Читать книгу Fanrea Band 3 - A. E. Eiserlo - Страница 13

Gefühlschaos

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Bei einem Rundflug über die Berge Fanreas erblickte Red Fire in der Ferne seinen Feind, den Drachen, der die Höhle von Bernsteinauge bewohnte. Allein! Endlich ohne Begleitung! Jetzt konnte Red Fire ihn töten. Schnell würde es gehen, diesen Jungdrachen zu erledigen. Danach wäre die kleine Drachin dran, die er aus der Höhle jagen musste, damit alle Schätze von Bernsteinauge endlich zu seinem rechtmäßigen Eigentum wurden. Mit einigen wenigen Flügelschlägen erhöhte der rote Drache das Tempo, sodass die Entfernung zu Nijano schnell abnahm. Als Red Fire ihn fast erreichte, schien dieser etwas zu hören, denn er drehte den Kopf. Kurz erschrak er, tauchte dann jedoch unvorhergesehen ab und ging in einen Sturzflug über.

Verblüfft nahm Red Fire dieses gekonnte Manöver zur Kenntnis. Beim Blick nach unten, war von Nijano nichts zu sehen. Der hatte sich inzwischen im Sturzflug gedreht und kam hinter dem Angreifer wieder hoch, um sich jetzt von oben auf ihn zu stürzen. Mit Wucht knallte Nijano auf den Rücken des Gegners und schlug die Krallen in ihn hinein. Beide kamen ins Trudeln, flatterten unkoordiniert mit den Flügeln, peitschten mit den Schwänzen gegeneinander. Die Giganten brüllten, spien Feuer und hieben ihre Klauen in die weiche Bauchhaut.

Der rote Drache verfügte über viel mehr Stärke, aber – getrieben von Wut und Rache – wollte Nijano unbedingt den Mörder seiner Mutter töten. Obwohl der Bauch ein Stück aufgerissen war, gab der Sohn nicht auf. Voller Genugtuung stellte er fest, dass der Gegener am Schädel blutete.

Kurz bevor die Giganten auf den Boden donnerten, lösten sie sich voneinander und flogen in die Höhe, nur um mit voller Wucht erneut aufeinander loszustürzen. Red Fire grub die Zähne in Nijanos Nacken, schleuderte ihn umher.

In diesem Moment wurde der rote Drachen mit voller Kraft gerammt, sodass er von seinem Opfer abließ.

»Das ist mein Sohn! Du wirst ihm nichts tun!«, brüllte ein fremder Drache.

Erstaunt blinzelte Nijano. Diese Stimme kannte er! Der Jungdrache fixierte den Neuankömmling. Songragan! Sein Vater! Hatte der ihn gerade tatsächlich Sohn genannt und wollte ihn beschützen? Das konnte er kaum glauben!

»Aus dem Weg, Nijano!«, schrie Songragan. »Ich mache ihn fertig!«

Das kam gar nicht infrage! Er selbst wollte den Mörder von Bernsteinauge in Stücke reißen! Es war dem Jungdrachen egal, dass er am Bauch blutete oder wahrscheinlich sein Leben ließe. Es lag Nijano unendlich viel daran, seine Mutter zu rächen. Aber wenn der Vater für den Sohn kämpfen wollte? Sollte er da jetzt diskutieren oder freudig das Feld räumen?

»Ich nehme es auch locker mit euch beiden auf!«, rief Red Fire und spie Feuer in ihre Richtung.

Nijano sah zwischen diesen beiden mächtigen Drachen hin und her, die gewaltig und furchterregend aussahen. Zorn und Kampfwille vibrierten zwischen ihnen.

»Tauch ab, Sohn!«

»Verschwinde nur, du kleines Bürschchen! Dich Happen töte ich später!«, dröhnte der rote Drache.

Zunächst brodelte heiße, unbändige Wut in Nijano, doch als ihn der eisige Blick Songragans durchbohrte, kühlte diese binnen Sekunden ab. In des Sohnes Bewusstsein stieg ein unbekanntes Gefühl hoch, das es ihm unmöglich machte, aufzubegehren. Er spürte die angeborene Rangordnung, die ihn zwang, sich dem Vater unterzuordnen. Der Jungdrache musste gehorchen, konnte den Befehl nicht ignorieren, sondern unterwarf sich dem Vater ohne weiteren Widerstand.

