Читать книгу Fanrea Band 3 - A. E. Eiserlo - Страница 3
Vor Weihnachten
ОглавлениеEine dicke Schneedecke lag über dem Land. Beim Ausatmen bildeten sich weiße Wölkchen vor Bens Gesicht. Er joggte in gleichmäßigem Tempo und genoss die kühle Luft auf der Haut sowie die Stille, die ihn umhüllte. Nur das Knirschen seiner Schritte auf dem frisch gefallenen Schnee durchbrach das Schweigen der Welt. Eine bizarre, weiße Landschaft umgab den Jungen. Der Nebel der vergangenen Nacht hatte sich auf die Äste der Bäume gelegt, wo er mit ihnen zu ungewöhnlichen Eisskulpturen verschmolz.
Tief in Gedanken versunken ließ der Drachenreiter das vergangene Jahr Revue passieren und all die Dinge, die ihm widerfahren waren. Bald stand der Jahreswechsel an, und damit wurde es Zeit, Resümee zu ziehen. Alles in allem fühlte Ben Zufriedenheit in sich. Doch die Gedanken kreisten darum, ob er das Schicksal verändern konnte, indem er Entscheidungen traf. Oder stand alles von Geburt an fest, sodass er nur wie eine Marionette agierte? Ging er einen vorgezeichneten Weg, der einem übergeordneten Plan entsprach? Was wäre geschehen, wenn ihn die leiblichen Eltern nicht zur Adoption freigegeben hätten? Wäre er dann vielleicht so böse geworden wie sein verstorbener Bruder Richard? Der Drachenreiter bezweifelte, dass er jemals Antworten auf all diese Fragen erhielte.
Vor kurzem hatte er den fünfzehnten Geburtstag gefeiert. Ihm gefielen die Veränderungen des letzten Jahres, trotz der großen Gefahren, die damit einhergingen. Seit er in Fanrea zu einem Krieger des Lichts und Drachenreiter wurde, war er im Einklang mit sich selbst. Neue Freunde, denen er bedingungslos vertraute, bereicherten nun sein Leben. Das bedeutete Ben sehr viel!
So langsam konnte er nachvollziehen, was die Blumenelfe Amapola damals meinte, als sie sagte, Krankheit könnte auch ein Geschenk sein. Durch die ihn bedrohende Blindheit musste er die Reise nach Fanrea antreten und dort lernen, dass Körper, Geist und Seele eine Einheit bilden. Krankheit als Hilfeschrei der Seele, um den Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass in dessen Leben etwas nicht stimmte. Bei ihm selbst war es die quälende Eifersucht auf seinen Bruder Mattes gewesen, die ihn für die Liebe der Eltern blind machte. Glücklicherweise gelang es ihm, diese negativen Gefühle erfolgreich zu bekämpfen.
Bens neue Sicht aufs Leben hatte sich weiterentwickelt, sodass seine Augen heilten. Was ihn selbst betraf, verstand er das mit der Krankheit und dem Geschenk. Aber woraus bestand das Geschenk für Kinder, die viel zu früh starben? Oder für hungernde Menschen in Kriegsgebieten? Amapola versuchte immer wieder, es ihm zu erklären, aber sein Verstand konnte das leider nicht begreifen.
Zielgerichtet lenkte Ben seine Schritte in den Wald, behielt das schnelle Tempo weiter bei. Erst bei der alten Eiche, dem Tor von Zeit und Raum, hielt er an. Tief atmete er ein und aus, während kleine Schweißtropfen sich auf Stirn sowie Oberlippe bildeten, die er gedankenverloren wegwischte. Dann sah er sich vorsichtig um, lauschte intensiv in jede Richtung. Niemand schien in der Nähe zu sein. Somit kniete der Drachenreiter nieder, griff in die Tasche des Sweatshirts und zog einen inzwischen etwas zerknitterten Briefumschlag heraus. Leise murmelte Ben ein paar Worte.
