Читать книгу Fanrea Band 3 - A. E. Eiserlo - Страница 6
A lltag
ОглавлениеNala kehrte nach ihrem Kurzurlaub mit Samuel nach Frankreich zurück, da beide wieder ihren Aufgaben nachkommen mussten: Nala als Zauberlehrling, Sam als Entwickler. Nach dem Ende der Weihnachtsferien umfing der Schulalltag Leni, Ben und Emma erneut mit festem Griff.
Als es an der Haustür klingelte, brach bei ihr die übliche Hektik aus. Gestern hatte sie bis spätabends gelesen und war danach zu müde gewesen, um die Schultasche zu packen. Das musste sie nun nachholen. Während das Mädchen Hefte mitsamt Ordnern in die Tasche warf, hörte es, dass Ben unten im Flur mit Marlene flachste, die er dadurch zum Lachen brachte. Endlich stürmte Emma, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach unten. Auf der vorletzten Stufe stolperte sie und fiel.
In letzter Sekunde fing der Freund sie mit seinen starken Armen auf. »Wow, Baby! Ich wusste ja, dass du es nicht erwarten kannst, mich zu sehen, aber so stürmisch musst du auch nicht sein!«, grinste er.
Sie kicherte. »Du bist eben mein Held!«
Erleichtert atmete Marlene auf und schimpfte los: »Das war knapp! Mensch Kind, du hast deine Tasche bestimmt nicht früh genug gepackt! Wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen …?«
»Mama, nerv nicht! Ich weiß das alles, aber …«
»… das Buch war mal wieder so spannend«, ergänzte Ben und ließ das Mädchen los. »Komm, wir sind spät dran!«
»Wie jeden Morgen«, murmelte Marlene, verdrehte die Augen und öffnete die Tür. »Hier, deine Brote. Viel Spaß in der Schule!«
»Guter Witz, Mama. Bis nachher!«
»Ciao, Marlene.«
Die beiden Freunde eilten zur Schule. Mit einem Seitenblick zu Ben fragte Emma: »Hunger? Salami, Schinken oder Gesundheitsbrot?«
»Schinken!«
Sie griff in die Tüte, um das gewünschte Brot herauszuholen.
Ben schnappte danach und biss glücklich hinein. Mit vollem Mund nuschelte er: »Mmhh, lecker! Du hast es gut, deine Mutter macht dir immer so leckere Brote. Meine kriegt nicht mal das hin! Meistens vergisst sie die Butter oder streicht Leberwurst unter die Marmelade.«
»Na ja, dafür schimpft meine dauernd mit mir.«
»Du machst ja auch nur Mist!«
Emma knuffte ihn in die Seite. »Laberkopp! Ich hab die Vokabeln noch nicht drauf. Frag mich mal ab, sonst verkack ich gleich den Test!«
»Okay. Was heißt denn …?«
Jemand kam von hinten, haute dem Jungen mit Wucht auf die Schulter und lachte hämisch. Es war Paul, der auf dem Fahrrad saß und jetzt heftig in die Pedale trat, um die Flucht anzutreten. In der ersten Sekunde wollte Ben hinterhersprinten, denn es kitzelte ihn in den Fingern, die Feuermagie zu rufen.
