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2. Mut zum Flug

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Wulf Lindaus Leben war übersichtlich. Nicht langweilig oder ereignisarm, nein, darüber konnte er sich nicht beklagen. Übersichtlich war es dennoch. Normalerweise. Er arbeitete immerzu, ständig, rund um die Uhr. An den Wochenenden und an den meisten niedrigen Feiertagen. Er kam oft spät nach Hause, nur um zu essen, zu duschen, seine Sachen zu wechseln und zu schlafen. Meist allein, aber wenn er seiner Frau Katharina begegnete, dann gelegentlich auch mit ihr. Anschließend ging er wieder arbeiten. Er war überall zu Hause, in Deutschland, in Europa. Er hatte eine kleine Messebaufirma und war als Inhaber hauptverantwortlich für alle wichtigen Projekte. Er war berufsbedingt polyglott, hielt sich für sattelfest und souverän und behauptete von sich, angstfrei durchs Leben zu gehen.

Aber darin irrte er sich gewaltig, wie er gerade feststellen musste. Denn er balancierte auf der Spitze eines verrosteten schmiedeeisernen Zaunes, kämpfte mit seiner aufkommenden Panik und hielt sich angsterfüllt an einem alten Pfosten fest. Der Zaun unter ihm zitterte und wackelte bei jeder Bewegung. Wenn er den linken Fuß löste, würde sein gesamtes, nicht unerhebliches Gewicht nur auf dem rechten Fuß lasten und der Zaun drohte einseitig einzuknicken. "Scheiße", dachte er, "ich mache mich so was von lächerlich."

"Mach dich nicht lächerlich!", tönte es von der anderen Seite des Zauns. " Na, spring schon, du Feigling!" Seine Frau stand im hüfthohen Gras und machte sich über ihn lustig. Im Gegensatz zu ihm hatte sie keinerlei Probleme bei der Überwindung des Zaunes, im Gegenteil. Er war überrascht, wie geschmeidig sie förmlich über das Hindernis geflogen war. Davon war er meilenweit entfernt. Es bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn und zwei Fliegen umschwirrten seinen Kopf. "Ach, scheiß drauf", sagte er zu sich selbst, nahm seinen letzten Mut zusammen und schwang sein linkes Bein über die Zaunkante. Er stieß sich ab und landete stolpernd im niedrigen Gestrüpp.

"Alle Achtung!", sagte Katharina lachend, während er sich das Hemd abklopfte und dabei versuchte, möglichst unberührt zu gucken. Aber in seinem Inneren kochte es. "Es war ihre Idee", stellte er fest, "ganz allein ihre Idee." Sie hatte ihn hier her gelockt, in seiner wertvollen Freizeit.

"Hoffen wir, dass es sich lohnt", dachte er und bog einen niedrigen Busch zur Seite, um einen besseren Blick auf das Haus zu bekommen.

Sie standen vor einem großen alten Gebäude in rotem Backstein, eingerahmt von zwei stattlichen alten Magnolienbäumen. Der verrostete Zaun mit seiner breiten schmiedeeisernen Pforte erzählte von vergangener Herrlichkeit. Drei breite Granitstufen führten zu einem großzügigen Vorbau, in dessen Innerem eine zweiflügelige massive Eichentür Wind und Wetter trotzte. Über dem Vordach stand ein Schriftzug. "Volksschule Bahlenbrede 1898". Das Gebäude war sicher länger als achtzehn oder zwanzig Meter. Sechs alte Sprossenfenster zeigten zur Straße. Im Schleppdach saßen vier kleine Gauben. Selbst als halbe Ruine besaß das Gebäude noch einen historischen Charme.

"Scheiße", sagte Wulf Lindau und wollte die Eingangstür aufdrücken. Eine verrostete Kette fesselte die beiden Türflügel aneinander. Er schaute nach links und nach rechts, das Dorf schien zu schlafen, niemand war zu sehen. Nur am Ende des Angers in dem hohen Gründerzeithaus stand eine Balkontür offen. Er gab der Tür einen deftigen Tritt, aber die Kette hielt stand.

"Egal", dachte er und schaute an seinem Anzug hinunter. Katharina hatte ihn hier her gelotst. Nun gut, jetzt war er hier, der Anzug ließ sich ersetzen. Das, was einmal ein Vorgarten gewesen war, ging ihm bis zur Hüfte. Es summte und raschelte. An seinen Hosenbeinen klebten Kletten. Er kämpfte sich durch die Macchia der Ginsterbüsche und wilden Brombeersträucher bis er Katharina eingeholt hatte. Sie standen in einem Hof, der hinten an ein offenes Feld grenzte. Der Pausenhof, in dessen Mitte ein mit Efeu überwachsender gemauerter Brunnen stand. Am Ende kauerten niedrige Eichengehölze, zwischen denen das Blau des Sees schimmerte. Ein länglicher Anbau aus roten Ziegeln schob sich weit nach hinten. Oben eine Reihe von Gauben, unten breite Sprossenfenster mit eingeschlagenen Scheiben, die leeren Fensterflügel hingen lose in den Angeln. Blauregen rankte sich die Außenmauern hoch. "Geil!", sagte er zu Katharina und kämpfte sich durch das niedrige Brombeergestrüpp bis zu den offenen Fensterflügeln des Anbaus. Wulf Lindau hörte ein Reißen und er wusste, sein Anzug war Geschichte. Unter seinen Füßen knirschte Glas. Von außen öffnete er einen Fensterriegel und drückte den verzogenen Fensterflügel nach innen. Er zog sich ächzend hoch und rollte sich über den Rahmen in den Innenraum. Das war schmerzhaft, aber er war drinnen. Er beugte sich aus dem Fenster und gab Katharina mit einer Hand Hilfe.