Die Eiche verdrehte sich knirschend, sodass die Rinde eine kleine Spalte freigab.
In diesen Schlitz steckte er den Brief, flüsterte dabei ein weiteres Mal. In Gedanken ging der Junge mit der Nachricht auf Wanderschaft in die andere Welt, die er so liebte. Vor allem an seinen Drachen dachte er mit großer Wehmut.
Knarzend drehte der Baum den Stamm in die Ausgangsposition zurück, sodass das Loch sich verschloss. Weg war der Brief!
»Trara, die Post ist da!*«, schmunzelte Ben und stand auf. Von Zeit zu Zeit hatte er in den letzten Wochen seinen Freunden in Fanrea Briefe geschrieben, die entweder von der Teichmeise Kiki oder Teck in Empfang genommen und verteilt wurden. Die zwei übernahmen den Postdienst. Manchmal erhielt der Krieger des Lichts auch einen Brief zurück, meistens von Glenn geschrieben, doch heute leider nicht.
Der Schnee knirschte, als der Junge sich umdrehte. Er klopfte Eiskristalle von den Knien und trabte leichtfüßig davon in Richtung Tante Esther. An ihrem Haus angekommen, benutzte er den Türklopfer in Form eines Drachenkopfes. Fips’ aufgeregtes Kläffen drang durch die winterliche Stille, kurz darauf öffnete Esther die Tür. Der Mischlingsrüde sprang an Ben hoch, freute sich, ihn zu sehen.
»Eh Alter, wo kommst du denn her?« Jidell, die Ratte, schoss um die Ecke und hechtete auf den Arm.
»Du bist ein Verrückter! Du musst mich mit Respekt behandeln, ich bin ein Krieger des Lichts!«
»Yolo, Krieger! Ein Pubertier bist du! Alles klar?«
»Sag mal, woher habt ihr eigentlich eure Ausdrücke?«
Quidell fiel von der Eingangslampe auf die Schulter des Neuankömmlings. »Wir sind Rumtreiber! Wir lieben Hinterhöfe, Kneipen, Muckibuden, aber vor allem Schulhöfe. Du glaubst nicht, was die Kids sich alles für Sprüche um die Ohren hauen! Außerdem finden wir dort in den Mülleimern was Leckeres zu essen.«
Jidell krabbelte an den blonden strubbeligen Haaren hoch. »Genau. Die Kids werfen oft ihre Schulbrote weg, weil die Mütter sie mit gesunden Sachen belegen, und wir fressen einfach alles. Sogar die mit Salat!«
Tante Esther schüttelte den Kopf. »Als würdet ihr bei mir verhungern! Ihr müsst doch keinen Müll essen!« Sie nahm den Drachenreiter in die Arme, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Schön, dich zu sehen, mein Junge! Hier sind alle schon wach und sitzen in der Küche. Trink einen Kakao oder Tee mit uns!«
»Gibt’s auch was zu essen? Ich habe riesigen Hunger vom Joggen.«
»Das hast du immer! Bist du jemals mit knurrendem Magen von hier nach Hause gegangen?«
Ben grinste. »Nee, noch nie!« Er folgte ihr in die Küche und freute sich, seine Freunde dort zu sehen: Henk, Leni, Samuel.
In gemütlicher Runde saßen die drei am Küchentisch, aßen selbstgebackenen Apfelkuchen zum Frühstück und tranken dazu dampfenden Kakao mit dick Schlagsahne obendrauf. Esther brach gern Regeln, sie pfiff darauf, was andere Leute zum Frühstück aßen.
