Читать книгу Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren - A. F. Morland - Страница 19

Verhängnisvolles Geheimnis

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Marion Kolbe starrte ihren Mann Arne stumm an. Hatte er wirklich recht? Würde ihre Ehe, die sie nun seit acht Jahren führten, vor dem Scheidungsrichter enden, wenn nicht noch ein Wunder geschah? Auf Wunder war selten Verlass. Aber an eine endgültige Trennung wollte Marion nicht denken. Sie liebte Arne doch, und auch er beteuerte immer wieder, an keiner anderen Frau interessiert zu sein. Warum erlitten sie trotzdem mit dieser Partnerschaft Schiffbruch?

"Wir leben aneinander vorbei", hörte sie Arne sagen. "Wir haben beide unseren Beruf, der uns wichtig ist."

"Wichtiger als unsere Liebe?", warf Marion ein.

Der 39-jährige fuhr sich nervös durchs volle, dunkelbraune Haar.

"Vielleicht, wenn wir Kinder hätten", murmelte er.

Marion wandte sich ab. Wollte er ihr einen Vorwurf machen? Ein Kind war nicht nur sein größter Wunsch gewesen, den zwei Fehlgeburten zerstört hatten. Was blieb einer Frau, die nicht Mutter werden konnte, anderes übrig, als sich in den Beruf zu flüchten. Der Erfolg als Innenarchitektin gab ihr wenigstens in diesem Punkt recht.

"Lass es uns noch einmal versuchen", bat sie eindringlich. "Für einen Neubeginn kann es nicht zu spät sein. Was hältst du zum Beispiel von einer gemeinsamen Reise?"

"Nach Bali?", griff Arne ihren Vorschlag sofort auf, und seine Stimme klang lebhaft.

Marion lächelte. Bei ihrer Hochzeitsreise hatten sie beide von Südostasien geträumt. Damals widersprach dieses Ziel ihren finanziellen Möglichkeiten. Aber heute könnten sie es sich leisten. Sie würde sicher kurzfristig Urlaub bekommen.

"Wir hätten endlich Zeit für uns", schwärmte sie und blickte ihren Mann beschwörend an. Sicher würde er wieder dringende Termine vorschieben. Seit er sich zusammen mit einem alten Schulfreund selbständig gemacht hatte, fühlte er sich unentbehrlich. Dabei lief der Betrieb ohne Frage auch einmal ein paar Wochen ohne ihn.

"Einverstanden", erklärte Arne zu ihrer Überraschung. "Gleich morgen besorge ich im Reisebüro Unterlagen. Dann können wir bereits am Wochenende fliegen."

Marion fiel ihm um den Hals.

"Wir schaffen es", flüsterte sie erregt. "Du wirst sehen, in Zukunft machen wir es besser."

Nur zu gerne schloss sich Arne dieser Hoffnung an. Er war zu einem Neubeginn bereit. Bali würde die hilfreiche, romantische Kulisse dazu bieten. Bali war besser als Scheidung. Viel besser!

Nach dem Abendessen zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, um seinen Freund und Partner Dietmar Reichelt anzurufen und ihn über seine bevorstehende Abwesenheit zu informieren.

"Da hast du aber einen ausgesprochen ungünstigen Zeitpunkt gewählt, mein Lieber", fand dieser. "Du weißt, dass sich die Japaner angesagt haben."

"Mit denen kommst du doch spielend zurecht."

"Sicher. Aber gerade hat Gordon Graham aus San Francisco angerufen und gebeten, ein Hotelzimmer für ihn zu besorgen. Er darf keinesfalls mit den Japanern, seiner härtesten Konkurrenz, zusammentreffen, sonst sind wir beide als Kunden los. Du musst ihn also übernehmen."

Ausgerechnet jetzt! Wie sollte er Marion klarmachen, dass während der nächsten beiden Wochen ungeheuer viel von seinem Verhandlungsgeschick abhing? Im Grunde musste er ihr recht geben. In den vergangenen Jahren war immer etwas Wichtiges dazwischengekommen, wenn sie einmal Zeit für sich selbst haben wollten. Aber Gordon war eben nicht irgendeiner. Und auf die Japaner konnte man auch unmöglich verzichten.