Doch die Kriegerin legte ihre Hand auf seinen Arm und flüsterte: »Nicht!«
»Mist, ich würde ihm am liebsten eine verpassen! Ihn mit Feuer vom Rad schleudern! Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen!«
»Kannst du wohl, weil du da drüberstehst. Du weißt, dass du ihn fertigmachen könntest. Das muss dir genügen, Drachenreiter!«
Gereizt zog der Freund den Arm weg. »Ich würde ihn zu gern so richtig vermöbeln!«
»Ist klar. Geht aber nicht!«
»Wozu habe ich dann die Macht, das alles zu können?«
Das Mädchen funkelte ihn an. »Bestimmt nicht, um blöde Jungen zu verprügeln!«
»Hm! Aber um mich zu wehren.«
»Er hat dich nicht richtig angegriffen. Macht bedeutet, dass du Verantwortung für deine Taten trägst.«
Der Drachenreiter schnitt eine Grimasse. »Du redest genauso klug daher wie Zamorius, der Zauberer!«
»Mensch!« Emma seufzte. »Deine Elementemagie hast du nicht bekommen, um machomäßigen Mist zu machen. Du sollst damit Hilflose und Schwache retten, nicht Paul eins auswischen. Echt kindisches Verhalten!«
»Wow! Jetzt bist du aber sauer, Bücherwurm! Ich soll also Mutter Theresa spielen? Er fängt ständig mit dem Pöbeln an!«
»Ihr Jungen seid manchmal so was von idiotisch! Dieses doofe Prügeln! Nutz deine Kraft sinnvoll!«
Ben grinste. »Ist ja gut, ich tu dem Kerl nichts. Aber reizvoll bleibt der Gedanke trotzdem: gegrillter Paul!«
*
Nachmittags ging Emmas Freund zum Karatetraining. Auf dem Weg zur Turnhalle lungerte Paul an einer der Dönerbuden herum. Als er Ben sah, schnitt er diesem eine Fratze. Der ignorierte es und murmelte stattdessen wie ein Mantra vor sich hin: »Wahre Stärke beweist nur derjenige körperlich Kräftige, der seine Kraft nicht missbraucht, und wirklich stark ist nur derjenige Mächtige, der seine Macht nicht missbraucht.*«
Doch Ben war noch keine zehn Meter mit dem Rad weitergefahren, da traf ihn ein kleiner Stein am Kopf. Blitzschnell drehte der Junge sich um und sah, wie Paul eine Steinschleuder in der Jacke verschwinden ließ, während er unauffällig wegschaute. Hitze brodelte im Bauch des Drachenreiters, der allerdings an Emmas Worte dachte und sich bemühte, über die Atmung ruhiger zu werden. Er hatte es endgültig satt, von diesem Kerl drangsaliert zu werden. Es kostete unendliche Beherrschung, nicht auf ihn loszustürmen. Aber es musste noch eine andere Lösung geben als eine Prügelei. Mit zusammengepresstem Kiefer sowie geballten Fäusten atmete Ben ein letztes Mal tief ein und aus, dann stellte er sein Rad ab. Betont langsam schlenderte er auf Paul zu, der ihm frech entgegengrinste. »Hi Paul, ich weiß, dass du das warst! Hast mein Mitgefühl! Du kriegst so wenig Aufmerksamkeit, dass du immer das Arschgesicht spielen musst. Vielleicht bist du gar kein so übler Typ?«
»Hä? Wie bist du denn drauf? Hast wohl Schiss vor mir?«
»Glaub mir, ich könnte dich binnen Sekunden flachlegen! Aber ich will es nicht. Was hältst du davon, wenn wir uns gegenseitig einfach in Ruhe lassen?«
»Du hast ’nen Knall! Tickst nicht mehr ganz richtig da oben!« Paul tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn.
»Nein, ich meine das ernst. Warum sollen wir uns prügeln?«
»Weil’s Spaß macht!« Kaum sprach Paul die Worte aus, schoss seine Hand vor und zielte auf Bens Kinn.
Der hatte das jedoch geahnt und hielt blitzartig die Faust des Angreifers fest. »Mensch, du bist echt ein Idiot! Hast keine Freunde, das ist dein Problem!«
Mürrisch schüttelte Paul die Hand ab. So etwas wie Unsicherheit flackerte in seinem Blick auf.
Ben gab noch nicht auf. »Wenn du so weitermachst, kriegst du niemals Freunde! Alle haben nur Angst vor dir.«
»Kann dir scheißegal sein!« Aggressiv hielt Paul eine Faust hoch.
Bevor der Junge weiteren Mist machen konnte, schlug Ben vor: »Wir könnten mal zusammen ins Kino gehen? Ich erklär dir dann, wie man Freunde kriegt.«
Pauls Kinnlade klappte nach unten. Er starrte den Jungen an. »Äh … Wie? Du und ich? Ins Kino?«
»Genau! Du darfst den Film aussuchen. Überleg es dir!«
»Du verarschst mich, eh?«
»Nein! Hast du Lust dazu?«
»Bei dir piept’s wohl!« Paul zeigte Ben einen Vogel.
