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18. Elfmeter für Bromberger

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Der Kunstrasen zwischen seinen Zehen fühlte sich seltsam an: es kribbelte an seinen Füßen, an denen er gleichzeitig schwitzte. Er stand am Elfmeterpunkt, das Tor vor sich, seine Schuhe lagen daneben und auf dem Kreidepunkt des Strafmals lag ein alter, lasch aufgepumpter Fußball. Er galt als sicherer Elfmeterschütze. Das war in der Schülerauswahl und so lange her, dass er sich kaum noch an die Namen seiner Kickerhelden erinnern konnte. Schatzschneider, Anders, Hayduk, Mileweski, die Fußballstars seiner Jugend gingen ihm durch den Sinn, aber die passenden Gesichter zu den Namen konnte er sich nicht mehr vor Augen rufen.

Die überdimensionierte 100 kW-Photovoltaik-Anlage auf dem Dach des riesigen Tribünenbaus reflektierte die Sonnenstrahlen und blendeten ihn. "Verdammt", dachte er, " das gibt Ärger mit dem Verband. Wegen dieser Scheißtribüne reißen mir jetzt dieselben Leute den Arsch auf, die damals diesen Mist verbockt haben. Die haben jede Menge Dreck am Stecken, aber jetzt spucken sie große Töne."

Ärgerlich nahm er Anlauf und drosch den Ball weit über das Tor. Der flog bis zur Wurfanlage und blieb auf der Tartanbahn liegen. Seinen Vorgänger hatten die Probleme mit der Sportanlage den Job gekostet, die von einem Witzbold in der Lokalzeitung "Millionendusche" getauft wurde. Selten war ein Spottname so zutreffend. Aber wie war es so weit gekommen? Mit seinem Optimismus, was die zukünftigen Erfolge der Fußballmannschaft betraf, hatte der alte Bürgermeister den Stadionneubau schlicht größenwahnsinnig konzipiert. Er war Mitglied im Sozialen Bauernbund, derselben Partei wie Geert Breitholm, der Vorsitzende des Sportvereins, den er schon seit seiner Schulzeit kannte. Gemeinsam waren sie das Duo Infernale, die dieses Projekt gegen die Wand gefahren hatten. Der eine stellte Forderungen auf und der andere setzte diese mit seiner Partei durch. Die Sozialen Bauern, wie sie genannt wurden, regierten schon seit Wendezeiten mit großer Mehrheit und waren ein Sammelbecken von unbelasteten Altkadern der SED und konservativ eingestellten Leuten, deren Interesse in der Lokalpolitik darin bestand, dass alles beim Alten blieb und sie selbst immer oben schwammen. Hier traf man die Entscheidungen noch nach dem guten alten Führerprinzip oder - wenn es nicht anders ging - mittels Entscheid durch alkoholischen K.O. am Tresen des Deutschen Hauses. Manchmal auch beides. Für die Sportanlage bedeutete dies, dass alle zusätzlichen Wünsche in der Gemeindevertretung einfach durchgewunken wurden. Einige Planungsänderungen erreichten die Gemeindevertretung erst gar nicht und wurden auf Sachbearbeiterebene durchgeschoben. Die anderen Parteien, besonders die Freie Wählergemeinschaft, wurden so gut es ging von den Entscheidungen ferngehalten. Der Dorfgrüne, ein sehr passabler Landwirt mit eigener Schlachtung, der ständig in ausgebeulten Cordhosen durch die Gegend lief, wurde konsequent von allen wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen. Nicht etwa weil er als Grüner im politischen Abseits stand, das allein reichte nicht für einen Platz vor der Tür, nein, sondern weil er nicht Mitglied im Fußballverein war. Er war der einzige, der das drohende Finanzfiasko mit der Millionendusche deutlich erkannte und sich dagegen stemmte. Er erdreistete sich, die Fußballabteilung an den Pranger zu stellen und die Fehlentwicklungen klar zu benennen. Zur Belohnung kickte man ihn aus der Dorfgemeinschaft, in deren Schatten er jetzt eine Zuschauerrolle einnahm.