Sie standen in einem alten Klassenzimmer und schreckten eine Taube auf, die sich gurrend verzog und durch ein kaputtes Fenster nach draußen entschwand. Umgestürzte, kaputte Stühle und Bänke lagen wie von wirrer Hand verstreut herum. An den Wänden hatte jemand ausgiebigen Gebrauch von einer Spraydose gemacht und ein Graffiti zum Thema Geschlechtsverkehr dort hinterlassen, wo einmal die Tafel hing. Deren zertrümmerte Reste fanden sich verteilt über den Boden. Es roch feucht, modrig, nach Schimmel. Sie gingen über knirschende Glasscherben in das Haupthaus und ihre Schritte hallten nach in den verlassenen Räumen. Im Haupttrakt gab es noch ein paar unzerstörte Toiletten, in denen die Plastikarmaturen aus den Waschbecken gerissen waren. Es stank. Das Klobecken in der Jungentoilette hatte einen breiten Riss und in der Klopfanne stand ein gelblicher Rand kristalliner Ablagerungen.

Der andere Raum war riesig und ebenfalls ein Klassenzimmer. Halbhoch getäfelte Wände, ein Kamin an der rechten Seite, drei Fenster gingen zur Straße, drei seitlich zum Garten. Die Lehrer mussten dort an der Rückwand zum Garten - oder besser Schulhof - gestanden haben. Im Winter brannte ein Holzfeuer im Kamin. Daneben stand ein überdimensionaler hässlicher Ölradiator, dessen Bedienungsschalter abgeschlagen war. Auch hier war ein Graffitikünstler gewesen, aber anscheinend ein anderer, der in Liebesdingen die romantische Fraktion vertrat. "Laura + Kevin = Never ending Love" stand an der Rückwand. Der Raum hatte ein fantastisches Licht. Der gemauerte Kamin, die ausgetretenen Holzdielen an denen man ablesen konnte, wo die Schulpulte gestanden hatten. Wulf Lindau war begeistert. Katharina zog ihn am Ärmel und sie stiegen die knarzende Holztreppe hinauf ins Dachgeschoss. Die alte Lehrerwohnung, ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer zeigten zur Straße, Küche und Bad gingen zum Schulhof. Wolf Lindau stieg auf einen alten Hocker und schaute aus der Gaube. Am Ende der Fläche, die mal Schulhof gewesen war, standen Sträucher und Eichengehölze. Eine Hecke spendete Schatten an der linken Grundstücksgrenze. Dahinter lag Grasland, aus dem orangerote Holzpflöcke ragten. "Hier wird gebaut", dachte Wulf Lindau. Er sah zwei Pferde beim Grasen auf ihrer Weide. Am rechten Rand der Weide erkannte er hinter niedrigen Birken den Zaun des Sportplatzes. Er öffnete die Tür zum Anbaudach. Ein alter Gymnastikraum. Eine Sprossenwand, die bis zur Decke ging, Turnringe hingen von den Balken. Auf der Außenmauer war ein aufgemaltes Handballtor. Es roch nach Staub, Moder und Taubenmist. Ein Bock und mehrere Turnkästen standen mitten im Raum, fast so als wäre gestern erst die letzte Sportstunde abgehalten worden. Nur die Bettstatt aus Pappe und alten Decken war neu. Hier hatte jemand in Not für einige Zeit ein Dach über dem Kopf gefunden. Auf den Dielen klebten runter gebrannte Kerzenstummel. Klar, hier würde man vom Dorf aus keinen Lichtschein sehen. Wulf Lindau hob eine zerfledderte Zeitung vom Boden. Das Datum war älter als zwei Jahre.

Wulf Lindau stellte sich mit gespreizten Beinen in das Handballtor, die Hände erhoben, bereit, die scharfen Würfe des Gegners abzuwehren. Katharina machte ihm den Gefallen. Sie schritt zum imaginären Sieben-Meter-Punkt, tat so, als hielte sie einen Ball und warf. Wulf Lindau wehrte den Wurf mit einem Reflex ab.

Er grinste. Die Bude war ein Hammer, auch in diesem halbruinösen Zustand.

"Was kostet der Schuppen?", fragte er seine Frau.

"Einhundertzwanzigtausend." Sie drehte sich, ging die Treppe runter und ließ die Zahl einfach so im Raum stehen, wo sie von den Wänden reflektiert wurde und als Nachhall in seinen Ohren hängen blieb. Sie hatte dabei nach unten geblickt, aber er glaubte, beim Rausgehen ein Lächeln in ihren Mundwinkeln entdeckt zu haben.

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