Der gab trotzdem noch nicht auf. »Du findest nie Freunde, wenn du weiter so ätzend bleibst! Ich möchte Freunde haben, die mich mögen und gern mit mir zusammen sind. Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Die nicht aus Angst nett zu mir sind. Du etwa nicht?«
»Ähm, schon!«
»Verändere dich!«
»Hä?«
»Pass auf, Paul! Ich hab nicht ewig Zeit. Ich erklär dir das mal in Ruhe. Sag mir Bescheid, welchen Film du sehen willst und wann. Muss jetzt los, komme sonst zu spät zum Karate.« Ben drehte sich um und stellte verblüfft fest, dass er das gut hinbekommen hatte. Auch wenn er null Bock auf einen Kinobesuch mit diesem dämlichen Typen verspürte, war er dennoch zufrieden mit sich selbst. Er schien tatsächlich ein Krieger des Lichts zu sein!
*
Später kam Emma zu Ben. Am nächsten Tag stand eine Deutscharbeit auf dem Programm und dafür trafen sie sich zum Lernen.
Als der Freund vom Vorfall mit Paul erzählte, fiel Emma ihm freudig um den Hals. »Du bist super! Das war toll von dir! Ich bin richtig stolz auf dich! Die aus Fanrea wären es auch! Du hast verstanden, dass du deine Macht nicht ausnutzen darfst.«
Selbstgefällig grinste Ben. »Ich bin klasse, ich weiß! Deshalb müssen wir jetzt auch nicht lernen, oder?«
»Oh doch!« Sie schob ein Gedicht rüber. »Komm, fang an!«
Der Junge fluchte: »So ein Mist! Prometheus! In Fanrea müsste ich jetzt nicht über Goethe nachdenken! Da würde ich mit Glenn Fische fangen oder mit Nijano über die Berge fliegen.«
»Wir sind aber nicht in Fanrea, sondern auf der Erde. Du meckerst schon wie Leni. Los, was sagt dir der Name Prometheus?«
»Das war dieser Typ aus der griechischen Sagenwelt. Der, der die Menschen aus Ton geformt hat und ihnen das Feuer brachte. Zur Strafe wurde er von Zeus an einen Felsen gekettet. Jeden Tag aufs Neue hackt ihm ein Adler die Leber aus dem Körper, die dann wieder nachwächst.«
Emma verzog das Gesicht. »Bäh! Ja, genau! Müsste dir eigentlich gefallen, das Gedicht. Ist schön brutal. Weiter! Welche Reimform?«
»Äh, hm!« Ben starrte auf den Text. »Ähm?«
»Genau! Keine! Das Gedicht ist reimlos. Verszahl und Metrum?«
»Öhm! Keine Ahnung, was du von mir willst.«
Das Mädchen lachte. »Mensch, Krieger, lass dich nicht so verunsichern. Ungleiche Verszahl und kein regelmäßiges Metrum.«
»Na, dann ist ja alles geklärt! Können wir uns jetzt den angenehmen Dingen des Lebens zuwenden?« Ben lehnte sich zurück und streckte die langen Beine aus.
»Zum Beispiel?«
»Essen!«
In dem Moment schlich Mattes ins Zimmer, der versuchte, seinen Bruder und Emma zu erschrecken. Das gelang ihm allerdings nicht, da deren Sinne seit Fanrea geschärft waren. Beleidigt zog Mattes eine Schnute und brummte: »Ich hab Hunger! Mama hat nur so einen matschigen Auflauf dagelassen, den will ich nicht. Papa musste zu einer Kuh, die Koliken hat.«
Triumphierend schaute Ben zur Freundin. »Sag ich doch: Essen! Wir müssen uns jetzt um Mattes kümmern. Sollen wir uns Pfannkuchen machen?«
»Au ja!«, freute sich Mattes.
»Nee, erst noch Goethe!«, protestierte das Mädchen.
Aber die Jungen rannten schon aus dem Zimmer und ignorierten den Einwand.