Es war nicht nur die Fußballabteilung, die jegliches Augenmaß verlor. Die anderen Sportabteilungen wurden ebenfalls gierig und stellten hohe Ansprüche, was dazu führte, dass ein zweites Geschoss gebaut werden musste. Irgendjemand plädierte für eine komplette Zehnkampfausstattung für das Sportfeld, aber der Verein hatte gar keine eigene Leichtathletikabteilung. Jetzt besaßen sie die modernste Wurfanlage des ganzen Bezirks, hatten aber keinen einzigen Hammerwerfer. Auf besonderen Wunsch der Tochter des alten Bürgermeisters wurde ein Raum für Jiu Jitsu eingerichtet und dann erst die entsprechende Abteilung gegründet. Bis heute hatte sie genau drei Mitglieder. Der Fitnessbereich kam eher beiläufig hinzu, weil einfach der Platz dafür da war. Später tauchte der Taktikraum auf dem Wunschzettel auf und zum Geburtstag des Präsidenten war auch der fertig. Irgendwann wurde der Bau einfach immer nur vergrößert und am Ende war er drei Mal so lang, doppelt so hoch und acht Mal so teuer wie zu Beginn des Projektes. Zum krönenden Abschluss hatte irgendjemand die glänzende Idee, dem Ganzen ein unter architektonischen Gesichtspunkten exzeptionelles Solardach hinzuzufügen, von dem sich später herausstellte, dass die Spieler geblendet wurden, wenn die Sonne ungünstig stand. Die Sitzung des Gemeinderates, in der der Architekt erklärte, dass es sich dabei um "ein nicht vorhersehbares Risiko" handeln würde und der Dorfgrüne laut lachend zusammenbrach, gehörte zu den Sternstunden kommunaler Lokalpolitik, wie Bromberger sich grinsend erinnerte. Als Ultima Ratio mussten nun Reflexionssegel her, die die Spieler schützen sollten. "Man kann sie ja auch als Werbefläche vermieten" wurde damals in der Gemeindeversammlung gesagt und die Frage des Dorfgrünen "an wen denn?" blieb bis heute unbeantwortet.

Das Fass war erst übergelaufen, als heraus kam, dass die Firma des Schwagers des Bürgermeisters mit der Bauausführung beauftragt wurde - ohne öffentliche Ausschreibung.

"Ein totaler Triumph der Salamitaktik", dachte Bromberger. Erst wurden nur die Erdarbeiten beauftragt, dann der Kunstrasen, später die Tartanbahn, die Sprunganlagen, der Bau der Umkleideräume. Alle Aufträge kamen scheibchenweise. Der Grund war immer der gleiche: Die terminliche Enge, die ein Ausschreibungsverfahren unmöglich machte, da der gesamte Baufortgang dadurch gefährdet würde. Das war das Standardargument für die Verletzung sämtlicher haushaltrechtlicher Regeln. Die Mehrheit der Sozialen Bauern im Gemeinderat segnete alles ab, traf sich später in gelöster Stimmung zum Schlachtfest auf dem Hof des Bauunternehmers und ließ es sich bei Schweinehack, Blasmusik und Bier gut gehen.

Das war das schwere Erbe, das er mit seinem Amtsantritt übernehmen musste. Den Bauvertrag konnte er kündigen, als die Arbeiten in Verzug gerieten. Damit machte er sich den Kern der Sozialen Bauern zum Feind, die felsenfest seit Jahrzehnten hinter seinem Vorgänger standen. Der Landwirt Eulend, der parteiinterne Widersacher des alten Bürgermeisters, war kurz nach dessen Abwahl bei ihm aufgetaucht und hatte ihn überredet, sich als parteiloser Kandidat zur Wahl zu stellen. Anfangs hatte er es als Kompliment aufgefasst und als er tatsächlich gewählt wurde, war er sogar stolz. Aber die Finanzen des Ortes hingen in den Seilen, und vom Geld hing grundsätzlich immer alles ab. Die Sache mit der Millionendusche zog jetzt an ihm wie ein Mühlstein und drohte ihm den Kopf abzureißen. Seit zwei Jahren schlug er sich darüber mit den Vertretern des Finanzausschusses, des Sozialausschusses und des Vereins die Köpfe ein. Nur die stetig wachsenden Steuereinnahmen durch die Zuzügler aus dem Westen hielten den Laden noch über Wasser.

"Wenigstens haben wir hier nicht auch noch Flüchtlinge, um die wir uns kümmern müssen, so wie die Leute in Staffenhagen. Das wäre nicht gut für unser Wachstum!", dachte Bromberger. "Das Wachstum des Ortes - das ist die eigentliche Erfolgsstory meiner Amtszeit! Noch zweihundert Neubürger und wir brauchen eine zusätzliche Grundschulklasse, einen weiteren Kindergarten und rutschen in der Gemeindeeinstufung einen Rang nach oben." "Ländlicher Zentralort" zu werden, das war sein erklärtes Ziel. Ganz klar, ein Aufstieg, genau wie im Fußball. Einen "ländlichen Zentralort" nahm man ernst, ein "Dorf" nicht.