Die Giganten prallten brüllten aufeinander. Rot gegen Schwarz. Mächtige Muskelpakete und großartige Kämpfer – keiner würde nachgeben. Es entbrannte ein Kampf auf Leben und Tod. Krallen durchbohrten lederne Haut. Schuppen zerfetzten. Blut floss. Zähne schlugen Wunden. Gegenseitig rissen sie sich in Stücke. Gewalt gegen Gewalt. Ungezähmte, wilde Kraft. Die Kolosse wurden nicht müde, schienen einander ebenbürtig. Die Minuten verstrichen. Plötzlich gelang es Songragan, sich in Red Fires Bauch zu verbeißen und ihm gleichzeitig mit dem Schwanz eine Riesenwunde am Schädel zu verpassen. Mit einer kraftvollen Drehung riss sich der rote Drache von Songragan los und ergriff die Flucht.

»Landen!«, befahl jener vorausfliegend dem Sohn. Wieder gehorchte dieser dem Befehl des Vaters. Auf dem Erdboden angekommen, inspizierte Songragan flüchtig seine Wunden und musterte danach eingehend seinen Nachkommen. »Du bist gewachsen!«

»Kann sein.«

»War nicht so schlecht, dein Flugmanöver.«

Verständnislos starrte Nijano seinen Vater an. Ein Lob? Ob nun Dank angebracht wäre? Trotz kroch in die Gedanken des jungen Drachen. »Du hast gesagt, du interessierst dich nicht für mich! Warum hast du mir dann geholfen und mischst dich in meinen Kampf ein?«

»Weiß ich auch nicht so genau – hatte wohl eine unerklärliche Anwandlung von Vaterliebe. Außerdem kann ich einem guten Kampf einfach nicht aus dem Weg gehen.« Plötzlich lachte der Schwarze dröhnend. »Dein Kampf! Dein Gegner hätte dich zerstückelt, zerfleischt und blutige Fetzen aus dir gemacht!«

Nijano schnaufte zornig, versuchte jedoch, die Beleidigung an sich abperlen zu lassen und wechselte das Thema. »Warum bist du überhaupt so weit über die Wüste gekommen? Was willst du hier?«

»Reine Neugierde!« Songragan machte Anstalten, sich in die Luft zu schwingen.

»Warte!« Nijano schöpfte wider Willen zaghaft Hoffnung. »Du wolltest mich hier besuchen und sehen, wie es mir geht? Darauf warst du neugierig?«

»Eher nicht!« Die Stimme des schwarzen Giganten klang spöttisch. Ich wollte mir diese Ecke von Fanrea mal ansehen und die schöne Soraya besuchen. Es hat mich interessiert, wo die Drachinnen jetzt leben.«

»Aha!« Enttäuschung und Eifersucht stachen in Nijanos Herz, mühsam blendete er diese Gefühle aus. Noch gab er nicht auf, kämpfte verzweifelt um die Aufmerksamkeit seines Vaters, obwohl es aussichtslos schien. »Der Drache, gegen den du eben gekämpft hast, tötete Bernsteinauge!«

»Und? Soll mich das jetzt interessieren?« Gelangweilt schnaufte Songragan.

Nijano verzweifelte. Sein Vater war und blieb ein mieser Typ, auch wenn er eben für ihn gegen Red Fire gekämpft hatte! Arrogant und gefühllos! Trotzdem! Ein letztes Mal überwand der Jungdrache den Stolz und wagte zu fragen: »Vielleicht können wir nochmal neu beginnen?«

Ein verächtlicher Blick traf Nijano. »So weit gehen meine Gefühle dann doch nicht für dich! Ich denke, ist wohl eher Spaß am Kämpfen und Töten. Pass mir auf die kleine Soraya auf! Nach wie vor finde ich, sie hätte besser zu mir gepasst als zu dir kleinem Kerl.«

Jetzt schoss grenzenlose Wut in Nijanos Bauch. Feuer sammelte sich darin, der Geschmack von Asche und Rauch lag auf der Zunge. Bevor der Sohn richtig aufbrausen konnte, klappte Songragan die gewaltigen Schwingen auf und flog davon. Mit einem Feuerstoß entlud Nijano den Zorn, brüllte und schaute ebenso verletzt wie enttäuscht seinem Vater hinterher. Äußerte Songragan die letzten Worte, weil er sie so meinte oder weil sie besser zum Image passten? Musste er vor sich selbst die einmal gewählte Rolle des Unnahbaren spielen? Songragans Verhalten machte einfach keinen Sinn: Erst rettete er den Sohn, um ihn anschließend zu beleidigen und zu demütigen. Mieser Kerl!