*
In Frankreich erklärte Ronaldo, der Fuchsmann, seinem Schüler Samuel, wie der Generator funktionierte. Dieser diente dazu, die Stromversorgung auf Schloss d’Aigle im Notfall zu gewährleisten. Danach zerlegten die beiden einen Oldtimer von Magor. Der alte Porsche 550 Spyder von 1955 stand in einer großen Garage, in der des Zauberers Lieblingsstücke standen. Vom Jaguar E-Type bis zur Cobra, lauter Oldtimer, die Ronaldo liebevoll restaurierte.
Wissbegierig verfolgte Samuel jeden Griff des Fuchsmannes und lauschte fasziniert dessen Erläuterungen. Stundenlang drehten sich ihre Gedanken sowie Gespräche ausschließlich um Nockenwellen, Vergaser, Zündkerzen, Ansaugstutzen und Keilriemen. Als sie eine kleine Pause machten, bewunderte Samuel die restlichen Modelle und strich vorsichtig über den Lack eines Ferraris. Schließlich bestaunte er einen Mercedes. »Das ist mein Lieblingsstück, der 190 SL.«
»Der ist von 1961. Ich mag den Aston Martin am liebsten.« Grinsend deutete Ronaldo mit seiner behaarten Hand auf den Wagen. »Mein Name ist Bond – James Bond!*«
»Wodka-Martini. Geschüttelt, nicht gerührt!*« Die beiden lachten miteinander.
»Wir könnten heute Abend noch einen Bond-Film anschauen«, schlug Ronaldo vor. »Oder weiter an deinem Sonnenenergiespeicher bauen.«
»Beide Ideen gefallen mir. Sag mal, kennst du Greenpeace?«
Ronaldo nickte. »Klar, ich hab denen schon ein paar Mal aus der Klemme geholfen.«
»Die kennen dich persönlich?«
»Natürlich nicht! Nur meine Stimme«, erwiderte der Fuchsmann grinsend.
»Ich würde gern bei denen mitmischen.«
»Tu das, du bist ein Mensch! Ich helfe dir aus der Ferne. Die Leute von Greenpeace leisten Großartiges, ich unterstütze sie gern. Magor hat ihnen schon viel Geld gespendet.«
»Echt?«
»Ja, er hasst es, wie die Erde zerstört wird.«
Samuel seufzte. »Mich beschäftigt das mit dem Atommüll. Wie können Menschen mit Atomkraft arbeiten, ohne zu wissen, wohin mit dem radioaktiven Müll? Ben hat mir damals von der Erde erzählt, aber ich konnte mir kaum vorstellen, wie schlimm es hier ist. Warum tut niemand etwas gegen eure Missstände? Ihr rast mit Vollgas auf den Abgrund zu und zieht die Bremse nicht. Ich verstehe die Menschen nicht!«
»Ich auch nicht! Wenn jeder nur an sich selbst denkt, dann endet es so wie auf der Erde.«
»Manchmal frage ich mich, ob ich nicht doch lieber in Fanrea leben will.« Nachdenklich rieb Samuel die Stirn.
»Kann ich verstehen.«
Da fiel Samuel die Bitte vom Drachenreiter ein. »Sag mal, kannst du etwas für Ben herausfinden? Als ich bei ihm zu Besuch war, bat er mich, dich etwas zu fragen.«
»Bestimmt kann ich das! Schieß los, was soll ich tun?«
»Bei seinem letzten Aufenthalt in Fanrea hat er entdeckt, dass er einen Zwillingsbruder hat. Er möchte wissen, ob der auf der Erde lebt.«
»Also wie jetzt? Du meinst nicht den Bruder Richard, der du ja nun bist, sondern da gibt es noch einen anderen Bruder? Hab ich das so richtig verstanden?«
»Ja, sie wurden direkt nach der Geburt getrennt, aber Ben hat keine Ahnung, wohin sein Zwilling gebracht wurde.«
Ronaldo schüttelte den behaarten Kopf. »Was für verworrene Familienverhältnisse! Ein toter Bruder, der aufersteht und dann ein anderer ist. Ein Zwillingsbruder, den Ben nicht kennt. Zwei verschiedene Eltern. Um Himmels willen!«
»Und? Kriegst du es denn hin?«, bohrte Sam und konnte das Grinsen nicht unterdrücken.
