Читать книгу Fanrea Band 3 - A. E. Eiserlo - Страница 11

Ausflug nach Fanrea

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Nachdem Ben Emma das Drachenbuch gezeigt hatte, war es leicht gewesen, sie zu überzeugen. Endlich glaubte sie, dass es ihm körperlich schlecht ging und er unbedingt zu seinem Drachen musste. Für ein paar Stunden würden sie sich nach Fanrea verdrücken. Offiziell verbrachten sie Zeit bei Esther, Henk und Leni. Tatsächlich benutzten sie die alte Eiche, das Tor von Zeit und Raum, um nach Fanrea zu gelangen. Ihre Ankunft hatte Ben per Briefpost durch den Baum angekündigt. Wenn alles reibungslos klappte, empfing Nijano sie am Tor, ansonsten riefe der Reiter ihn per Gedankenkraft.

Ben war voller Vorfreude, zudem total überdreht, Emma eher nicht. Aber sie wollte keine Spielverderberin sein und den Freund auf keinen Fall allein gehen lassen. Dann blieb sie lieber an seiner Seite.

Die einzige Bedingung, die Esther stellte, um bei dem Alibi mitzuspielen: Die Rattenbrüder mussten mit. Deshalb wartete Emma mit Ben, jeder mit einem Rucksack bepackt, vor der Eiche auf die Zwillinge.

Deren Ankunft wurde durch Gegröle und Geschimpfe angekündigt. »Ich bin der weltbeste Spion, ich hab damals Emma gerettet«, prahlte Jidell.

Quidell protestierte: »Nix da, ich hab John gerettet. Ohne mich wäre in Hydraxia alles den Bach runtergegangen, Alter!«

»Unsere Babysitter sind da«, grinste Ben.

»Unüberhörbar!«

Die Ratten schossen um den letzten Baum und purzelten kurz vor den Freunden übereinander.

»Action, Jackson! Was geht ab, Alter?« Jidell stellte sich auf die Hinterbeine und schaute den Jungen an.

»Was ist der eigentliche Plan?«, fragte Quidell. »Was stellen wir an?«

Ben zuckte mit den Schultern. »So, wie Esther es euch erzählt hat.«

»Echt jetzt? Einfach nur nach Fanrea?«

»Echt!«

Jidells Schnurrbarthaare zuckten. »Nur zu ’nem Rundflug und Labern üben nach Fanrea? Eh, voll langweilig, eh!«

»Jep!«, grinste Ben.

Emma konnte sich ebenfalls ein Lächeln nicht verkneifen. »Wie ihr wisst, hat der Krieger schon mal eigenartige Ideen. Ab in die Rucksäcke mit euch!«

Als sie den Baum betraten, nahm das Mädchen Bens Hand und lächelte ihn verschwörerisch an. »Na, dann. Jetzt sind wir wieder Melvin und Maira. Ab zu deinem Drachen!«

Melvin zwinkerte seiner Freundin zu, während er deren Hand drückte. »Let’s go, Kriegerin des Lichts und Bücherwurm!«

Die Reise durch Zeit und Raum hatte für die beiden Freunde den Schrecken verloren, sie wussten, wie diese verlief. Sogar ihre Waffen trugen sie bei der Ankunft.

Liebevoll strich Melvin an der Klinge seines Schwertes entlang, das leicht vibrierte, um ihn zu begrüßen. Fast hätte er sich geschnitten, weshalb er leise durch die Zähne pfiff. »Hi, Kumpel! Schön dich zu sehen! Scharfe Schwerter schneiden sehr. Aber böse Zungen noch viel mehr.*«

Kopfschüttelnd verließ Maira das Tor. »Du bist und bleibst ein Spinner!«

»Wir sind wieder da. Endlich!«, freute sich Melvin, als er aus dem Tor auf die Wiese trat.

»Willkommen!«, dröhnte der Baum ihnen zur Begrüßung entgegen.

In diesem Moment krabbelten die Rattenzwillinge aus den Rucksäcken und stürmten übermütig über die Wiese davon.

»Eh, Alter, cool, endlich daheim!«, schrie Jidell.

Melvin verbeugte sich vor dem hölzernen Wesen. »Na, alter Knabe!«

»Hallo!« Lachend deutete das Mädchen einen Knicks an.

»Du bist erwachsener geworden, junge Dame, Hüterin der Bücher. Du, junger Drachenreiter, muskulöser«, erwiderte der Baum. »Gut, dass ihr Krieger des Lichts mir einen Besuch abstattet! Unerklärliche Dinge geschehen hier. Die Bäume, Vögel und Schmetterlinge berichten mir Seltsames.«

Die Freunde wurden ernst und sahen sich irritiert an.