Doch seine Visionen stießen nicht überall auf ungeteilte Begeisterung. Die alten Bauern hatten zwar keine Probleme damit, ihre brach liegende Felder als teures Bauland zu verscherbeln oder die traditionelle Landwirtschaft aufzugeben und auf Ponyhof umzuschulen. Aber dass ihre neue Kundschaft Ansprüche an Komfort, Hygiene und Ambiente stellte, das ging dann doch zu weit. In ihrer Welt stellte man keine Ansprüche. "Der Mist wird alle zwei Wochen abgefahren und basta! So lange stinkt es eben!", dachten die alten Bauern und machten sich insgeheim über die angewiderten Gesichter ihrer überwiegend weiblichen Kunden lustig, deren Geld sie trotzdem gern nahmen und auf deren Ärsche sie glotzten, sobald sie sich umdrehten.

"Ja, so sind sie hier: Borniert, stur und aus Tradition beschränkt." Bromberger dachte an die gestrige Gemeindesitzung zur Kostenexplosion beim Sportplatzgebäude an den Seewiesen.

Der erste und einzige Tagesordnungspunkt war der Bericht der Verwaltung zur Kostenentwicklung und zu den baulichen Veränderungen am Gebäude. Er las sich wie eine Anklage. Viele Vertreter der Sozialen Bauern, die damals an der Planung mitgewirkt hatten, konnten sich plötzlich an nichts mehr erinnern. Im Gegenteil, sie waren nun plötzlich der Meinung, es sei empörend, dass er als neuer Bürgermeister über den ganzen Vorgang nur aus der Zeitung unterrichtet sei. "Wie denn sonst, wenn Ihr die alten Akten nicht auf den Tisch legt!" entgegnete Bromberger, aber das ließen die Gemeindevertreter nicht gelten.

Er konnte ihnen beim besten Willen nicht erklären, weshalb sein Vorgänger einen Bauantrag unterschrieben hatte, dem eine Kostenschätzung zu Grunde lag, die nicht durch den Haushalt gedeckt war. Weshalb dieser Vorgang durch die gleiche Gemeindevertretung abgesegnet worden war, die ihn jetzt anfeindete, ließ sich nur durch ausgeprägte Vetternwirtschaft erklären. Er hatte diesen Satz stehend ausgesprochen und sich weitere Anfeindungen verbeten. Die Anhänger seines Vorgängers fühlten sich angesprochen, jaulten auf wie getretene Hunde und begannen ihn zu hassen. Dabei wehrte er sich nur seiner Haut, im Grunde war er gern Bürgermeister, denn Sündenbock zu sein, könnte ihn die Wiederwahl kosten.

Aus der Not heraus schmiedete er andere Allianzen und erhielt Unterstützung vom politischen Gegner. Die Vertreter von dem Hypothekenhügel, die den Freien Wählern angehörten, hatten seine Haltung gelobt und sich ihm an die Seite gestellt. Zu einer Entscheidung über die Nachfinanzierung war es gestern nicht gekommen, die Freien Wähler forderten detaillierte Akteneinsicht und genaue Kostenpläne. Beinahe kam es zum Aufruhr. "Weshalb eigentlich?", fragte sich der Bürgermeister und fand den Anspruch der Freien Wähler äußerst legitim. Man stritt sich ergebnislos und vertagte sich ohne eine Entscheidung über das Finanzierungspaket. In den mysteriösen Finanzierungskonstruktionen der Millionendusche lag noch Sprengstoff für Jahre.

"All das hier für einen größenwahnsinnigen Bezirksligisten, der gegen den Abstieg kämpft", dachte Bromberger, "ohne Sponsor, ohne Erfolg, ohne Zuschauer." Aber der Gedanke blieb hängen. "Das ist es", durchfuhr es Bromberger. "Wir brauchen den Aufstieg. Und einen Sponsor. Einen großen."

Ihm kam eine Idee. Er unterdrückte seinen Ärger über die miese Gemeindesitzung, sprang über seinen Schatten, holte sein Handy raus und lud Geert Breitholm, den Vereinsvorsitzenden des SV Bahlenbrede zum Grillen ein.

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