Solche Leute kamen nicht alle Tage, und nach Bali würden sie eben fliegen, sobald die Aufträge unter Dach und Fach waren. Ganz bestimmt! Für Marion musste er sich eine plausible Ausrede einfallen lassen. Keinesfalls durfte sie den wahren Grund erfahren.

Dass ihre Reisepläne längst wieder auf Eis lagen, ahnte Marion nicht, als sie am nächsten Tag in bester Stimmung zunächst ein paar Reisebüros aufsuchte und anschließend zu ihrem Frauenarzt fuhr, um noch vor dem Flug ein paar kleinere Beschwerden beheben zu lassen.

Der Arzt sah sie lächelnd an.

"Ich brauche Ihnen wohl nicht ausdrücklich zu sagen, dass Sie sich in der nächsten Zeit schonen müssen. Sie wollen doch Ihr Baby nicht wieder verlieren, nicht wahr?"

Marion musste sich festhalten.

"Ich bin schwanger? Ist das wirklich wahr?"

Der Mediziner nickte.

"Es gibt keinen Zweifel, Frau Kolbe. Ich freue mich für Sie, weiß ich doch, wie sehr Sie und Ihr Mann sich dieses Kind wünschen. Nun müssen Sie aber auch alles tun, um es zu behalten. Möglichst keine Anstrengungen, keine Aufregungen und natürlich keine strapaziösen Reisen."

"Wir wollten in ein paar Tagen nach Bali fliegen."

"Davon muss ich dringend abraten. Bali läuft Ihnen nicht davon."

Als Marion wieder auf der Straße stand, wäre sie am liebsten zur nächsten Telefonzelle gelaufen, um Arne die freudige Nachricht mitzuteilen. Doch dann dachte sie an seine grenzenlose Enttäuschung bei ihren früheren Fehlgeburten. Wenn sie ein drittes Mal seine verfrühten Hoffnungen zerstörte, würde dies ihre angeknackste Ehe zusätzlich so stark belasten, dass selbst Bali nicht mehr helfen könnte.

Nein, sie wollte erst die kritischen, ersten Monate verstreichen lassen. Umso größer würde später die Freude sein.

Dr. Veitinger hatte natürlich recht. Dies wäre der ungünstigste Zeitpunkt für eine solche Reise. Aber wie sollte sie ihren plötzlichen Sinneswandel erklären, ohne dass Arne Verdacht schöpfte?

Als Arne nach Hause kam, brachte sie ihm behutsam bei, dass ihre Tante Ethel schwer erkrankt sei.

"Du kennst sie ja. In einem Krankenhaus würde sie nur noch kränker werden. Sie braucht einen vertrauten Menschen, der sich den ganzen Tag um sie kümmert. Wenn wir nicht gerade jetzt nach Bali ..."

"Aber Schatz!", fiel ihr Arne ins Wort. "Hältst du mich etwa für einen Unmenschen? Natürlich verstehe ich, dass du Tante Ethel jetzt nicht im Stich lassen darfst. Sie hat ja sonst keinen, der sie versorgen könnte. Wir verschieben einfach unsere Reise. Aufgeschoben ist schließlich nicht aufgehoben. Grüße die Ärmste von mir! Sie soll schnell wieder gesund werden."

Marion atmete auf. Diese Hürde war genommen. Eigentlich erstaunlich, dass Arne nicht die geringste Enttäuschung gezeigt hatte, obwohl er gestern noch Feuer und Flamme für die Bali-Idee gewesen war. Er konnte sich doch denken, dass die angeblich so schwere Krankheit nicht in wenigen Tagen auskuriert war. Auf jeden Fall war sie entschlossen, sich in nächster Zeit zu schonen. Sie wollte dieses Baby unbedingt. Es würde alles verändern, ja, es würde ihre Ehe retten.

Während seine Frau ihren Koffer packte, schmunzelte Arne in sich hinein. So wenig er Tante Ethel diese langwierige Krankheit wünschte, so sehr passte sie gerade zum jetzigen Zeitpunkt in seinen Terminplan. Er brauchte seine fadenscheinigen Ausflüchte nicht mehr zu bemühen. Marion hätte sie ihm wahrscheinlich ohnehin nicht abgekauft. In letzter Zeit war sie so sensibel und leicht verletzbar. Als Krankenpflegerin würde sie wenig Zeit finden, über ihre Ehekrise nachzugrübeln.