»Was meinst du damit?«, fragte die Hüterin der Bücher.

Das Rindengesicht verzog sich traurig. »Starke Magie breitet sich aus. Sie ist dunkel.«

Das Mädchen runzelte die Stirn und schaute zum Freund, der sein Schwert fester griff.

»Das brauchst du jetzt nicht, hier ist keine Bedrohung«, beruhigte der Baum. »Gebt trotzdem immer Acht, wenn ihr umherstreift!«

Der Drachenreiter musterte die Umgebung. »Ich werde die Augen offenhalten, Kumpel.«

»Ich möchte mehr darüber wissen. Was sind das für Dinge, die geschehen?«, bohrte die Kriegerin.

»Es sind ihrer viele, und sie kommen von weit her.«

»Wer?« Sie wurde ungeduldig. »Rede nicht so in Rätseln, das ist nervig!«

»Mehr weiß ich doch auch nicht! So haben es einige Vögel berichtet. Zügle deine Ungeduld, Menschenkind!«

»Sind das Aliens? Sind sie böse?«, mischte sich Melvin ein.

Betrübt schaute der Baum zu den Freunden. »Aliens? Kenne ich nicht.«

Die Ankunft von Nijano und Soraya lenkte die Menschenfreunde ab. Die Erde bebte, als die zwei Giganten knapp vor ihnen aufsetzten. Nijano schubste seinen Reiter übermütig mit der Nase um und lachte schallend. Soraya stand kopfschüttelnd daneben.

Schimpfend rappelte Melvin sich wieder auf und klopfte den Staub von der Hose. »He, was ist denn das für eine Begrüßung? Du hast ja immer noch keine Manieren gelernt, du ungehobelter Klotz!«

»Ich freue mich, dich zu sehen! Möchtest du einen Drachenkuss?« Nijano schleuderte eine Feuerfontäne auf Melvin, die dieser lässig umlenkte.

»Wem willst du denn damit imponieren, Kumpel?« Melvin grinste und fuhr in Gedankensprache fort: »Etwa deiner Angebeteten?«

Nijano schnaubte. »Der zu imponieren ist schwer, sie kann alles selbst und macht auch alles selbst! Manchmal sogar besser als ich!«

»Tja, so sind die Frauen heutzutage. Schon gehört? Bei uns sind Männer und Frauen gleichberechtigt. Besonders die Männer*. Das nennt man dann Emanzipation.«

»Emanziwas?

»Emanzipation, Männer und Frauen sind bei uns in der Menschenwelt im Großen und Ganzen eigentlich gleichberechtigt. Die Betonung liegt auf eigentlich. Dazu gibt es Gesetze und Quoten und…«

»Reicht! Ihr habt vielleicht Probleme …« Verwirrt runzelte der Drache die Stirn. »Ich bleibe lieber in Fanrea.«

»Ich am liebsten …«

»Sag mal, könnt ihr eure Unterhaltung auch laut führen?«, beschwerte sich die Kriegerin.

»Äh … ja.« Melvin konnte das Lachen kaum verkneifen, Emanzipation war eines von Mairas Lieblingsthemen. Gut, dass sie das Gespräch nicht mitbekommen hatte!

»Worüber habt ihr denn geredet?« Skeptisch schaute das Mädchen zu Nijano und Melvin.

»Über Emanzi-irgendwas.« Der Drache setzte einen unschuldigen Blick auf.

»Etwa über Emanzipation?« Die Kriegerin straffte die Schultern und musterte Melvin mit hochgezogenen Augenbrauen.

Der zuckte die Schultern. »Nix Schlimmes, hab meinem Drachen nur was erklärt.«

»Iss klar! Kann mir schon denken, was!«

»Kommt, genug gelabert, fliegen wir lieber ’ne Runde.« Melvin sprang auf den Grüngeschuppten und schaute auffordernd zu der Kriegerin und Soraya.

Mit einem strengen Blick fixierte Nijano seine Gefährtin, die ungern jemanden auf ihren Rücken ließ – außer John.

Die Drachin schaute traurig zu dem Mädchen. »Wo ist mein Reiter? John fehlt mir!« Die Stimme klang vorwurfsvoll.

»Auf der Erde.« Maira musterte ihre Schuhe und verzog missmutig den Mund.