»Das dürfte kein Problem sein. Ich habe Fotos, ebenso alle erforderlichen Daten von Ben, also kann es nicht schwer werden, den Zwillingsbruder zu finden. Falls er auf der Erde wohnt.«
»Danke!«
Die Stunden verflogen, während sie an den Autos bastelten, und Samuel empfand Glück, ein Mensch zu sein. Es gelang ihm nicht oft, so unbeschwert zu sein, aber jetzt gerade war er es. Ronaldo und Samuel lagen unter dem Porsche, an dem sie schraubten, als Nala hereinstürmte.
»Wir sind zurück! Mission erfolgreich abgeschlossen!« Sie kniete nieder und musterte die beiden Schmierfinken. »Gut seht ihr aus!«
Die beiden verdreckten Kerle schoben ihre Rollbretter unterm Auto hervor. »Dann muss ich jetzt wohl zum Chef. Er braucht mich bestimmt!«, murmelte Ronaldo und stand auf.
»Ich denke, ja! Er wollte zu dir in den Computerraum«, bestätigte Nala.
Als Samuel ebenfalls hochkam, schaute Nala ihn erwartungsvoll an. »Was machen wir zwei? Sollen wir schwimmen oder ins Angestelltendorf reiten und Agatha helfen?«
»Wir reiten zu Agatha«, bestimmte Samuel.
»Ich habe angefangen, mit Magor das Fliegen zu trainieren. Er ist überzeugt davon, dass ich es lernen kann, da ich das Element Luft bin. Aber ich bezweifle das.«
»Hat es denn gar nicht geklappt?«
Nala zuckte mit den Schultern. »Na ja, zwei Zentimeter hochschweben kann man nicht fliegen nennen.«
»Ein bisschen Geduld wäre vielleicht nicht schlecht, oder?«
»Hm, das ist nicht gerade meine Stärke!« Sie rümpfte die Nase.
Als die beiden das Schlossdorf erreichten, kam ihnen der Schatzjäger Jeremy entgegen, der einen Rucksack trug und sie anstrahlte. »Hi, ihr! Gut, dass ich euch treffe, da kann ich mich direkt von euch verabschieden!«
»Wohin gehst du denn?«, fragte das Mädchen erstaunt.
»Mich zieht es in die Ferne, ich bin kein sesshafter Typ.«
»Und Agatha?« Stirnrunzelnd betrachtete Nala Jeremy.
»Wir sind doch nicht verheiratet! Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich frei wie ein Vogel lebe. In Südamerika liegen jede Menge Schätze herum, da muss ich hin. Es sind Monate vergangen, seit ich Hydraxia verlassen habe. Ich bin schon viel zu lang an einem Ort.«
Samuel strich die Haare aus der Stirn. »Na dann, viel Glück! Sehen wir uns wieder?«
»Vielleicht? Wer weiß das schon?«
Mit blitzenden Augen musterte sie ihn. »Irgendwie bist du ein windiger Typ, Jeremy. Was Agatha nur an dir findet?«
»Sehr direkt, junge Dame! Aber besser als heucheln. Tröstet meine Agatha, vielleicht komme ich ja wieder.«
»Ich hoffe, nicht!« Drohend stemmte die dunkelhäutige Schöne die Hände in die Taille. »Besser, sie sieht dich nie mehr und vergisst dich!«
»Ach, ihr Mädels seid alle gleich! Träumt von ewiger Liebe und Treue, verliebt euch aber in die Streuner. Bis dann!« Jeremy hob die Hand an die Stirn und marschierte davon.
Kopfschüttelnd sah Samuel ihm hinterher. »Echt krasser Typ!«
»Sackgesicht! Dem werde ich es zeigen!« Nala hob ihre Hände und drehte die Finger.
Aber Samuel hielt sie fest. »Lass das! Du sollst die Magie nicht missbrauchen, weil du wütend bist. Komm, wir trösten lieber Agatha.«
*
Im Reservat flogen die Tage mit Annie nur so dahin. John half ihrem Vater bei der Pferdezucht, wo er sein neu erworbenes Wissen aus Spanien einbringen konnte. Gemeinsam versuchten Annie und John die Bewohner des Reservates zu überzeugen, frisches Obst sowie Gemüse im nächsten Frühjahr selbst anzubauen. Auch wenn das Anpflanzen auf dem kargen Boden viel Mühsal bedeutete.