"Ich bleibe nicht länger, als unbedingt nötig ist", versprach Marion beim Abschied.

Arne küsste sie besonders lange. Normalerweise war dies das Zeichen für sein schlechtes Gewissen. Aber diesmal, so sah Marion ein, hätte sie eher Grund dafür gehabt. Doch ein so sehnlichst erhofftes Ereignis rechtfertigte schließlich eine kleine Notlüge.

Tante Ethel freute sich riesig über den am Telefon angekündigten Besuch.

"Weißt du, wie lange wir uns nicht gesehen haben?", erinnerte sie mit unüberhörbarem Vorwurf. "Jetzt lasse ich dich aber so schnell nicht wieder weg. Ich brauche in so vielen Dingen deinen Rat. Ich möchte nämlich mein Haus völlig renovieren lassen. Du als Innenarchitektin kommst mir wie gerufen."

Marion sagte ihre Hilfe zu. Solange nicht von ihr verlangt wurde, auf Leitern zu klettern, Malerbürsten zu schwingen oder schwere Eichenmöbel zu verschieben, würde das Ungeborene unter ihrem Herzen es ihr wohl nicht übelnehmen.

So war sie während der nächsten Tage damit beschäftigt, gemeinsam mit Tante Ethel Musterkataloge zu studieren, Einrichtungspläne zu entwerfen und überschlägige Kostenrechnungen zu erstellen.

"Wie geht es deinem Mann?"

Marion versicherte ein wenig zu schnell, dass er sich ausgezeichnet fühle, in seiner Firma alles bestens liefe und es auch sonst keinerlei Probleme gäbe.

"Nett von ihm, dass er mit deinem Besuch bei mir einverstanden war. Du fehlst ihm doch sicher."

Marion erinnerte sich, dass Arne ihr noch zugeredet hatte. Wenn sie genauer darüber nachdachte, schien er richtig froh gewesen zu sein. Immer wieder grübelte sie über seine unerwartete Reaktion nach, und ihr Verdacht verstärkte sich zur Gewissheit: Da stimmte etwas nicht.

Am Abend rief sie ihn an.

"Ich könnte eine Krankenpflegerin für Tante Ethel engagieren", schlug sie lauernd vor.

"Und dann sitzt du daheim oder auf Bali und bist in Gedanken ständig bei der Kranken", ergänzte Arne ablehnend. "Davon halte ich gar nichts. Du würdest dir die schlimmsten Vorwürfe machen, wenn sich Tantes Zustand verschlechterte. Nein, nein, wir wollen jetzt nichts überstürzen. Vielleicht findest du Zeit, ein paar Bücher über unser Reiseziel zu studieren."

"Das mache ich", willigte Marion, keinesfalls beruhigt, ein. "Und wie geht es bei dir? Alles in Ordnung?"

"Was sollte nicht in Ordnung sein?" Sein Ton fiel ein wenig heftig aus, als fühlte er sich ertappt. Aber ertappt wobei?

"Arbeite nicht zu viel", empfahl sie. "Ich rufe dich morgen wieder an."

"Aber nicht vor zehn", bat Arne. "Dietmar und ich wollen ein neues Projekt besprechen."

Marion versprach es und legte nachdenklich den Telefonhörer zurück. Was kann das für ein wichtiges Projekt sein, bei dem er sich durch meinen Anruf gestört fühlen würde?, überlegte sie argwöhnisch. Davon hat er nie etwas erwähnt.

Als er gar am nächsten Nachmittag selbst anrief und ihr damit offensichtlich zuvorkommen wollte, schrillten bei Marion sämtliche Alarmglocken. Fürchtete er, ihr Telefonat könnte ihn in einem unpassenden Augenblick erreichen? Erwartete er gar nicht Dietmar Reichelt zu einem geschäftlichen Gespräch, sondern vielmehr eine Frau?