Für einen kurzen Moment schmerzte der Anblick Sams. Die Erinnerung an den Kampf bei Angar und der damit verbundene Verlust des Bruders tat Ben noch manchmal weh. Doch einige Dinge ließen sich nicht ändern, die mussten hingenommen werden. Sein Blick suchte Nala. »Wo ist meine Prinzessin?«
Samuel zeigte nach oben. »Deine Herzensdame duscht.«
Die beiden Fanreaner Sam und Nala wohnten erst seit ein paar Tagen bei Esther, die Sehnsucht hatte sie zu ihren Freunden getrieben. Da Magor gerade im Alleingang unterwegs war, konnte er sie für eine Woche entbehren.
Leni fiel dem Neuankömmling um den Hals, Samuel knuffte ihn in die Seite und Henk stand gut gelaunt auf, um einen Kakao zu besorgen. Naserümpfend schaute Ben in die beiden Töpfe, die auf dem Ofen standen, und schnupperte. »Was ist denn das schon wieder für eine Matsche?«
Esther hob den Finger: »Matsche? Ich leg dich übers Knie! Das eine ist Ingwer* mit Zitronensaft und Wasser, ein wunderbares Wintergetränk. Ingwer hilft bei allen Symptomen einer Erkältung, stärkt zudem die Abwehrkräfte. Das andere ist Hirsebrei, sehr gesund, enthält viele Mineralstoffe, ebenso Spurenelemente. Die sind gut für Haare, Haut und Fingernägel …«
»Bitte, Mama, hör auf! Du verdirbst Ben noch ganz den Appetit!«
Ben grinste: »Genau, Leni hat recht! Ich trink lieber den Kakao von Henk und esse einen Kuchen mit fett Sahne.«
Die Rattenbrüder stürmten prügelnd in die Küche. Jidell grölte: »Wir wollen auch Kuchen mit Sahne!«
»Eh Alter, denk dran: Der Fresssack ist da! Jetzt müssen wir uns beeilen, sonst lässt der uns nix mehr übrig!«
Die Ratten sprangen auf Lenis Schoß, kräuselten dort abwartend die Nasen. Der Ofen verbreitete gemütliche Wärme. Seit Henk bei Esther wohnte, war es sogar möglich, einen Platz auf der Bank zu finden, ohne erst Bücher oder Kräuter beiseite räumen zu müssen.
Ben setzte sich mit seinem Kakao zwischen Leni und Sam, um sein Stück Kuchen dort zu essen.
Die beiden Nager stürzten gierig zu ihren Portionen und schmatzten vor Glück. Zwischendurch rülpste Jidell ebenso laut wie zufrieden.
Versonnen nuschelte Quidell: »Lecker!« Dann patschte er mit einer Pfote in den großen Sahnetopf, dass es spritzte, und schleckte anschließend die Pfote ab.
»Quidell, benimm dich!«, schimpfte Esther. Mit einem Tuch wischte sie Sahnekleckse vom Tisch.
Kauend fragte Ben: »Was steht an? Gibt’s was Neues?«
Den Ratten einen strengen Blick zuwerfend, nickte Esther. »Ich hab Post aus Frankreich bekommen – von Agatha. Sie erzählt vom Erntedankfest, die Weinernte ist super gelaufen. Sidney weilte auch dort. Er hat Magor ein riesiges, selbst gemaltes Bild geschenkt. Es gab die üblichen Diskussionen über den besten Wein, aber es war eine Mordsgaudi. Alle, die im Dorf oder auf dem Schloss wohnen, saßen zusammen am langen Tisch. Das Essen gestaltete sich natürlich wieder üppig und Magor strahlte vor blendender Laune«, berichtete Esther.
»Da wäre ich gern dabei gewesen, schmeckte bestimmt lecker«, murmelte Ben, während er ein zweites Stück Kuchen auf seinen Teller lud.
Gelangweilt schubsten sich die verfressenen Nager, lauerten auf mehr Kuchen. Leni gab ihnen einen leichten Klaps auf den Po. »Es reicht, mehr gibt es nicht! Oder wollt ihr fette, unbewegliche Monster werden?«
»Egal, Baby! Bei der Vollverpflegung hier müssen wir nicht mehr auf die Jagd. Wir dürfen träge sein«, stellte Quidell fest. Er warf Esther einen kecken Blick zu, bevor er mit Jidell von der Bank sprang. Sie kugelten pöbelnd übereinander.