Nijanos Gedanken wirbelten durcheinander, da fiel ihm Melvins Bitte ein, die Erinnerung des Vaters anzuzapfen. Wiederholt hatte er es versucht, doch immer erfolglos. Vielleicht gelänge es ihm jetzt, da jener in der Nähe war? Der junge Drache konzentrierte sich, drang in das Labyrinth der eigenen Erinnerungen ein, gleichzeitig in die Gedankenwelt Songragans. Nijano hoffte, dass dieser sich nicht schützte, da er mit einem solchen Zugriff auf seine Erinnerungen nicht rechnete. Plötzlich tauchten neblige Gedankenfetzen in Nijano auf: Richard, Angriffe auf fremde Drachen, Drachinnen, glitzernde Schätze aus Gold und Diamanten. Dann änderten sich unvermittelt die Bilder: eine Vulkanwelt, karge Schluchten, rauchende Schlote, schwarze Erde, glühende Lava. Ein Tal in einem erloschenen Krater, blühend, fruchtbar, Palmen, Blumen, bebaute Felder. Der Drache fühlte einen Zauber, der über dem Tal lag. Und ein Geheimnis!

*

Während Songragan davonflog, bohrten Fragen in ihm. Was war gerade passiert? Warum hatte er Nijano geholfen? Das konnten unmöglich echte Vatergefühle gewesen sein! Seit Richards Tod konnte Songragan sich selbst nicht mehr verstehen. Nie konnte er große Gefühle für andere entwickeln und plante nicht, das zu ändern. Statt Soraya zu erobern und mit nach Angar zu holen, stand er seinem Sohn zur Seite. Als Songragan erkannte, wen Red Fire da brutal hin und her schüttelte, kochte die Wut in ihm hoch. Er wollte nicht, dass der rote Gigant seinen Sohn zerfetzte. Deshalb griff er in den Kampf ein, ohne lang nachzudenken.

Was sollte er jetzt tun? Den Plan, Soraya zu erobern, gab er auf. Gnädig und großzügig würde er sie dem Nachkommen überlassen. Das bedeutete allerdings, dass er umsonst die Wüste hin und her überquerte. Immerhin konnte er sich selbst beweisen, dass für ihn diese Wüstenüberquerung ein Klacks war! Was nun? Ziellos nahm Songragan Kurs auf die Berge, er musste entscheiden, wie er in Zukunft zu Nijano stehen wollte. Vatergefühle für den Sohn zu entwickeln, erschien ihm undenkbar. Dennoch hatte es ihn über die Wüste hierhin getrieben. Lockte ihn tatsächlich nur Soraya oder steckte mehr dahinter? Etwas, das er sich selbst nicht eingestehen mochte?

Songragan beschäftigte sich so mit seinen verwirrenden Gefühlen, dass er das vorsichtige Eindringen Nijanos in seine Gedanken nicht wahrnahm. Stetig höher schraubte sich der schwarze Drache, nutzte die Thermik, glitt auf dem Wind dahin. Der Drache flog über gewaltige Berge, drang tiefer in die Bergwelt ein. Schnee lag auf den Gipfeln und glitt wie frische Milch an den Hängen herab. Stahlblauer Himmel bildete einen starken Kontrast zum Weiß, das so hell erstrahlte, dass es fast blendete.

Unentdeckt von Songragan beobachtete ein einsamer Drache von einem Berggipfel aus den Flug des schwarzen Giganten. Dieser Drache war so weiß, wie der ihn umgebende Schnee. Je nach Lichteinfall funkelten seine Schuppen wie Eiskristalle. Die massige Gestalt verschmolz mit der Umgebung, der Körper strahlte eine unerträgliche Eiseskälte aus. Aus den Nüstern strich frostiger Atem, der alles um das riesenhafte Wesen herum erstarren ließ. Es war ein Eisdrache, erschaffen aus Winterkälte und Nachtfrost. In den hellen Augen glomm Erbarmungslosigkeit, der Blick verriet Härte und Grausamkeit.

Als ein Schneehase neugierig an ihm vorbeihoppelte, hauchte der Eisdrache den kleinen Kerl an. Arktische Kälte streifte den Hasen, umhüllte das seidene Fell und sorgte dafür, dass seine Bewegungen matt wurden. Ein zweiter Hauch bewirkte, dass der Körper gefror. Mit einem zufriedenen Schnaufen beobachtete der weiße Gigant den Prozeß, danach verfolgte der Eisdrache weiter den Flug von Songragan. Schließlich streckte das Eiswesen sich aus. Den massigen Schädel legte es auf die Vorderbeine und wartete. Es besaß Zeit genug. Noch war nicht alles vorbereitet. Aber bald! Bis dahin würde es sich die Langeweile mit ein paar Spielchen vertreiben. Ein wenig Angst und Schrecken zu verbreiten, konnte amüsant sein. Ein hinterhältiger Ausdruck stahl sich in den Blick.