Marion presste die Lippen zusammen. Arne sah mit seinen 42 Jahren noch sehr gut aus, und seine beruflichen Erfolge lockten zusätzlich die hübschen Schmetterlinge an. Sie war ihm in all den Jahren zwar keinem einzigen Seitensprung auf die Schliche gekommen, doch war sie sich im klaren, dass ein Mann umso anfälliger gegen weibliche Verführungskünste wurde, je stärker es in der eigenen Ehe kriselte. War er es nicht gewesen, der die Möglichkeit einer endgültigen Trennung in Erwägung gezogen hatte? Dann musste jene Frau das ausschlaggebende Motiv sein. Wahrscheinlich hatte er die Reise nach Bali nie ernstlich antreten wollen.

Benommen schloss Marion die Augen. Das durfte nicht wahr sein. Nein, sie irrte sich bestimmt. Sie bekam doch ein Kind, auf das sie sich unglaublich freute. Sein Kind. Das Schicksal konnte unmöglich so grausam sein, ausgerechnet jetzt ihre Ehe zerbrechen zu lassen.

"Schlechte Nachrichten?" Tante Ethel betrat das Zimmer und musterte ihre Nichte besorgt.

Marion flüchtete sich in ein verkrampftes Lachen.

"Arne lässt dich grüßen. Es geht ihm gut, aber er hat den Dosenöffner verlegt. Nun fürchtet er den Hungertod."

Die Ältere ließ sich nichts vormachen.

"Ich habe doch Augen im Kopf, Mädchen. Irgendwie bist du verändert. Das merke ich schon seit Tagen. Du isst auch kaum etwas."

Marion hätte ihr den Grund dafür verraten können, doch vorläufig wollte sie das Geheimnis ihrer Schwangerschaft für sich behalten. Sie wusste noch zu gut, wie sich damals alle Freundinnen und Bekannten mit ihr auf den angekündigten Nachwuchs gefreut hatten. Diesmal sollten sie es erst erfahren, wenn es beim besten Willen nicht mehr zu verheimlichen war.

"Du hast ja recht, Tantchen", gab sie seufzend zu. "Ich möchte ein wenig abspecken. Schau mich an. Um die Hüften bin ich viel zu rund. Wenn ich nicht für Arne kochen muss, fällt mir eine Diät leichter."

"Was für ein Unsinn!", entrüstete sich die Ältere, aber sie würde nun wenigstens keinen Verdacht schöpfen, wenn Marion langsam, aber sicher fülliger wurde.

Marion wusste noch nicht, wie lange sie hierbleiben würde. Ärztlicher Rat sollte ihr bei dieser Entscheidung helfen. Aus diesem Grunde suchte sie sich einen Arzt, den sie ihre Befürchtungen einer neuerlichen Fehlgeburt mitteilte.

"Das schaffen wir schon", beruhigte Dr. Kornfeld sie. "Es war sehr vernünftig von Ihnen, auf die Fernreise vorläufig zu verzichten."

Er untersuchte sie gewissenhaft und stellte anschließend fest, dass weder ein Grund zur Verzweiflung noch zu übergroßer Euphorie bestünde.

"Sie können momentan nur abwarten und sich schonen. Halten Sie allen Stress von sich fern, und lassen Sie sich in zwei Wochen wieder anschauen."

Marion bedankte sich. Der Mann konnte gut reden. In ihr tobten tausend Ängste.

Vor allem wurde sie den Gedanken an Arnes eigenartiges Verhalten nicht los. Gestern hatte sie ihn spätabends noch angerufen und nicht erreicht. Kümmerte er sich tatsächlich um diese Zeit noch ums Geschäft?

Ein paarmal führten ihre Spaziergänge sie am Bahnhof vorbei. Sie studierte den Fahrplan und kämpfte mit sich.

Eines Morgens teilte sie Tante Ethel mit, eine Freundin besuchen zu wollen und frühestens am Abend zurück zu sein.

"Vielleicht bleibe ich auch über Nacht bei ihr. Wir haben uns lange nicht gesehen."

Marion dachte nicht daran, diese Freundin aufzusuchen. Ihr Entschluss stand fest. Sie wollte wissen, was Arne daheim trieb, wenn er sich unbeobachtet glaubte.