Unbeirrt fuhr Esther fort: »Sids Bild muss wunderschön sein. Es stellt eine Tänzerin dar, die er in der Ballettschule kennengelernt hat. Kira ist ihr Name.«
»Hab ich irgendwas verpasst?«, fragte Ben. »Deinem Tonfall entnehme ich, dass mehr hinter dem Namen steckt.«
Esther schmunzelte: »Agatha glaubt, dass Sid rettungslos in Kira verliebt ist.«
»Sie denn auch in ihn?«
»Das wissen wir nicht so genau. Er selbst wohl auch nicht.«
»Wir müssen euch noch eine Neuigkeit mitteilen«, verkündete Henk.
»Esther ist schwanger!«, prustete Ben los.
Samuel lachte mit und feixte: »Nein, Henk ist schwanger!«
»Ihr seid albern«, rügte Esther schmunzelnd.
Henk legte einen Arm um Esther und schüttelte den Kopf: »Ein verrückter Haufen!«
Jetzt versuchte Esther es: »Seit vielen Jahren kaufe ich umliegendes Bauernland auf, sobald es angeboten wird. Jetzt, wo ich wieder eine richtige Familie habe, möchte ich meine Idee endlich umsetzen: ökologisches Obst und Gemüse anzubauen. Henk liebt es genauso wie ich, in der Erde herumzuwühlen. Wenn Sam möchte, kann er mitmachen. Es ist ein langgehegter Traum, große Mengen ohne Pestizideinsatz anzupflanzen, um diese zu verkaufen. Aber ich glaube, damit komme ich nicht gegen Magors Super-Spionage-Centrum an, oder etwa doch?«
Samuel schüttelte den Kopf. »Ertappt, Esther! Wenn ich schon endlich auf der Erde bin, dann will ich etwas erfinden, statt Möhren zu züchten. Bei Magor ist es für mich das reinste Paradies. Ich finde deine Idee trotzdem klasse, sie passt zu dir und Henk!«
Genüsslich leckte Ben seine Finger ab. »Gratuliere! Ihr zwei ergänzt euch prima!«
Leni zog eine Schnute. »Ich finde es doof, wenn Sam geht.«
»Kannst mich besuchen kommen«, schlug der vor.
»Das ist nicht das gleiche. Außerdem geht das viel zu selten, ich muss zur Schule, und die macht mir überhaupt keinen Spaß.«
»Leni, fang nicht wieder damit an!«, rügte Esther.
Samuel fixierte das Mädchen. »Was magst du denn nicht an der Schule?«
»Alles!«
»Alles? Wow, das ist echt viel!«
Esther mischte sich ein: »Sie findet außer Emma und Ben niemanden nett, das ewige Rumsitzen blöd. Außerdem öden Lernstoff und Hausaufgaben sie an.«
»Bleiben noch die Pausen«, warf Samuel ein.