*

Im Reservat gelang es John, die nächsten Tage Abstand zu Annie zu halten. Aber es fiel ihm schwer, sachlich über Saatgut und Pferde zu reden, wenn er eigentlich an ihre Lippen und Küsse dachte. Um sich abzulenken, wollte er abends einen Brief an Emma schreiben. Ganz klassisch, auf Briefpapier, keine Email. Die leere Seite lag vor ihm, doch er kam nicht über das Datum hinaus. John starrte das Blatt Papier an und kam sich verlogen vor, Meine geliebte Emma zu schreiben, wenn er an Annie dachte. Was war nur mit ihm los? Irgendwann gab John auf, zerknüllte den Brief und warf ihn in den Papierkorb. Er versuchte, an Fanrea zu denken oder an Soraya, seine Drachin. Im Herzen fühlte er die Sehnsucht nach ihr, aber in seinem Kopf geisterte nur der Name Annie herum. Es gelang ihm nicht, ihn zu vertreiben. John seufzte. Warum sprach Emma nicht endlich von Liebe und bat ihn zu kommen?

Den nächsten Abend verbrachte Telling Bear nicht Zuhause, sondern war zu einer Versammlung gefahren. Annie erschien unangemeldet, und John beschlich das unbestimmte Gefühl, dass eine Katastrophe auf ihn zurollte. Unterm Arm trug die Indianerin einen Korb, prall gefüllt mit Gemüse und Süßkartoffeln. Sie wollte für John einen Auflauf kochen.

Beide standen in der Küche und schnibbelten Möhren, wie zufällig streiften sich immer wieder ihre Hände und Arme. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, die Jugendfreundin in die Arme zu ziehen und seiner Sehnsucht nach Emma, fühlte John sich mies. Was geschah mit ihm? Gedanken, Körper und Herz bestanden aus Sprengstoff, ein Funke genügte, um ein loderndes Feuer zu entzünden, das nicht mehr von ihm kontrollierbar wäre.

Während des Essens lachten sie viel, Annie alberte herum und erzählte Anekdoten von früher. Schließlich dachte John nicht mehr an Emma, sondern kramte ebenfalls in seinen Erinnerungen: »Weißt du noch, wie ich mein erstes Kaninchen mit Pfeil und Bogen erlegt hab?«

»Klar! An dem Tag hast du mich vor der Klapperschlange gerettet! Du warst mein Held! Wie so oft!«

»An meinem Geburtstag, stimmt! Mann, was hab ich da eine Angst ausgestanden um dich!

»Puh, das war total knapp damals! Wenn du nicht so klug gehandelt hättest, wäre ich wahrscheinlich gestorben. Nur wegen diesem blöden Ritual, dass du ein Kaninchen schießen solltest. Eine meiner verrückten Ideen!«

»Stimmt! Dann tat das tote Kaninchen dir leid!«

Annie kicherte. »Ich fühlte mich schuldig, weil es nicht mehr atmete, wollte dir das aber nicht zeigen.«

»Stimmt! Cool wolltest du sein!«

»Ich wollte dir so gern imponieren und hab uns deswegen oft in dumme Situationen gebracht.«

John grinste: »Du und deine Coolness! Nur ja keine Furcht zeigen oder zu viele Gefühle!«

»Du bist selbst so! Keine Angst haben, schön lässig bleiben!«

Ihre Blicke trafen sich. John hielt die Luft an. Verdammt, sah sie süß aus, wenn sie lächelte! Atemlos stieß er die Luft aus und stand auf. »Ich spüle den Kram hier eben weg.«

Annie stapelte die Teller aufeinander. »Ich trockne ab.«

Als John ihr die Teller abnahm, berührten sich ihre Hände und fast hätte er alles fallen lassen, so sehr prickelte die Berührung.

