaffen.

All das ging mir immer wieder durch den Kopf, ebenso wie das Signal, wenn ein renitenter Patient mittels "körperlicher Überzeugung" in die Fixierung ins Bett gebeten werden musste.

Das ging in etwa so:

Ein Patient glaubte sich plötzlich für das Leid der Welt verantwortlich. Er kam beispielsweise von einem Arbeitsversuch auf dem Friedhof zurück und rannte außer sich vor Erregung und Schuldgefühlen in seinem Krankenzimmer auf und ab. Meine Versuche als junger Assistenzarzt, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, scheiterten kläglich. Er konnte weder einsehen, dass die Welt sowieso und an sich schlecht ist, noch verstehen, dass er selbst nicht schuld daran sein konnte, weil ich ja schon Schuld daran war.

Im Gegenteil, meine Versuche, ihn zu beruhigen, führten schließlich dazu, dass er auf mich zusprang und mich zu erwürgen gedachte, was ich in letzter Sekunde verhindern konnte, indem ich ihm recht gab.

Durch diesen Angriff auf eine Respektsperson, die auch ein junger Assistenzarzt darstellt, wurde eben eine Strafmaßnahme zwecks Verabreichung einer anti-psychotischen Spritze notwendig. Auf ein besonderes Codewort hin hatten sich alle Angestellten der Station um den uneinsichtigen Delinquenten zu scharen, ihn in eine Ecke des Krankenhausflures zu treiben und sich auf Signal auf ihn zu stürzen, um den sich heftig Wehrenden in das dafür bereits vorbereitete Bett mit den Arm- und Beinfesseln zu begleiten.

Ich erlebte diese Situation stets in mir und außerhalb von mir, war also agierender und seltsam unbeteiligter Zuschauer zugleich.

Psychiatrie ist so eine Art Spiel. Sag mir deine Sicht der Welt und ich bring dir meine bei. Sobald du die akzeptierst, dann geht es dir besser und du brauchst nicht mehr im Treppenhaus vor den Nachbarn zu masturbieren oder dich durch umgedrehte Stühle fremdstrahliger Beeinflussung zu erwehren.

Bloß, mein eigenes Leben spielte sich eben auch im Irrenhaus ab, Tag für Tag, Stunde für Stunde und als ich das begriff, war der Aufenthalt für mich dort beendet.

Deswegen hatte ich auch einige Skrupel, Kristine dahin zu empfehlen.

Kristine ist aber eher praktisch orientiert, voller Mitleid und auch mit der richtigen Portion Schadenfreude, so dass sie gerne und kichernd die neuesten Anekdoten des Stationsalltags zum Besten gibt.

Ich traf sie gerade dabei, wie sie die Dienstpläne für die nächsten Wochen sichtete.

Sie hatte in der Tat Interessantes zu berichten.

Erst einmal war natürlich der Tod des Professors ohnehin tagelang Gegenstand von Spekulationen in den Gazetten. Insbesondere wegen des Brandmals auf der Stirn.

Es musste frisch eingebrannt worden sein, nicht älter als einige Minuten, aber da muss der Professor noch gelebt haben!

Ein merkwürdiges Zeichen. Wie eine Medaille. Etwa fünf Zentimeter groß und rund, so dass es die ganze Stirn ausfüllte. Herr Herold hatte nur noch wenige Haare und eine typische Stirnglatze.

Darauf konnte man mit etwas Phantasie ein Symbol erkennen: ein Kreis, in dem sich ein Quadrat befindet, das wiederum ein Kreuz enthält.

Ein rätselhaftes Symbol, das mir merkwürdig bekannt vorkam.

Der Gerichtsmediziner vermutet Tod durch Schock, denn weitere Zeichen von Gewalteinwirkung waren nicht zu entdecken.

Kristine wunderte sich aber noch über eine andere Auffälligkeit. Der Professor hatte scheinbar ein ungewöhnliches Interesse für Herrn Maus entwickelt und zwei oder sogar dreimal habe sie mitbekommen, dass er mit Herrn Maus über Lottozahlen redete.

Man stelle sich das einmal vor!

Natürlich konnte sie aus den Bruchstücken, die sie bei den kurzen Begegnungen auf dem Anstaltsflur aufschnappen konnte, nicht mehr als Gesprächsfetzen verstehen. Aber einmal habe sie den Professor ganz deutlich den Satz sagen hören: "Guter Freund, ich bin sicher, dass jede Lottozahl eine Koordinate hat in einem vierdimensionalen Raumzeitgefüge. Die ganzen Wahrscheinlichkeitsberechnungen sind der falsche Ansatz." Worauf Herr Maus nickte, aber schwieg.

Sie habe ihr Tablett mit den Abendpillen für die Patienten fast fallen lassen vor Verwunderung, denn, da sie den beiden nachschaute, übersah sie faktisch einen Abstelltisch für Geschirr und rannte dagegen.

Herr Maus sei von dem fraglichen Spaziergang gar nicht mehr zurückgekommen.

Soweit war ja wohl auch der Stand der Ermittlungen der Polizei.

Wenn ich eins weiß, dann dass Prof. Herold wohl nie Lotto gespielt hat. Er fand es irrational. Nannte es die "Zusatzsteuer für Idioten". Im Übrigen konnte man seine Meinung nur erahnen, da er sich meist in professioneller Zurückhaltung übte, das heißt, ein Spiegel für die Klienten sein wollte. Mit anderen Worten, die ganze Situation erscheint mir völlig abgedreht.

Abends habe ich mit Philipp und Hartmut die ganze Sache nochmals durchgespielt.