»Habt ihr Streit?«

»Nö! Aber er ist für ungewisse Zeit weggegangen.«

»Das verstehe ich nicht! Kannst du mir das erklären?«

»Ja, aber bitte erspar mir das jetzt!«

»Hm!« Soraya schnaubte. »Du bist zwar nicht meine Reiterin, doch wegen John lasse ich dich ausnahmsweise auf den Rücken. Steig auf und press die Schenkel fest gegen meinen Körper. Aber pass auf, dass du Teck nicht zerquetschst, er schläft in der Satteltasche!«

»Unser kleiner Dichter ist mit euch unterwegs?«

»Ja, er schimpft den ganzen Tag mit uns, aber ohne uns möchte er auch nicht mehr sein. Ehrlich gesagt, ich würde ihn vermissen, wenn er nicht dabei wäre.«

Melvin pfiff einmal laut auf zwei Fingern und rief nach den Ratten, die balgend heranstürmten. »Ab in die Rucksäcke!«, befahl er, und die Brüder krabbelten eilig hinein.

Als die Giganten abhoben, juchzte Melvin vor Begeisterung. Endlich spürte er wieder dieses Gefühl von Grenzenlosigkeit, Freiheit und Frieden. Melvin schmiegte sich eng an den Nacken seines Drachen, fühlte die Schuppen an Oberschenkeln und Haut. Versinken wollte er in diesem Tier, eins mit ihm werden. Zärtlich betastete der Junge eine der Schuppen. Sogleich kribbelten die Fingerspitzen, als flösse leichter Strom hindurch. Es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl von Nähe und Verbundenheit, das er gerade empfand.

»Geht mir genauso«, hörte er die Stimme des Drachen im Kopf.

»Was geht dir genauso?«

»Dieses Glücksgefühl, das du spürst, habe ich auch.«

»Echt? Fühlst du meine Gefühle?«, fragte Melvin erstaunt.

»Ja! Du hast mir gefehlt, es ging mir schlecht. Ich war so traurig ohne dich, manchmal hat mein Herz richtig geschmerzt.«

»Dasselbe hatte ich auch! Ich bin froh, bei dir zu sein!« Der Junge tätschelte Nijanos Hals.

»Ich möchte mit dir eine neue Fähigkeit trainieren.«

Neugierig fragte Melvin: »Schieß los! Was denn?«

»Nafgaard. Das bedeutet, dass sich der Geist des Reiters mit dem seines Drachen verbindet. Du erhältst meine Sinne.«

»Davon habe ich vor kurzem erst in meinem Drachenbuch gelesen! Wie soll das gehen?«

Nijano schnaufte durch die Nüstern. »Es ist nicht schwer, aber du musst dich sehr konzentrieren! Ich werde dir dabei helfen. Öffne deinen Geist!«

»Witzbold! Gibt es hier eine Klappe, die ich aufsperren kann?«

Das Lachen des Drachen dröhnte durch die Luft. Es fühlte sich an, als würde diese leicht vibrieren. »Ernsthaft, Melvin, gib dir Mühe!«

»Sei nicht so streng mit mir! Ich bin hier, um ein bisschen Spaß zu haben!«

»Der kommt, das verspreche ich dir! Schließ die Augen! Wenn du mit mir verbunden bist, öffne sie wieder!«

Melvin gehorchte. Es fiel ihm zunächst schwer, alles auszublenden, was ihm so viel Freude bereitete, um stattdessen nur bei sich zu bleiben. Er dachte an das, was Osane ihn gelehrt hatte. Über die Atmung gelang es ihm nach und nach, alles Störende zu verdrängen.

Dann geschah es: Drachenfeuer breitete sich in seinem Bauch aus, das bis in den Geist stieg. Lodernde Flammen, der Geruch nach Rauch, Asche und Feuer, pulsierende Energie in jedem Muskel. Ein pochendes Herz. Drachenherz. Gleichklang der Herzen. Fremdartige Gefühle durchströmten den Jungen. Unbändige Wildheit, Liebe und Zorn, Trauer und Einsamkeit. Freiheitsdrang, gewaltige Urkraft, unbekannte Sehnsucht. Tiefe Empfindungen, die nicht zu den eigenen gehörten. Ein Strom aus Gefühlen vereinte sich mit den seinen, wurde zu einem glühenden Fluss.

Als Melvin die Augen öffnete, waren dessen Sinne geschärft. Er sah tatsächlich deutliche Linien im Boden unter sich, die er zu deuten wusste. Als ob er nun einen Röntgenblick besäße, der die Erdkruste durchbohrte. Die Linien wiesen unbekannte Wege und spiegelten gleichzeitig Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Weitere unsichtbare Pfade offenbarten ihm geheimes Wissen vom Anbeginn der Zeit. So viel, dass der menschliche Geist es nicht erfassen konnte. Dann entdeckte der Junge das Leben in der Erde, die als lebendiges Wesen selbst pulsierte, atmete, fühlte.