Zittrig nahm das Mädchen das Handtuch. »Mein Vater findet genauso wie ich, dass du toll mit Pferden umgehen kannst. Er freut sich, wenn du uns besuchst!«

»Ich mag deinen Vater. Seine Pferdezucht ist großartig! Deine Familie besitzt wunderschöne Tiere, und ich bin gespannt auf das neue Fohlen.« John beobachtete Annies Bewegungen. Als sie sich vorbeugte, um nach einem Glas zu greifen, streifte ihn ihr Duft. Sie roch nach Tannennadeln und Yasmin. John schloss die Augen und atmete tief ein. Als er sie wieder öffnete, stand die Indianerin dicht vor ihm und schaute ihn herausfordernd an. Ihr Blick war anders als sonst. Sie legte den Kopf leicht schräg und schien auf etwas zu warten. Gegen seinen Willen fühlte John sich von ihr angezogen, ihre Lippen lockten ihn. Verzweifelt kämpfte er gegen seine Gefühle an, schob schnell die nassen Hände in die Taschen der Jeans.

Annie schien seinen Widerstand zu spüren und kaute unsicher auf der Lippe. Ihre Augen schauten ernst, gleichzeitig runzelte sie die Stirn.

Seufzend drehte John sich weg. »Hast du noch Hunger? Möchtest du etwas Schokolade?«

Annie flüsterte: »Ja, ich möchte noch etwas. Aber kein Essen!«

Diese Botschaft klang unmissverständlich. John schluckte. Widersprüchliche Gefühle überrollten ihn. Er schätzte Annie, sie war ihm vertraut. Aber er liebte eigentlich Emma! Konnte er zwei Mädchen gleichzeitig lieben?

»John, du bist etwas Besonderes für mich! Immer schon hat dir mein Herz gehört! All die Jahre hab ich gehofft, dass du zurückkommst.« Auf einmal legte die Indianerin die Arme um seinen Hals.

John schaute in ihre Augen und versank darin. Lippen fanden sich wie von selbst. Endlich! Ihre Küsse schmeckten nach mehr. John drohte, die Beherrschung zu verlieren. Abrupt löste er sich von Annie und schob sie ein Stück weg. Sie mussten unbedingt miteinander reden, offen über Emma sprechen! »Ich muss dir etwas sagen. Ich …«

»Sei still!« Sie versiegelte seinen Mund mit Küssen.

John spürte Begehren, Sehnsucht nach grenzenloser Nähe, eins sein. Warum ließ er sich nicht einfach auf Annie ein? Er wollte sie doch auch! Aber so war er nicht! Er konnte nicht einfach den Verstand ausschalten und sämtlichen Gefühlen freien Lauf lassen!

Das dunkelhaarige schob eine Hand unter sein T-Shirt, kroch damit langsam am Rücken hoch und streichelte die warme Haut.

Ihm stockte erneut der Atem, der Herzschlag beschleunigte sich. Mit den Armen umschlang John seine Jugendfreundin und zog sie noch näher heran. Ihr durchtrainierter Körper fühlte sich gut an. Weiblich, zart und stark zugleich. Genauso wie Annie war. »Meine Annie …«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Zarte Hände fassten sein T-Shirt, zogen es ihm über den Kopf. Die Jugendfreundin streichelte zaghaft über die ausgeprägten Bauchmuskeln.

Johns Gedanken rasten. Er merkte, dass die Beherrschung schwand. Aber Betrug ließ sich nicht mit seinem ehrlichen und anständigen Charakter vereinen. Am Ende würde er beide betrügen – Emma und Annie!

Die Indianerin löste sich von ihm und öffnete mit bebenden Fingern den obersten Knopf der Bluse.

Mit einer sanften Bewegung hielt John die Hände fest. »Nein! Tu das nicht! Ich werde nicht hierbleiben, ich werde das Res* bald verlassen.«

»Warum denn? Niemand zwingt dich, zu gehen! Wann?«

»Im Frühling.«

»Bis dahin ist es noch lang! Oder du könntest einfach hierbleiben!« Mit fragenden Augen schaute sie ihn an, dann füllten sie sich mit Tränen. »Geh nicht wieder weg, John! Bleib bei mir!«

Erneut nahm er sie in die Arme, sie sollte nicht wegen ihm weinen. Als er zärtlich die Tränen wegküsste, lächelte sie ihn zaghaft an. »Du siehst sogar hübsch aus, wenn du weinst«, raunte er. Annie lockte ihn. Sein Widerstand brach zusammen.