Vor dem Haus erntete Annie seit Jahren Kartoffeln, Erbsen, Möhren, Tomaten, Süßkartoffeln und anderes Gemüse. Auch Äpfel, Melonen, Pfirsiche, Cranberries und Trauben wuchsen prächtig unter ihren Händen. Mit Stolz kochte sie für ihre Eltern und die vier Geschwister köstliche Gerichte, bei denen sie ausschließlich Zutaten aus dem eigenen Garten verwendete. Diesem Beispiel folgten die Bewohner des Reservates nur zögerlich.
John unterstützte Annie darin, die Indianer aus der Lethargie zu reißen. Gegen den Alkohol konnten sie nicht ankämpfen, deshalb blieb das vorrangige Ziel, die Menschen zu mehr Initiative zu bewegen. Gleichzeitig sollten sie über gesunde Ernährung nachdenken. John schüttelte es, als er feststellte, wie viel Konservennahrung die Indianer aßen.
Heute begleitete John Annie zu einem traditionellen Powwow*, an dem sie teilnahm. In dem bestickten Lederkleid sah sie wunderschön aus. Kaum konnte John den Blick von ihr wenden. Immer wieder musterte er sie fasziniert und musste sich eingestehen, dass er sie äußerst anziehend fand. Ihr Kleid besaß lange Fransen, war aufwendig mit leise klingelnden Glöckchen und Perlen bestickt, deren Muster verschiedene Tiere darstellten: Bär, Adler und Wolf. Dazu trug Annie Beinlinge und verzierte Mokassins.
Telling Bear lieh John seinen Hirschlederanzug, der mit Stachelschweinborsten, Fransen und blauen Holzperlen verarbeitet worden war.
»John, du siehst toll aus! Endlich wie ein waschechter Indianer!« Annies Augen leuchteten, als sie ihm das Kompliment machte.
»Kein Vergleich zu dir! Hast du das Kleid etwa selbst angefertigt?«
»Ja! Es ist aus Hirschleder. Ich habe es erst gegerbt und danach monatelang daran gearbeitet.«
»White Bird, weißt du eigentlich, wie hübsch du bist? Ich bin tatsächlich mit dem schönsten Mädchen des Powwows unterwegs.«
Errötend schüttelte Annie den Kopf. »Du Spinner!« Doch sie strahlte vor Glück.
Die beiden mischten sich unter die anderen Teilnehmer, von denen sie freundlich begrüßt wurden. John legte den Arm um Annie, die er durch die Menge Richtung Tanzfläche schob.
Der Wettbewerb ging los. Schließlich war Annie dran. In der Mitte des Tanzbodens stand sie, selbstbewusst und schön, ihre Augen suchten Johns. Als die Blicke sich endlich trafen, lächelte die Indianerin, trotz der Anspannung, die langsam in ihr hochstieg. Dann begann sie. Der Klang der Trommeln dröhnte durch den Raum und erzeugte einen ganz eigenen Zauber. Annie nahm den Rhythmus auf, wirbelte im Kreis, sodass die Glöckchen laut klingelten, stampfte mit den Füßen im Takt. Immer schneller drehte sie den Körper. Die Zöpfe flogen hoch, ihr Rock bauschte sich, sie wiegte vor und zurück, verschmolz mit dem Klang der Trommeln.
Bewundernd beobachtete John sie. Ungezähmt und wild wirkte sie, doch zugleich zart und weiblich. Das Indianerblut in ihm regte sich. Der Rhythmus der Trommeln pulsierte in seinen Adern, John konnte kaum noch stillstehen. Er sah nur noch Annie, die herumwirbelte. Unwillkürlich begannen seine Füße im Takt zu wippen, er konnte dem magischen Ruf nicht länger widerstehen. John spürte den Sog der Trommeln und des Blutes. Er war ein Lakota! Diese Erkenntnis füllte sein Herz mit Stolz.