Gegen Mittag verließ sie den Zug und nahm in Bahnhofsnähe ein Hotelzimmer. Mit dem Bus fuhr sie in die Gegend, in der sich der Betrieb ihres Mannes befand. Das letzte Stück ging sie zu Fuß. Sie aß in einem nahegelegenen Restaurant, wobei sie sich für einen Fenstertisch entschied. Dort saß sie fast zwei Stunden, sah Dietmar Reichelt, Arnes Partner, und Dutzende von Mitarbeitern das Gebäude verlassen. Arne befand sich nicht unter ihnen.

Sie konnte hier nicht ewig sitzen. Daher wechselte sie in ein anderes Lokal, trank dort drei Säfte und zwei Mineralwasser, aß wieder eine Kleinigkeit und wartete, dass Arne endlich erschien.

Geraume Zeit nach Betriebsschluss gab sie es auf. Zuvor hatte sie in seinem Büro angerufen, aber nur den Anrufbeantworter in der Leitung gehabt. Arne war demnach an diesem Nachmittag überhaupt nicht an seinem Arbeitsplatz gewesen.

In den vergangenen Jahren hatte seine Firma stets an erster Stelle bei Arne rangiert. Dass er ihr plötzlich fernblieb, obwohl nach seiner Darstellung ohne ihn dort nichts richtig funktionierte, musste einen besonderen Grund haben. Marion wollte schwören, dass dieser Grund auf einen weiblichen Vornamen hörte.

Sie rief ein zweites Mal an, diesmal aber zu Hause. Wenn Arne an den Apparat ging, brauchte sie ja nicht zuzugeben, dass sie sich in der Stadt aufhielt.

Aber auch hier war nur der Anrufbeantworter eingeschaltet. Marion meldete sich nicht, und legte wieder auf.

Wo war Arne? Er würde doch nicht auf die verhängnisvolle Idee verfallen sein, sie bei der Tante zu besuchen? Dann würde nicht nur ihr Schwindel von der angeblichen Pflegebedürftigkeit Tante Ethels auffliegen. Arne würde sich auch fragen, wohin sie gefahren war.

Ein letztes Mal drehte sie die Telefonscheibe.

"Bist du's, Tantchen? Ich wollte dir nur sagen, dass ich heute nicht mehr zurückkomme. Es wird zu spät. Ist bei dir alles in Ordnung?"

"Mache dir um mich keine Sorgen, Kind", hörte sie Tante Ethel zu ihrer Erleichterung antworten. "Ich bin gerade dabei, Vorhangstoffe für das Wohnzimmer auszusuchen. Ich bin gespannt, was du zu meinen Vorschlägen sagen wirst."

Kein Wort von Arne.

Von einem Taxifahrer ließ sich Marion in die Nähe ihres Hauses bringen. Sämtliche Fenster waren dunkel. Ob Arne die Nacht über wegblieb?

Kurz darauf fuhr sein Wagen vor. Marion beobachtete von einer Telefonzelle aus, wie er ausstieg und das Fahrzeug umrundete. Hier öffnete er die Beifahrertür und half einer schwarzhaarigen, noch ziemlich jungen und ungemein attraktiven Frau beim Aussteigen. Gemeinsam durchquerten sie den Vorgarten, bevor sie im Haus verschwanden.

Marion starrte auf die Fenster, hinter denen Licht aufflammte. Jetzt betraten sie das Wohnzimmer. Wahrscheinlich schaltete Arne die Stereoanlage ein, holte eine Weinflasche aus dem Keller und flüsterte seiner Geliebten ins Ohr, wie atemberaubend sie aussähe.

Vor der Telefonzelle ging ein Mann ungeduldig auf und ab, bevor er die Tür öffnete.

"Was ist nun?", erkundigte er sich ärgerlich. "Wollen Sie hier übernachten?"

Marion griff hastig nach dem Hörer und warf ein paar Münzen ein.

"Kolbe. Guten Tag. Dieser Anschluss ist zur Zeit nicht besetzt. Falls Sie eine Nachricht hinterlassen wollen ..."

Marion hängte ein. Arne wollte also nicht gestört werden. Die Technik hielt ihm unliebsame Anrufer vom Hals, damit er sich seiner Eroberung widmen konnte.