Sie schien zu spüren, dass er den Kampf aufgab, zog mit einem Finger die Form seiner Lippen nach. »John, ich sehne mich nach dir!«

Mit einer energischen Bewegung zog John Annie zu sich heran und hob sie hoch. Wie eine Feder lag sie in den Armen, und er trug sie in sein kleines Zimmer. Zärtlich legte er sie aufs Bett, startete einen letzten, verzweifelten Versuch: »Ich kann dir nichts versprechen. Ich werde dir wehtun, wenn ich nicht im Res bleibe. Du wirst traurig sein wegen mir, weil … Das will ich nicht! Außerdem gibt es da noch etwas, dass ich …«

»Psst! Jetzt ist jetzt! Ich will nicht über später nachdenken! Du hast mich schon einmal verlassen, das habe ich auch überlebt. Komm her!« Sie streckte eine Hand nach ihm aus.

Er griff danach. Als sie ihn zu sich zog, wusste er, dass nun etwas passierte, was er später bereuen würde. Aber er konnte nicht anders. Mit einer unendlich zärtlichen Geste strich er eine seidige Haarsträhne aus dem hübschen Gesicht. Ihr Blick versank in seinem. Er vergaß alle Vorsätze, gab jeglichen Widerstand auf. Die Sinnlichkeit des Mädchens raubte ihm den Atem. Annies Hände streichelten seinen Rücken, fuhren über das Drachenmal, das leicht kribbelte.

Draußen näherte sich ein Wagen und kam knirschend im Schnee zum Stehen. Verärgerte Stimmen drangen bis zu ihnen.

John erschrak und fluchte: »Verdammt! Mein Onkel ist schon da! Er wollte erst heute Nacht zurückkehren!«

Hastig sprang Annie auf. »Dein T-Shirt liegt noch in der Küche!« Hektisch verschwand sie im Bad. Sie musste sich erst ein wenig sammeln, bevor sie Telling Bear unter die Augen treten konnte. Obwohl klar war, dass er in ihrem Herzen alles lesen konnte.

John raste in die Küche und zog gerade das T-Shirt über den Kopf, als sein Onkel eintrat.

Kurz musterte der ihn und zog eine Augenbraue hoch. »Wo ist Annie?«

»Äh, im Bad. Wieso bist du schon zurück?«

»Es gab Streit, die Diskussionen wurden unsachlich. White Horse und ich hatten keine Lust mehr und sind einfach gefahren.«

Verlegen lehnte John am Esstisch und fuhr unglücklich mit einer Hand durchs Haar.

Telling Bear runzelte die Stirn und verkniff sich eine Frage. Später, wenn Annie weg wäre, konnten sie reden.

Die Tür vom Bad wurde geöffnet und Annie trat unsicher in die Küche.

»Hi, Annie!« Telling Bear schenkte ihr einen aufmunternden Blick.

Scheu lächelte sie den Schamanen an. »Hallo! Ich fahr dann mal nach Hause. Gab es Ärger auf der Versammlung?«

Kurz schilderte er den Abend und goss dabei ein Glas Wasser ein.

John und Annie warfen einander verstohlene Blicke zu, bis John schließlich zu ihr ging und den Arm um sie legte. Erleichtert schmiegte Annie sich an ihn.

Telling Bear tat, als ob er nichts wahrnähme.

»Bringst du mich zum Auto, John? Gute Nacht, Telling Bear!«

Arm in Arm verließ John mit Annie die Hütte. Die kalte Nachtluft tat gut und die Dunkelheit machte den Moment leichter. Der Zauber von eben schien zerstört. Verlegen standen die beiden vor Annies Auto und wussten nicht, wie sie sich voneinander verabschieden sollten. John druckste herum und brachte schließlich ein »Tut mir leid!«, zustande. Ein gequälter Ausdruck glitt über sein Gesicht.

Zweifelnd musterte Annie ihn und versuchte, in seiner Seele zu lesen. »Was genau tut dir leid?«

»Dass wir, hm, dass … Ach, vergiss es!« Entschlossen zog John Annie in die Arme und küsste sie, voller Sehnsucht und Traurigkeit.

Für Annie schmeckte der Kuss nach Abschied, eine dunkle Ahnung beschlich sie. »John, ich werde bald siebzehn. Ich würde mit dir überall hingehen, das weißt du, oder?«

»Ja, ich weiß!«

»Sehen wir uns morgen? Die Stute wird bestimmt fohlen, ich denke, es ist soweit. Kommst du rüber?«

»Ich versuche es!« Was war nur mit ihm los? Eben noch extreme Nähe und Vertrautheit – jetzt dagegen fühlte er im Inneren noch mehr Chaos als zuvor. Die Distanz, die er aufbaute, sollte ihm helfen, sich zu sortieren.