Die Erde nahm einen Geschmack an, der ihm schwer auf der Zunge lag. Moosig, würzig, mineralisch. Die Luft, die ihn umgab, schmeckte fedrig, rein, kühl. Die Augen registrierten Farben, die Melvin bisher noch niemals gesehen hatte, für die er nicht einmal Namen kannte. Er empfand es wie eine unendliche Explosion von Sinneseindrücken im Kopf. Fast wurde es ihm zu viel. Der Reiter stöhnte.

»Sollen wir abbrechen?« Kaum wahrnehmbar durchdrangen Nijanos Worte seinen Geist.

»Nein!« Mehr brachte Melvin nicht zustande. »Nicht aufhören!« Angestrengt lenkte er den Blick in die Ferne und sah so weit, wie er es nicht mal mit einem Fernglas hinbekäme. Als er wieder in die Tiefe zum Boden schaute, entdeckte der Reiter eine Maus, die unter einem Laubhaufen Schutz suchte, ebenso eine Schlange, die der fliehenden Beute nachsetzte. Als Melvin sich auf sein Gehör konzentrierte, hörte er das Knistern der trockenen Blätter und das Gleiten der Schlange durchs Gras. Das Säuseln des Windes, flüsternde Blätter, summende Insekten, krächzende Raben, krabbelnde Käfer. Der Atem der Erde. Einzelne Wassertropfen, die von Blatt zu Blatt perlten. Zu viele Geräusche stürmten seinen Kopf, stöhnend hielt Melvin mit den Händen die Ohren zu.

»Blend es aus, wenn es zu viel wird! Steuer selbst, wieviel du zulassen möchtest!«, drang Nijanos Stimme zu Melvin durch.

Melvin konzentrierte sich auf den Hörsinn und fuhr ihn zurück bis auf ein erträgliches Maß.

»Jetzt fühl meinen Körper!«

Melvin wurde zu Nijano. Er spürte die geballte Kraft der Muskeln, das gewaltige, regelmäßig schlagende Herz. Flügel, deren Lederhäute durch Wind glitten, Luftwirbel, die sich darauf bildeten. Die Feuerbrunst im Inneren, die glühte und brodelte. Der Menschenjunge löste sich auf, wurde zu einem Drachen, empfand wie ein Drache. Erinnerungen überspülten den Reiter, Empfindungen flossen durch ihn hindurch. Jahrhundertealte Weisheit überrollte seinen Verstand und drohte, ihn zu zerreißen.

»Beende die Verbindung!«

Melvin reagierte nicht.

»Melvin! Es wird zu viel, du musst dich von mir lösen!«

»Nein!«

»Doch! Es zerreißt dich sonst!«

Nur widerwillig gehorchte der Junge und löste die Vereinigung. Als er wieder er selbst war, erfasste ihn Schwindel. Er empfand Verwirrung. Die Hände zitterten, das Hemd klebte schweißnass am Körper. Müdigkeit überfiel ihn. Die Augen fielen zu. Kraftlosigkeit erfasste den Reiter. Im Kopf wirbelte ein Orkan aus Gedanken, der Melvin vergessen ließ, wer er war.

Nijano bekam Angst um seinen Freund. »Reiß dich zusammen! Du bist Melvin! Trink was! Ich gebe dir Kraft.«

Mit einer fahrigen Bewegung griff der Reiter nach einer Flasche, die im Rucksack steckte und schüttete den Inhalt gierig in den Mund. Kaum hatte er sie weggepackt, flutete ihn Energie, durchströmte sämtliche Poren des Körpers. Nijano spendete ihm die versprochene Kraft, sodass Melvins Lebensgeister erwachten. »Mensch, Nijano, das ist krass! Voll krass!«

»Nafgaard! Es war jetzt endlich an der Zeit, dass wir es trainieren. Je öfter wir das üben, umso einfacher wird es für dich und laugt dich nicht mehr aus.«

»Na hoffentlich! Hab mich gefühlt, wie von dir gefressen und wieder ausgekotzt. Wie hast du mich so schnell fit gekriegt?«

»Macht und Magie wachsen mit dem Alter, es fällt mir immer leichter, Kraft zu schenken oder zu heilen.«

»Nafgaard macht irgendwie süchtig. Ich würde mich am liebsten sofort erneut mit dir verbinden.«

»Übertreib es nicht! Es ist nicht ungefährlich! Du könntest dich selbst dabei verlieren. Wir werden das langsam angehen.«

»Hm!«

Um Melvin auf andere Gedanken zu bringen, schlug der Drache vor: »Lust auf Action?«

Aber der Junge zögerte, war in Gedanken. »Weiß nicht.«

Überraschend machte Nijano mit dem Körper einen Schlenker. »Also, wenn du runterfällst, bist du selbst schuld!«

»Ich halte mich wohl besser fest!«

»Kann man so sagen!«

Melvin krallte die Hände um die Schuppen. »Denk dran, ich habe weder Sattel noch Zügel und bin nirgendwo eingeklinkt!«

»Du kriegst das auch so hin!« Schon ging Nijano in einen senkrechten Sturzflug über, um dann einen Salto anzuschließen.