Sie verließ die Zelle und eilte davon. Dabei achtete sie nicht auf die Richtung. Nur fort von hier. Fort von diesem Lügner, der ihr die Bereitschaft zu einem Neubeginn vorgespielt hatte, obwohl sicher längst diese andere Frau in seinem Kopf herumspukte.

Sie fühlte sich sterbensunglücklich. Ihr wurde bewusst, dass sie ein Kind von diesem Schuft erwartete. Dadurch wurde alles nur noch schlimmer. Sollte sie sich jetzt noch darauf freuen? Sie würde es allein aufziehen müssen. Tag für Tag würde das Kleine sie an ihre gescheiterte Liebe erinnern. Würde sie das ertragen?

"Du kommst zu spät", murmelte sie unter Tränen. Dann hastete sie auf die hohe, steinerne Brücke zu, die wie ein Schemen vor ihr aufwuchs. Eine Treppe führte hinauf. Eine Treppe mit fast hundert Stufen. Als sie oben angelangt war, ließ sie sich einfach fallen ...

*


In einiger Entfernung klappte eine Autotür. Ein Mann näherte sich.

"Haben Sie sich verletzt?"

Marion erkannte die Stimme. Es handelte sich um einen Geschäftsinhaber, bei dem sie gelegentlich einkaufte.

Sie war nur ungefähr zwanzig Stufen hinuntergestürzt. Rasch stand sie auf und nahm die Stufen ein zweites Mal. Tief unter ihr rief der Mann noch immer, ob er ihr helfen könne. Sie wandte ihm nicht das Gesicht zu. Niemand ihrer Bekannten durfte wissen, dass sie sich in der Stadt aufhielt.

Der Mann an der Hotelrezeption warf ihr einen fragenden Blick zu. In ihrem Zimmer stellte sie fest, dass ihre Strumpfhose zerrissen war und die linke Wange eine Schramme davongetragen hatte.

Und das Baby? Würde dieser Sturz genügt haben, um die Fehlgeburt auszulösen.

Plötzlich fürchtete sich Marion davor. Sie spürte, dass sie alles falsch gemacht hatte. Sie hätte nicht herkommen, hätte diese Frau nie sehen dürfen.

'Vermeiden Sie jede Aufregung', hörte sie Dr. Veitinger mahnen. Aber sie fand in dieser Nacht ihre Ruhe nicht mehr.

Am nächsten Morgen nahm sie den ersten Zug.

Natürlich entdeckte Tante Ethel sofort die Schramme.

"Was hast du denn wieder angestellt?", forschte sie.

Marion behauptete, sich die unbedeutende Verletzung im Bahnhofsgedränge zugezogen zu haben und war froh, dass die Tante diese Erklärung akzeptierte.

"Arne hat gestern Abend noch angerufen. Leider wusste ich nicht, zu welcher Freundin du gefahren bist. Nächstes Mal solltest du mir ihre Telefonnummer hinterlassen."

"Was wollte er denn?", fragte Marion erschrocken. Ob sie über Tantes Gesundheitszustand gesprochen hatten?

"Nichts Besonderes. Er hatte wohl nur Sehnsucht nach dir. Es war schon ziemlich spät. Ich lag bereits im Bett. Mir war gar nicht gut. Ich hätte den Dosenfisch abends nicht mehr essen sollen."

Sehnsucht! Da war wohl eher das schlechte Gewissen die Triebfeder für diesen Anruf.

Sie versuchte, Arne im Büro zu erreichen, und diesmal klappte es.

"Du warst gestern Abend nicht daheim?", klang es vorwurfsvoll.

"Den ganzen Tag nicht. Tante Ethel ging es etwas besser. Da bin ich zu einer Freundin gefahren."

"Ja, ich weiß. Tantchen jammerte allerdings, dass sie sich miserabel fühle. Wie lange wirst du noch bei ihr bleiben müssen?"

Aha! Er wollte wissen, wann sie zärtliche Musik und Weinkeller wieder für sich selbst zu beanspruchen gedachte.

"Das kann ich noch nicht genau sagen", wich Marion aus und fragte sich, warum ihr Arne nicht einfach die Wahrheit gestand.