Seufzend löste Annie sich von ihm und stieg schweren Herzens ins Auto. Sie war klug genug, John nicht zu bedrängen, doch ein ungutes Gefühl nistete sich im Brustkorb ein, das zu einem gewaltigen Brennen wurde. Voller Kummer fuhr sie los.

Grübelnd ging John zurück ins Blockhaus.

Telling Bear musterte den Neffen mit durchdringendem Blick. »Möchtest du reden?« Sein wettergegerbtes, faltenreiches Gesicht wirkte ernst.

Niedergeschlagen lehnte John an der Küchentheke. »Ich habe alles verbockt!«

»Was heißt das in diesem speziellen Fall?«

»Ich hab dir von Emma erzählt. Fast hätte ich sie mit Annie betrogen. Eigentlich nur nicht, weil du gekommen bist.«

»Was bedauerst du denn? Dass ich zu früh gekommen bin? Oder dass du schwach geworden bist?«

John grinste frech. »Irgendwie beides! Nein ernsthaft, ich finde Annie sehr reizvoll, und sie ist mir so vertraut. Ich kenne sie, seit ich denken kann. Sie war immer meine Freundin. Jetzt als junge Frau bringt sie meine Gefühle durcheinander.«

»Aber Emma …«

»Ja, genau! Emma! Wenn es sie nicht gäbe, dann würde ich mich keine Sekunde länger beherrschen, ich würde Annie barfuß durch den Schnee hinterherlaufen, um sie zu erobern.«

»Was verbindet dich denn mit Emma? Echte Liebe?«, fragte der Onkel.

»Ich weiß es nicht, ich kann es dir nicht erklären! Eigentlich spricht alles gegen unsere Liebe. Annie passt viel besser zu mir. Außerdem ist Emma zu jung für mich, sie wird im Sommer erst fünfzehn.«

»Karma? Reinkarnation?«

»Keine Ahnung! Vielleicht! Kann man auch zwei Mädchen lieben?«

»Na ja, es gibt die mehr lustbetonte Liebe und die andere. Ach, es gibt zig Formen davon. Ich denke, Emmas und dein Schicksal sind miteinander verknüpft, euer Weg vorgeschrieben. Komm, wir machen ein Schwitzhüttenritual, danach siehst du klarer!«

»Okay!« John zwinkerte seinem Onkel zu. »Aber nächstes Mal kommst du nicht früher nach Hause! Es hat sich verdammt gut angefühlt, unvernünftig zu sein!«

*

Schmerzerfüllt lag Red Fire in seiner Höhle. Der blutige Schädel dröhnte, am Bauch klaffte eine große Wunde. Stöhnend wälzte der mächtige Drache den Körper auf die Seite, während der Atem röchelnd durch die Lungen floss. Was für eine Demütigung durch diesen fremden schwarzen Drachen! Nicht einmal die Schätze in der Höhle vermochten den roten Giganten zu trösten. Nichts und niemand konnte die Schmach der Niederlage von ihm nehmen! Auch keine Diamanten, Gold oder Edelsteine.

Wieso lebten auf einmal so viele Drachen in diesem Teil von Fanrea? Wo kamen die alle her und was wollten sie hier? Er sah sich als Herrscher dieser Region! Noch kein einziges Mal in seinem langen Leben hatte Red Fire bisher die Flucht ergriffen. Nun war es geschehen!

Er drehte den Kopf. Feuer! In seinem geschundenen Bauch brodelte heiße Glut, bäumte sich auf und erfüllte ihn mit sengender Hitze. Mit gewaltiger Kraftanstrengung gelang es ihm, Feueratem auf die Bauchwunde zu stoßen. Die Flammen taten gut und heilten die blutige Verletzung. Allerdings an den Kopf kam er selbst nicht ran!

Red Fire stöhnte. Ihm schwindelte und der Schmerz in seinem Schädel folterte ihn. Müde schloss der Drache die Augen, sodass Dunkelheit ihn umfing. Schlafen musste er, Schlaf heilte!

*

Schweißgebadet wachte Emma mitten in der Nacht auf. Ein Albtraum hatte sie gequält, der nur als schwache Erinnerung in ihr herumgeisterte. Ein Bild brannte immer noch in den Gedanken: John und sie hielten einander an den Händen, doch jemand zerrte an ihm, zog ihn weg. Kälte und Dunkelheit umgab Emma. Das Einzige, was sie erkennen konnte, war Johns Antlitz, das elend aussah. Er rief ihren Namen, versuchte, die Verbindung nicht zu verlieren. Bevor Emma sehen konnte, was geschah, wachte sie auf.