Philipp ist ein alter Kumpel von mir, Apotheker, der relativ sachlich an die Dinge rangeht. Hartmut ist als Gynäkologe eher der Bauchmensch.

Ich versuche mal, Teile des Gespräches aus dem Gedächtnis wiederzugeben. Also, nach dem dritten Kilkenny meinte Philipp so in etwa: "Sowieso alles Quatsch. Woher sollte er denn das Brandeisen haben?"

"War's denn ein Brandeisen?", fragte Hartmut und schaute mich an, als wenn ich dabei gewesen wäre.

"In der Zeitung stand, er hatte ein Brandmal auf der Stirn und Kristine bestätigt es", antwortete ich.

"Ach, Kristine muss mal wieder kommen und meine Hemden bügeln", fiel es Philipp dabei ein. Nun lebt der mit zwei Frauen in wilder Liaison, aber keine von denen schafft es, Philipps Hemden zu bügeln und er selbst hat keine Zeit oder kein Talent. Tanzen kann er auch nicht. Kristine aber und bügeln kann die auch. Ich wollte Kristine eigentlich mal mit Philipp verkuppeln, weil die immer noch solo ist, nach ihrer Scheidung, und Philipp war auch nicht richtig unter der Haube. Aber wer nimmt schon eine Frau mit einem pubertierenden Kind, wenn er ganz klar im Kopf ist? Philipp jedenfalls nicht. Dabei ist Kristine recht hübsch und gut gebaut, wie gesagt.

Hartmut hat auch so ein Pech. Er war eine Zeitlang mit seiner Sprechstundenhilfe befreundet. Die erinnerte mich vom Gesicht her an das Modell auf einem Werbefoto einer Kosmetikfirma für Faltenunterspritzung. Wie üblich hatte die Dame auf dem Foto es überhaupt nicht nötig, sich irgendwo unterspritzen zu lassen. Das Foto stand lange Zeit auf meinem Schreibtisch. Das brauche ich schon deshalb, weil ich jeden Tag so viel Elend zu sehen bekomme. Wenn mich wieder mal ein mitleidheischendes Gesicht um eine 7-tägige Krankmeldung bat, dann schaute ich es an und dachte, was für ein Scheißjob das so ist in einer Praxis.

Jedenfalls war Martina, so hieß Hartmuts Freundin, vom Gesicht her fast wie dieses Modell. Jung und schön. Hartmut war schon über fünfzig. Und sein Pech war, dass Martina gerne mit schnellen Motorrädern durch die Gegend gefahren wäre, aber nicht genug Geld verdiente, um sich selbst eins zu kaufen und Hartmut dieser Vorliebe nichts abgewinnen konnte. Außerdem war Martina in Wirklichkeit in einen Waldarbeiter aus Neuseeland verliebt, der ein wirklicher Prolet gewesen sein muss, aber mit Motorrad und ungeheuer männlich. Nur leider ist Neuseeland weit. Hartmut aber war nah, leider ein bisschen wie der Esel I-Ah aus Winnie the Pooh und eben ein Gefühlsmensch mit dem Hang zu Selbstmitleid.

Kurz und gut. Es war seit Kurzem aus zwischen den beiden und Hartmut nicht nur solo, sondern auch seine Hauptkraft in der Praxis los.

"Außerdem ist es nicht einfach, ein Brandmal fachgerecht aufzubrennen", meinte er grübelnd.

"Klar, du brauchst wenigstens ein Kohlebecken, um das Brandeisen heiß zu machen", erklärte ich, an einen Western denkend, den ich vor hundert Jahren mal gesehen habe.

"Nicht unbedingt", entgegnete Philipp. "Ein Lötbrenner tut es auch."

"Aber auf jeden Fall mehr als einen", meinte Hartmut.

"Wieso?", fragte ich.

"Na, würdest du still halten, wenn dir jemand mit einem Brandeisen was auf die Stirn drücken wollte?"

"Branding?", grinste Philipp. "Vielleicht war der Professor pervers?"

"Quatsch!", rief ich entrüstet aus, denn es handelte sich ja nicht um irgendeinen x-beliebigen Professor, sondern um meinen Lehranalytiker. Aber ehrlich gesagt, sicher war ich mir da nicht.

"Wieviel meinst du?", fragte ich Philipp, "müssen denn dabei gewesen sein?"

"Also mindestens zwei."

"Du meinst, Herr Maus hatte einen Verbündeten?"

Philipp zuckte mit den Schultern.

Das glaubte ich nun wieder nicht. Also ein bisschen Menschenkenntnis habe ich nun doch und Herr Maus war eindeutig Schizo. Diese Leute arbeiten nicht in sozialen Verbänden.

Eher besteht ihre Haupttätigkeit darin, sich sozial unbeliebt zu machen. Darüber steht in den Psychiatrielehrbüchern übrigens so gut wie nichts.

Wir waren nach weiteren Kilkennys schließlich zu der Meinung gekommen, dass Herr Maus damit überhaupt nichts zu tun haben konnte. Und ich für meinen Teil wäre auch froh darüber gewesen. Weil, dies hätte gleichzeitig meine Exkulpierung dafür bedeutet, dass ich Herrn Maus zu Prof. Herold geschickt hatte.

Leider gibt es da einen kleinen Umstand, der sich selbst mit 1,2 Promille im Blut nicht wegdiskutieren lässt. Nämlich der, dass mir das Brandmal, das Zeichen auf der Stirn des Professors, durchaus nicht unbekannt war.

Nicht nur das, ich habe den erheblichen Verdacht, dass ich der Urheber eben dieses Zeichens bin!

Der Tanz der Bienen

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