"Ich frage nur wegen der Reisevorbereitungen. Wir müssten uns auch noch impfen lassen."

"Ich weiß", entgegnete Marion matt, "aber einige Zeit wird es wohl noch dauern, ehe ich hier weg kann."

"Hm!" Arne schien zu überlegen. "Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich für ein paar Tage verreiste. Geschäftlich", fügte er hinzu. "Ich habe in den Staaten zu tun, und Dietmar ist im Moment unabkömmlich."

Wem wollte er dieses Märchen weismachen? In den letzten Jahren hatte er sich nie darum gekümmert, ob ihr seine Abwesenheit, aus welchen Gründen auch immer, etwas ausmachte.

"Kann ich dich telefonisch erreichen?", fragte Marion nur.

"Das wird schwierig sein, zumal die Zeitverschiebung in Kalifornien berücksichtigt werden muss."

Marion schluckte. Er sprach von Bali und genoss die sonnigen Strände an der Pazifikküste. Sie wusste genau, wer ihn begleiten würde.

Wir bekommen ein Baby!, hätte sie am liebsten in den Telefonhörer geschrien. Du hast eine Familie. Aber sie wünschte ihm nur einen angenehmen Flug, beendete das Gespräch und legte die Hand auf ihren Leib.

Der absichtlich herbeigeführte Treppensturz hatte seine Wirkung verfehlt. Es sollte wohl nicht sein. Dieses Kind war ihr bestimmt.

Vielleicht hätte sie getrost nach Bali fliegen können. Aber wäre dadurch etwas anders geworden? Es war Arnes Entscheidung, nicht die ihre. Er war gewohnt, Entscheidungen zum Vorteil der Firma, zu seinem eigenen Vorteil zu treffen.

Ein leises Ziehen tief in ihrem Inneren ließ sie erschrecken. Schleunigst suchte sie Dr. Kornfeld auf, erzählte ihm, dass sie auf einer Treppe gestolpert und gestürzt sei. Er machte ein bedenkliches Gesicht und verordnete ihr ein paar Tage strikter Bettruhe.

"Was fehlt dir denn?", forschte Tante Ethel betroffen.

"Eine leichte Lebensmittelvergiftung", behauptete Marion. "Es war wohl die Mayonnaise, die ich bei meiner Freundin gegessen habe." Dabei wich sie Tantchens Blick aus.

Die Frau baute sich vor ihr auf und stemmte beide Fäuste gegen die Hüften.

"Bist du nun so ahnungslos", fauchte sie, "oder willst du nur mich für dumm verkaufen? Ich rate dir zu einem Schwangerschaftstest. Wahrscheinlich erlebst du eine Überraschung."

"Ach, Tantchen!", schluchzte Marion los. Und als sie die beruhigende Hand auf ihrem Rücken spürte, flüsterte sie: "Hoffentlich geht alles gut!"

"Weiß Arne es schon?"

Marion schüttelte den Kopf.

"Ich will ihm keine verfrühten Hoffnungen machen. Ein Mann kann Enttäuschungen schlechter ertragen als eine Frau."

Sie gestand, dass sie der Tante eine schwere Krankheit angedichtet hatte, um Zuflucht und Ruhe bei ihr zu finden.

"Falls du wieder einmal mit Arne telefonierst, darfst du mich keinesfalls verraten."

Tante Ethel versprach es und wusste von alten Hausmitteln zu berichten, die sich bei komplizierten Schwangerschaften bewährt hätten.

Ob sie auch eine Wundermedizin gegen verkorkste Ehen kannte? Über dieses Problem verlor Marion kein Wort. Das ging nur sie selbst und Arne etwas an.

Die Tante meinte es mit ihrer mütterlichen Fürsorge zweifellos gut, doch Marion ging das ewige Umhegtwerden auf die Nerven. So hielt es sie auch nicht lange im Bett. Sie musste hinaus. Bei stundenlangen Spaziergängen hing sie ihren düsteren Gedanken nach.

Es wurde Zeit, sich über ihre Zukunft klar zu werden. Wenn das Baby erst einmal auf der Welt war, würde sie längere Zeit nicht mehr ihren Beruf ausüben können. In fremde Hände wollte sie es keinesfalls geben. In finanzieller Hinsicht brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, doch diese Frage hielt sie längst nicht für die wichtigste.