Adrenalin schoss durch Melvins Körper. Er presste die Schenkel so fest gegen den Drachenkörper, dass es schmerzte. Beim dritten Salto konnte Melvin sich nicht mehr halten und verlor den Kontakt zum Drachen. Der Junge fiel ins Bodenlose.

Erschrocken schrie Maira auf, ihr Herz raste. »Soraya, tu was!« Mit blankem Entsetzen sah sie ihren Freund durch die Luft stürzen.

Da schoss Nijano in wildem Tempo hinter Melvin her, packte ihn mit den Krallen und warf ihn auf seinen Rücken.

»Mensch, das war schon wieder krass!«, brüllte der Junge und lachte lauthals.

»Die beiden spinnen!«, schimpfte das Mädchen, das hinter Nijano mit Soraya herflog.

»Da gebe ich dir recht«, stimmte Soraya zu. »Männer sind schon ziemlich bekloppt!«

Kopfschüttelnd verfolgte das Mädchen die waghalsigen Flugmanöver der beiden Kerle. Um sich abzulenken, betrachtete es schließlich Soraya. Dieses Mal war genug Zeit, den Flug mit allen Sinnen zu erfassen. Damals, bei dem waghalsigen Ritt auf Bernsteinauge, flutete Panik den Kopf, doch den zweiten Flug ihres Lebens empfand Maira ganz anders. Ihr Blick glitt über grüngoldene Schuppen, die in der Sonne glänzten. Zögerlich strichen die Hände darüber, fühlten, wie die Muskeln der Drachin unter ihr arbeiteten. Das Mädchen begann zu ahnen, welche Kraft in ihnen lag. Die mächtigen, fledermausartigen Schwingen bewegten sich im gleichmäßigen Rhythmus auf und ab. Maira staunte, dass diese filigranen Flügel den massigen Körper trugen. Der Kopf erschien riesig und erinnerte an einen Dinosaurierschädel. Es war unfassbar, dass sie auf diesem fantastischen Wesen saß und hoch über Fanrea durch die Luft flog. Ein wenig verstand sie nun Melvins und Johns Faszination.

Als die gewaltigen Wesen auf einem der hohen schneebedeckten Berggipfel landeten, stiegen die Freunde vom Rücken der Drachen. Da fiel Maira wieder das Gespräch mit dem Baum ein. »Wir hatten eben ein rätselhaftes Gespräch mit dem Weltentor-Baum. Er sagte, es bahnt sich etwas an, was mit starker Magie zu tun hat. Wisst ihr etwas darüber?«

Soraya schnaufte. »Ja und nein! Bäume und Vögel flüstern über Magier von weit her, ich selbst habe noch nichts gemerkt.«

»Das kann nicht sein!« Maira schüttelte den Kopf.

Melvin baute sich vor Nijano auf. »Kumpel, denk mal nach, was hat es damit auf sich?«

»Keine Ahnung!« Der Drache pustete seinem Reiter spaßeshalber ins Gesicht.

In diesem Moment krabbelte ein verschlafen aussehender Teck aus der Satteltasche und rieb sich mit seinen Pfoten die Augen. Zunächst verwundert, die beiden Krieger des Lichts zu entdecken, strahlte der pelzige Kerl dann übers ganze putzige Gesicht. »Halli, hallo, da bin ich aber froh! Zwei Kinder aus der Menschenwelt treffen auf Teck, den Held!«

»Teck, wie schön, dich zu sehen!«, lächelte Melvin. Seit dem Flug über die Gonorawüste war ihm das Eichhörnchen ans Herz gewachsen.

»Wo ihr seid, da wartet das Abenteuer, wann muss ich erlegen das nächste Ungeheuer?«

Maira kicherte. »Du hast dich nicht verändert!«

»Warum sollte ich anders sein, hübsches Mädelein? Ändern liegt mir völlig fern, bin doch toll, bis in den Kern!«

Soraya verdrehte die Augen. »Ich möchte noch was zu der Frage eben sagen. Mir ist wohl etwas aufgefallen: Ich habe starke Energien wahrgenommen.«

»Kannst du das genauer erklären?«, hakte Melvin nach.