Ben ergriff das Wort: »Da fühlt sie sich auch unwohl, weil sie nie in der Schule war. Sie hat weder gelernt, mit anderen Kindern zu spielen, noch, neue Freundschaften zu schließen. Ich kann das verstehen. Wir kennen es nicht anders, aber für Leni ist alles neu und beängstigend.«
Leni nickte. »So viele Menschen sind da, aber ich kenne nur Emma und Ben. Die anderen will ich gar nicht kennenlernen, weil sie dauernd dumme Fragen stellen, auf die ich keine Antworten hab. Was kann ich schon von meinem Leben erzählen? Außerdem muss ich viel zu viel lernen. Manches davon interessiert mich einfach nicht.«
»Das geht vielen so, Leni, nicht nur dir«, grinste Ben. »Da musst du einfach durch!«
In diesem Moment kam Nala in die Küche. Ihr langes schwarzes Haar glänzte noch nass und die Haut roch nach Vanille. Das dunkelhäutige Mädchen strahlte in die Runde. »Guten Morgen zusammen!«
Fasziniert beobachtete Ben ihre geschmeidigen Bewegungen, stellte erneut fest, wie hübsch sie aussah. Er zwinkerte ihr zu. »Wie eine Göttin kommst du herein. Du warst wie eine Göttin für mich und manchmal sahst du mich an und ich dachte: Mann oh Mann*.«
Kopfschüttelnd betrachtete Nala den Freund. »Au weia, was habt ihr dem in den Kakao getan?«
Als sie sich am Herd zu schaffen machte, um Ingwertee in einen Becher zu gießen, stand der Drachenreiter auf und trat hinter sie. Er legte die Arme um ihre Hüften und schmiegte sein Gesicht in das feuchte Haar. Mit dunkler Stimme flüsterte er ihr ins Ohr: »Glückliche Liebe wirkt wie ein Schönheitsmittel*. Es scheint: Ich bin dein Schönheitselixier.«
Kichernd ergriff Nala seine Hände. »Du Angeber!« Mit einer schnellen Bewegung drehte sie sich um und küsste den verblüfften Drachenreiter auf den Mund.
»Du bist aber wild!«
»Wusstest du das noch nicht? Ja, ich bin wild!« Sie hob eine Hand und verdrehte sie leicht. Ein Fenster schlug auf, sodass kalte Luft hereinwehte.
Ben wurde von einer kleinen Windböe erfasst, die ihn nach hinten drückte. »He, was machst du? Ich setz dich gleich mit meiner Magie in Flammen!« Er hob beide Hände und rief winzige, züngelnde Flammen aus seinen Fingerspitzen, die hin und her tanzten. »Soll ich?«
»Nein, großer Magier, bitte nicht!«
»Ihr zwei da, nehmt mir nicht mein Haus auseinander!«, schimpfte Esther.
Samuel verdrehte die Augen. Er fing Lenis unglücklichen Blick auf, die noch über die Schule nachdachte. Ihr war nicht nach Lachen zumute. Tröstend legte er den Arm um sie. »Guck doch nicht so traurig, was ist los mit dir? Es gibt immer für alles eine Lösung!«
»Für mein Problem nicht«, murrte Leni. »Ich muss nun mal zur Schule gehen!«
»Dann nehme ich dich mit nach Frankreich«, schlug Samuel vor.
»Ganz bestimmt nicht!« Esther schnaubte entrüstet. »Ich habe nicht all die Jahre ohne Leni gelebt, um sie zu finden und gleich wieder zu verlieren.«
»Siehst du, es gibt keine Lösung!« Lenis Augen füllten sich mit Tränen, sie sprang auf und lief aus der Küche.
Betroffen schauten Henk und Esther einander an.
»Ich gehe zu ihr«, seufzte Esther.
Sam schüttelte den Kopf. »Nein, ich mach das! Ich glaube, du kannst ihr jetzt nicht helfen. Sie macht dich für ihren Kummer verantwortlich, weil du sie zur Schule schickst. Leni braucht jetzt einen Freund.« Er folgte Leni, aber die Tür von ihrem Zimmer war abgeschlossen. Also klopfte er. »Komm, lass mich rein!«
Mit verweinten Augen öffnete Leni und warf sich in Sams Arme. »Ich bin so anders als alle anderen! Kann ich nicht doch mit dir kommen?«
Einfühlsam trocknete Samuel die Tränen mit einem Taschentuch. »Du hast gehört, was Esther dazu sagt.«
Erneute Tränen flossen. »Mein Leben ist verpfuscht! Alles ist sinnlos, am besten wäre ich damals mit meinem Vater gestorben!«
»Leni! Sag so was nicht. Ich war tot und bin dankbar, dass ich wieder lebe! Auch wenn …« Samuel verstummte.