Ihr Herz pochte wie wild. Sie bemühte sich, über den Atem wieder ruhiger zu werden. Besaß der Traum eine tiefere Bedeutung oder war er nur ein belangloser Albtraum? Sollte sie John anrufen und ihm davon erzählen? Blödsinn! Trotzdem wäre es beruhigend, seine Stimme zu hören! Als sie die Nummer wählte, ging er nicht dran. Wäre ja auch zu schön gewesen! Wie viele Kilometer trennten sie voneinander? Oder stand nicht nur die Entfernung zwischen ihnen, sondern noch etwas anderes? Seit längerem plagte Emma ein ungutes Gefühl. Allzu oft erwähnte John den Namen Annie!

Mit zittrigen Händen tippte sie ins Handy: John, ich vermisse dich so sehr! Komm bitte bald zurück! Es gelang Emma nicht länger, die Tränen zurückzuhalten. Unglücklich schluchzte sie ins Kissen. Warum gefiel der Lakota ihr so gut? Sein Aussehen faszinierte sie, ebenso die ruhige, besonnene Art. Er erdete sie, wenn Wut oder Nervosität sie quälten. Seine Nähe sorgte dafür, dass das Herz schneller schlug, die Haut prickelte und sie Lust verspürte, ihn zu berühren.

Bedingungslose Liebe – davon hatte John gesprochen. Langsam, ganz langsam, schien sie zu begreifen, was er damit sagen wollte. Sie wollte diese bedingungslose Liebe mit ihm erleben, keine Forderungen an John stellen, ihn nicht zwingen, Fanrea zu verlassen, damit sie einander lieben konnten.

*

Einträchtig schweigend saßen John und Telling Bear nach dem Schwitzhüttenritual vor der Hütte auf einer Bank und genossen die Kälte der Nacht.

»Hast du jetzt Klarheit gewonnen?«, fragte der Onkel.

»Ja, habe ich! Ich werde das Reservat morgen verlassen und zu Emma fliegen.«

»Ist das eine Flucht?«

»Dir entgeht aber auch nichts! Ja, es ist eine Flucht«, gab John zu.

Telling Bear runzelte die Stirn und musterte seinen Neffen zweifelnd.

»Schau mich nicht so streng an! Ja, ich fliehe, weil ich Annie nicht widerstehen kann, ich finde sie zu begehrenswert.«

»Davonlaufen ist keine Klarheit, junger Mann!«

»Ich weiß! Aber hierbleiben bringt Kummer. Ich wäre über mich selbst unglücklich, weil ich schwach bin und Annies weibliche Reize so ein großes Verlangen in mir auslösen.«

»Emma wird dir nicht geben, was du bei Annie jetzt schon haben kannst. Noch nicht jedenfalls!«

John seufzte. »Dann werde ich eben warten!«

»Kannst du das?«

»Ich muss!« John griff nach seinem Handy und entdeckte Emmas Nachricht, die viele Stunden alt war. Ihre Worte berührten ihn. Gleichzeitig meldete sich das schlechte Gewissen.

Telling Bear legte einen Arm um den Neffen. »Emma hat geschrieben?«

Aufgewühlt nickte John und fuhr mit einer Hand durchs Haar. Emma bat ihn, zu kommen!

»Das Leben ist nie einfach! Leben ist Kampf und Wachstum. Wir müssen unseren Weg finden. Deiner ist gerade etwas holprig. Du könntest weiter bei mir wohnen und Annie wählen, ihr passt gut zusammen. Entscheide dich für ein Mädchen, hör auf dein Herz!«

»Entscheiden? Das kann ich nicht und deswegen gehe ich. Sobald Annie in meine Nähe kommt, setzt mein Verstand aus und ich möchte sie überall berühren. Ich bin auch nur ein Mann, kein Mönch! Mein Herz jedoch gehört Emma.«

Langsam fröstelte es Telling Bear, er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. »Du bist wenigstens ehrlich! Nimm dir vor, Emma nicht zu bedrängen. Schaffst du das?«

»Ich denke, ja!«

»Ich zieh dir sonst die Ohren lang! Es wäre schön, wenn ich sie kennenlernen würde.«

John grinste. »Aber bestimmt nicht hier im Reservat. Könnte etwas unangenehm und laut werden!«

»Wohl wahr!«, schmunzelte Telling Bear.

Fanrea Band 3

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