»Nicht richtig. Irgendwann mal bin ich allein auf der Jagd gewesen und hab mich weit von Zuhause entfernt. Ich flog damals sehr hoch über den Bergen, aber plötzlich war da eine eisige Energie. So kalt, wie ich noch nie etwas zuvor gespürt habe. Es hörte ganz abrupt wieder auf. Ein anderes Mal fühlte ich mich beobachtet, aber da war nichts, außer diesem Gefühl und …, hm, Energie. Ich kann es nicht beschreiben!«

»Schade!« Melvin zuckte mit den Schultern. »Sollen wir der Sache auf den Grund gehen, Maira?«

»Jetzt ganz sicher nicht! Wir wollten eine Runde fliegen, du die Gedankensprache üben und das war’s!«

»Aber wo wir schon mal gerade hier …«

»Nein! Die Drachen können Meldung im Trainingslager machen!«

»Wenn die Lady da sagt nein, wird alles erstickt im Keim!« Teck zuckte mit den Schultern und hob die Pfoten in einer hoffnungslosen Geste. »Doch kein Abenteuer – es ist der Heldin nicht geheuer.«

Maira zog eine Schnute und sah Melvin an. »Ich will eben nicht ständig Stress haben, und mit dir gelangt man unweigerlich in Kämpfe.«

»Okay, okay, ist ja gut!« Melvin legte den Arm um seine Freundin. »Ich bin froh, dass du überhaupt mitgekommen bist.«

Nijano schaltete sich ein: »Ich habe mir mit Soraya überlegt … also es ist mit ihr so abgesprochen, und sie hat zugestimmt …«

»Komm zu Potte, Nijano!«, grinste Melvin.

»Soraya fliegt mit dir weg, und du versuchst, mit mir in Gedanken zu reden.«

»Gute Idee!« Melvin verbeugte sich vor Soraya. »Lady, sehr erfreut! Ich bin mir der Ehre bewusst, da ich ja weiß, dass du nicht gern jemanden auf dir trägst!« Mit Schwung sprang er auf den Rücken der Drachin, die sogleich abhob, während Nijano bei Maira, Teck und den Ratten blieb.

»Du bist ganz schön verliebt, oder?« Versonnen musterte Maira den Jungdrachen.

»Frauen bringen ’ne Menge Ärger ein, manchmal bleibt man besser allein«, murmelte Teck und fing sich einen missbilligenden Blick von Maira ein.

Der Drache brummte: »Ja, klar bin ich verliebt, aber ich verstehe Soraya nicht immer. Frauen sind schrecklich kompliziert!«

»Du kannst dich ja jetzt mit Melvin über Frauen unterhalten und dabei die Gedankensprache üben.«

»Na, viel Ahnung hat der auch nicht!«

»Ich aber! Weißt du, was Mädchen mögen?«

»Nein!«

»War auch nur eine rhetorische Frage. Also: Wir wollen Aufmerksamkeit, wir wünschen uns, dass die Jungen uns zuhören und sich merken, was wir ihnen sagen. Wir wollen lachen mit euch, ihr sollt unsere Beschützer sein, stark, aber trotzdem romantisch. Ihr sollt auf unsere Wünsche eingehen, aber trotzdem keine schlappen Waschlappen sein …«

»Puh, also wir sollen alles sein und gleichzeitig nichts. Ich sag ja, ihr seid kompliziert! Ich will nur Bauch voll, schlafen, wann ich will, und eine Höhle voller Diamanten.«

»Wozu brauchst du dann ein Mädchen?«

»Äh …, na ja, schon irgendwie … so für’s Herz oder so.«

Maira kicherte und schüttelte den Kopf. »Lass gut sein, fang an zu üben! Ich bin jetzt still.«

Teck sprang auf Mairas Schoss. »Küsse verwirren den Geist, Männer machen dann Dummheiten meist.«

Völlig durcheinander durch das Gespräch konzentrierte Nijano sich nun auf seinen Reiter. »Melvin, alles gut bei euch? Benimmt Soraya sich?«

»Alles bestens. Sie fliegt nicht so wild wie du.«

»Ich kann das besser, sag ich ja immer!«

»Das habe ich damit nicht gemeint. Sie macht nicht so wilde Kapriolen. Wir sind schon ganz schön weit weg, fliegen Richtung Meer und ich kann dich…«

»Melvin, hier stimmt was nicht!«, brüllte Soraya in diesem Moment gegen den Wind.

»Wie meinst du das?«, schrie Melvin zurück.

»Was ist los, warum redest du nicht weiter?«, wollte Nijano wissen.

»Sei still!«

»Energie, hier ist eine starke Energie!« Sorayas Stimme hörte sich besorgt an.

»Sollen wir umkehren?« Melvin vertraute auf Sorayas Instinkte.

»Ja!«

»Was ist los? Antworte, Melvin!«, mischte sich Nijano ein.