»Was? Was meinst du?«
»Auch für mich ist es schwierig. Erinnerst du dich, wie wir uns in Frankreich im Spiegel angestarrt haben? Manchmal mache ich das noch. Aber mehr als mein Aussehen beschäftigt mich, wie ich bin.«
»Warum? Wie bist du denn?«
»Ich finde Essen lecker, das ich früher nicht mochte. Ich bin vernarrt in Honig und bewege mich anders. Oder da sind Gedanken in meinem Kopf, die nicht zu mir gehören.«
»Hast du das schon mal jemandem erzählt?«
»Nein!« Traurig schlug Samuel die Augen nieder. »Ich trau mich nicht.«
Jetzt war es Leni, die tröstete. Liebevoll streichelte sie Sams Wange. »Du armer Kerl. Was sind das denn für Gedanken?«
»Plötzlich blitzen Bilder durch meinen Kopf, die ich nicht kenne: Drachen, eine Höhle, ein schwarzhaariger Mann mit Ohrringen, Kämpfe. Mein Kampfstil verändert sich. Nicht schlechter, aber eben anders. Wenn ich darauf achte, ist er wie immer, wenn ich nicht darüber nachdenke, bewege ich das Schwert eher wie Ben.«
»Wie Ben?« Mit großen Augen starrte Leni ihn an. »Na klar, er und Richard waren Brüder. Meinst du also er ist noch in dir?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe gegoogelt und über Transplantationen einiges gelesen. Es gab da zum Beispiel einen Mann, der nie Alkohol trank. Nach einer Herztransplantation mochte er Bier. Eine Frau liebte Hardrock und nach einer Lebertransplantation hörte sie auf einmal klassische Musik. Vielleicht erinnern sich nur meine Zellen, aber ich bin trotzdem ich.«
»Das ist mir auch bekannt. Hab ich irgendwo gelesen, äh, wo eigentlich? Scheint wieder Magor-Wissen zu sein. Jedenfalls ist es mir egal, wer du bist. Ich hab dich lieb, ob du nun Samuel oder Richard bist!« Trotzig schob Leni die Unterlippe vor, ihr eigener Kummer trat in den Hintergrund. »Willst du nicht doch mit jemanden darüber reden? Magor kann dir bestimmt helfen. Oder John?«
»Vielleicht rede ich mit John, wenn er endlich zurückkommt.« Samuel stand auf, trat zum Spiegel, der an der Wand hing, und starrte sich zum wiederholten Male an. Wer war er? Wer sah ihm im Spiegel entgegen?
Mit einem Lächeln auf den Lippen stellte sich Leni neben ihn und deutete auf sein Spiegelbild. »Denk positiv! Hätte noch schlimmer kommen können. Du hast wenigstens ein hübsches Gesicht und einen muskulösen Körper. Stell dir mal vor, du würdest in den Spiegel schauen und dich nicht mögen!«
»Mag ich mich denn?« Samuel seufzte.
»Dann mag ich dich für zwei.«
»Das ist süß von dir. Aber ich muss trotzdem mit mir klarkommen.«
Währenddessen wurde erneut der Drachenkopfklopfer an der Haustür betätigt. Emma traf ein.
Mit großem Hallo wurde sie begrüßt und von Esther mit Apfelkuchen samt Sahne versorgt, während Henk mit Fips einen Spaziergang durch den Wald machte.
Das Mädchen protestierte: »Esther, nicht so viel Sahne! Ich passe demnächst nicht mehr in mein Balletttrikot rein. Wo sind denn Leni und Sam?«
»Sie hat ihren üblichen Schulfrust. Sam tröstet sie«, kommentierte Ben und verdrehte die Augen.