»Ich weiß nicht, irgendetwas …«

Mit einem Mal traf die Drachin eine gewaltige Energiewelle, die sie durch die Luft wirbelte. Unvorbereitet und nicht angeschnallt wurde Melvin vom Rücken geschleudert. Im freien Fall stürzte er der Erde entgegen, während Soraya über ihm trudelte.

»Melvin! Melde dich!«, schrie Nijano in Gedanken.

Nichts.

»Melvin!«

»Ich falle, ich sterbe! Nijano, komm und hilf mir, ich hab Angst!«

»Neeeiiin!«

Erregt sprang Nijano auf. »Maira! Soraya und Melvin sind in Gefahr! Wir fliegen hinterher!«

Sie zögerte keine Sekunde, sondern bestieg eilig Nijanos Rücken. Sogleich hob der Drache ab.

Indessen versuchte Soraya, sich wieder zu stabilisieren. Als es ihr endlich gelang, schoss sie Melvin hinterher. In letzter Sekunde, bevor er auf dem Boden zerschmetterte, ergriff sie ihn mit ihren Krallen.

Ächzend und sehr blass hing er in den Klauen, sein Herz raste. »Das war knapp!«, flüsterte der Krieger und dachte an seinen Absturz mit Ilian – damals. Das hatte ihm als schlimmes Erlebnis für den Rest des Lebens gereicht.

Soraya flog eine Schleife und hielt ihn fest. Dabei beschleunigte sie, um aus der Gefahrenzone zu gelangen. Unvermittelt spürte die Drachin klirrende Kälte, die sich im Nu auf die Schuppen legte und das Atmen schwer machte. Solch ein eisiges Gefühl kannte sie schon. Die Feuchtigkeit in der Luft legte sich als Raureif auf ihrem Körper nieder und ließ die Augen schmerzen. »Menschenjunge, fühlst du das auch?«

Nur ein Röcheln gelang ihm. Das Blut floss langsamer durch die Adern, schien zu Kristallen zu gefrieren. Augen und Nase taten weh. Die Gliedmaßen ließen sich kaum mehr bewegen. Dem Jungen schwindelte. Müdigkeit legte sich auf seinen Geist.

Mit großer Willensanstrengung rief Soraya das Feuer in sich. Die innere Hitze kämpfte gegen die äußere Kälte, bäumte sich auf, brodelte. Mit einem Schrei befreite die Drachin die Glut, spie rotgelbe Flammen auf den Drachenreiter.

»Melvin! Melde dich!«

Der badete im Flammenmeer. Ein gequältes Stöhnen entrang sich seiner Brust, als er langsam auftaute. »Was ist geschehen?«

»Ich weiß es nicht! Es macht mir Angst!«

»Du fürchtest dich? Du mächtiges Wesen?«

Soraya schnaubte. »Auch Drachen kennen Furcht! Wir müssen wissen, was hier vorgeht!«

Melvins Herz beruhigte sich langsam wieder. »Alles okay, Nijano! Soraya hat mich gerettet.«

»Was war denn los?«

»Ich weiß es nicht, ein Energiestoß. Dann der Kältetod.«

»Hä? Ich bin unterwegs zu euch!«

Der Drachenreiter kletterte an Sorayas Bein nach oben. »Aber wie willst du herausfinden, was uns bedroht?«

»Keine Ahnung, mal sehen! Gemeinsam mit Nijano. Schau, da ist er!«

Als die Drachen einander gegenseitig in der Ferne wahrnahmen, durchströmte sie Erleichterung. Nach der Landung fielen Maira und Melvin sich in die Arme.

»Was ist passiert?«, fragte Maira atemlos.

Keiner konnten sich einen Reim darauf machen, was eben geschehen war.

»Der Baum hat auch von Energien gesprochen. Hier ist etwas im Gang, etwas Bedrohliches!« Melvin runzelte die Stirn. »Wir sollten der Sache nachgehen!«

»Ganz sicher nicht! Wir reisen gleich nach Hause, Ende des Trainings! Unser kleiner Ausflug sollte kein Abenteuer werden.« Mit blitzenden Augen baute sich Maira vor dem Freund auf.

»Ist ja gut, wir kehren zur Erde zurück.«

»Jetzt schon? Nein!« Nijano schaute enttäuscht.

Melvin zuckte mit den Schultern. »Weißt du, Maira hat es nicht so mit Abenteuern. Ich will keinen Streit mit ihr!«

»Das verstehe ich. Geht mir mit Soraya genauso.«

»Würdest du mir einen Gefallen tun?«

»Immer!«

»Kannst du was über meine leiblichen Eltern herausfinden? Ich habe dir doch mal erzählt und auch geschrieben, was es mit ihnen auf sich hat.«

»Ja, Glenn hat den Postboten gespielt und mir alles vorgelesen. Was soll ich tun?«

»Versuch in die Erinnerungen von Songragan einzudringen, finde dort etwas über die beiden heraus! Er weiß bestimmt etwas.«

»Mach ich, wenn ich ihn sehen sollte! Versprochen! Ich hoffe, das klappt!«

»Ihr redet in Gedanken miteinander«, murrte Maira.

»Ja, sollen wir ja auch üben«, grinste Melvin. Dann wandte er sich an Nijano: »Fliegt uns bitte zurück zum Tor!«

»Eh, der Ausflug war viel zu kurz!«, meckerte Quidell.

»Wollt ihr hierbleiben?«, bot Maira an.

»Nö, hier gibt es kein weiches Bett, keinen Kuchen mit Sahne und Kakao von Esther«, wehrte Jidell ab.

Quidell schüttelte aufgeregt den Kopf. »Mir fehlen hier die Streicheleinheiten und das Kuscheln mit Leni. Nix da, wir sind zu verweichlicht für Fanrea. Echte Weicheier und Warmduscher sind wir geworden! Ein Kurzurlaub genügt.«

»Na, da seid ihr euch ja ausnahmsweise mal einig«, schmunzelte Melvin.

Teck putzte sein Fell. »Hoffentlich seid ihr bald wieder da, die Erde ist ja nah. Ohne euch ist es langweilig hier, wir könnten trinken mal ein schnelles Bier.«

Maira konnte ihr Lachen nicht unterdrücken. »Teck, du bist total durchgeknallt, aber ich hab dich trotzdem lieb!«

»Ach, wie peinlich ist denn das? Liebe von der Lady im Übermaß!«

Melvin wurde ernst. »Teck, du musst im Trainingslager Meldung machen und von diesem Vorfall berichten! Hier stimmt was ganz und gar nicht! Am besten, du erzählst auch Magnus davon! Kann ich mich auf dich verlassen?«

»Aber klar doch, erledige ich heute noch!« Das Eichhörnchen warf sich in die Brust.

»So schnell bist du gar nicht, du Angeber«, grinste der Reiter.

»Da kennst du Teck aber schlecht, ich bin ein flinker Hecht.«

Der Abschied am Weltentor fiel Melvin und Nijano schwer, sie hätten gern mehr Zeit miteinander verbracht. In dem Menschenjungen klang noch die Vereinigung durch Nafgaard nach. Er legte eine Hand auf die weichen Nüstern. »Du wirst mir fehlen, mein Freund!«

»Du mir auch!«

Seufzend lehnte Melvin den Kopf an den schuppigen Hals, spürte die Energie, die durch den gewaltigen Körper floss, verband ein letztes Mal seinen Herzschlag mit dem des Drachen. Eine Weile pochten die zwei im Gleichklang. Zu gern hätte Melvin sich noch einmal in die tiefe Verbindung zu seinem Drachen begeben. Stattdessen trat er einen Schritt zurück und tätschelte den Kopf. »Freunde für immer!«

»Freunde für immer!« Nijanos Blick blieb traurig.

Soraya und Teck warteten mit ihm, bis das Weltentor die Freunde samt Ratten verschluckt hatte.

»Ich bin weg, schnell wie der Blitz, glaubt mir, das ist kein Witz.« Teck machte eine galante Verbeugung und schwang sich in den nächsten Baum.

»Und? Geht es dir jetzt besser?«, fragte Soraya, während sie Teck hinterher sah. »Bei mir fangen die Symptome schleichend an, ich beginne, John zu vermissen! Zum Glück ist unsere Verbindung noch nicht so gefestigt, sonst würde ich jetzt wahrscheinlich auch richtig schlimm leiden.«

»Mir geht es wieder gut. Endlich! Die Trauer im Herzen schmerzt nicht mehr, ich bin zufrieden! Stell dir vor, ich habe mit Melvin Nafgaard geübt!«

»Oh! Hat es gut geklappt?«

»Es war sehr anstrengend für Melvin. Aber er gibt zum Glück nicht schnell auf, sondern beißt sich durch. Er ist ein tapferer Kämpfer!« Stolz klang in Nijanos Stimme mit.

»Ja, das ist er!« Ein trauriger Zug huschte über Sorayas Gesicht. Der Name ihres Reiters pochte eindringlich im Kopf. Im Herzen machte Sehnsucht sich breit.

»He!« Nijano stupste Soraya mit den Nüstern an und schnaufte leise. »Sei nicht so traurig! John leidet auch. Er wird zu dir kommen!«

»Hoffentlich!«

Fanrea Band 3

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