»Sei nicht so herzlos! Ich kann meine Cousine verstehen.« Mit funkelndem Blick musterte Emma den Freund.
»Ich ja auch! Schon gut, du kleine Wildkatze, reg dich nicht so auf! Aber diese ewigen Szenen wegen der Schule finde ich nervig.« Ben zuckte mit den Schultern. »Hast du was von John gehört? Wann kommt er denn endlich?«
Missmutig runzelte sie die Stirn. »Hm! Weiß nicht.«
Esther legte eine Hand auf ihre Schulter. »Bestimmt bald! Du zweifelst nicht an seiner Liebe oder etwa doch?«
»Warum bleibt er dann so lang weg?« Niedergeschlagen senkte Emma den Blick. Zurzeit befand John sich in San Francisco, um von dort aus irgendwann seinen Onkel Telling Bear im Indianerreservat zu besuchen.
Ben grinste. »Hast du ihm geschrieben, dass er kommen soll, weil du es nicht mehr ohne ihn aushältst?«
»Natürlich nicht so direkt … Also, ich …« Das Mädchen verstummte.
»Du lernst es nie!«, mischte Nala sich ein. »Sag John endlich, was du für ihn empfindest! Klar und deutlich!«
»Hm!«
»Komm, wir gehen in mein Zimmer und quatschen ’ne Runde!«, schlug Nala vor.
Fragend hob Ben die Augenbrauen. »Oh, jetzt wird es interessant! Worüber redet ihr denn so?«
»Geht dich nichts an! Sei nicht so neugierig!«, kicherte Emma.
»Genau!«, stimmte das dunkelhäutige Mädchen zu.
Obwohl Ben brummig guckte, standen die beiden auf und schlenderten unbeeindruckt in Nalas Zimmer, das Esther hergerichtet hatte.
Die Fanreanerin strich ein paar seidig glänzende Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Wir haben noch kein einziges Mal allein miteinander geredet. Was hast du getrieben in den letzten Wochen? Hast du meinen Rat befolgt und bist mit anderen Jungen ausgegangen?«
Glucksend ließ Emma sich auf dem Bett nieder und nickte.
»Und? Wie war es?«
»Grottig! Total daneben!«
»Erzähl!«
»Mit einem bin ich ins Kino gegangen. Der wollte direkt an mir rumfummeln …«
»Weiß Ben davon?«
Emma schüttelte wild den Kopf, sodass ihre Locken hin und her flogen. »Nein! Er hätte bestimmt was gegen unser Experiment! Nichts erzählen!«
»Weiter!«
»Den Kinotypen habe ich dann sogar geküsst, aber er war so ein ekliger Feuchtküsser …«
»Och, nee!«
»Einen fand ich eigentlich nett. Der hat sich aber ’ne andere geschnappt und mich einfach abblitzen lassen.«
Nalas Augen funkelten belustigt. »Ups! Sind viele abers in deinen Sätzen.«
»Stimmt! Außerdem langweilen mich die Jungen, die in Frage kommen, fast alle irgendwie …«
»Sehr gut!«
»Wieso sehr gut?«
»Damit du endlich begreifst, was du an John hast! Weiter!«
»Mit einem war ich auf einer Geburtstagsparty. Der konnte nicht tanzen und hat sich volllaufen lassen, bis er alles vollgekotzt hat.«
Jetzt konnte Nala sich das Lachen nicht mehr verkneifen. »Super! Ist ja spitzenmäßig gelaufen!«
»Ja, ziemlich!« Die Freundin zog eine Schnute. »So viel zu: Tob dich mal aus!«
»Toll! Genauso, wie ich es mir ausgemalt habe. Wen willst du jetzt?«
»Natürlich John!« Emma zog eine Grimasse.
»Dann sag es ihm! Er kommt zurück, wenn du ihm deine Gefühle mitteilst. Aber nicht nur so ein Wischiwaschi-Drumherum-Emma-Gelaber. Klar?«