Früher oder später musste Arne erfahren, dass er Vater wurde. Marion wollte aber nicht, dass er sich wegen des Kindes für sie entschied. Darin sah sie keine Basis für ein dauerhaftes Glück. Schon aus diesem Grunde musste sie ihren Zustand auch weiterhin vor ihm geheimhalten.

Was er jetzt wohl tat? Brachte er seiner rassigen Geliebten das Windsurfen bei? Oder lagen sie nur faul am Strand, schlürften eisgekühlte Cocktails und bildeten sich ein, dass sie von alledem nichts ahnte?

"Ist das nicht die kleine Marion aus der 10b?", wurde sie von hinten angesprochen.

Marion wirbelte herum. Der Mann mit dem strahlenden Lächeln kam ihr bekannt vor. "Wilfried?"

Es war tatsächlich Wilfried Breitmeier, mit dem sie vor Jahren gemeinsam die Schulbank gedrückt hatte. Er lud sie ins Café ein, was Marion nicht ablehnte. Es brachte sie vorübergehend auf andere Gedanken. Wilfried redete pausenlos. Er war weit in der Welt herumgekommen.

"Kennst du Kalifornien?", entfuhr es Marion.

Er nickte eifrig, fand aber, dass es verlockendere Reiseziele gäbe.

"Thailand zum Beispiel, Bali oder die Malediven."

Die Erwähnung der Sundainsel versetzte Marion einen schmerzhaften Stich. Sie war froh, nur die Zuhörerin spielen zu müssen. Der Schulfreund von einst war viel zu sehr damit beschäftigt, sich selbst in ein abenteuerliches Licht zu rücken, als dass er ihre Verfassung durchschaut hätte.

Er wollte sich für den nächsten Tag mit ihr verabreden, doch Marion behauptete, schon etwas anderes Unaufschiebbares vorzuhaben. An neuen Problemen war sie nicht interessiert.

Aber genau die brauten sich schon bald über ihrem Kopf zusammen, ohne dass sie etwas davon ahnte.

*


Arne befand sich in Hochstimmung, als er in San Francisco ins Flugzeug stieg und Stunden später in Frankfurt landete. Die zähen Verhandlungen hatten sich endlich doch gelohnt.

Gordon Graham war ein raffinierter Fuchs. Er hatte seine verführerische Tochter Priscilla nach Deutschland geschickt, zweifellos in der Hoffnung, durch diesen Schachzug günstigere Konditionen herausholen zu können. Nun, Priscilla hatte sich auch alle Mühe gegeben, ihren unbestreitbaren Charme gewinnbringend in die geschäftliche Waagschale zu werfen. Doch am Ende war er ihr nur um die ohnehin einkalkulierten Prozente entgegengekommen.

Zur endgültigen Vertragsunterzeichnung hatte er die Amerikanerin nach San Francisco begleitet, wo er von Gordon Graham als Gast empfangen worden war. Der clevere Geschäftsmann hatte ihm seine Hochachtung nicht verwehrt. In ihm war für die Zukunft ein wertvoller Kunde gewonnen worden.

Von Dietmar wusste Arne, dass dieser auch mit den Japanern einig geworden war. Zwei erfolgreiche Wochen lagen hinter ihnen. Nun durfte er sich mit gutem Gewissen für einige Zeit auf Bali erholen.

Als er das Flughafengebäude verließ, um das Parkhaus aufzusuchen, stieß er mit einem Bekannten zusammen.

"So klein ist die Welt", stellte dieser überrascht fest. "Vorgestern erst sah ich deine Frau, und heute treffe ich dich."

"Marion kümmert sich um ihre kranke Tante", erklärte Arne.

Der andere grinste.

"Ist diese Tante zufällig blond, breitschultrig, trägt einen Schnurrbart und sitzt gern in Cafés? Nichts für ungut. War nett, dich getroffen zu haben." Weg war er.

Arne blieb verblüfft zurück. Was hatte das zu bedeuten? Diesen Mann kannte er nicht als Gerüchtekoch. Am nächsten Telefon wählte er Tante Ethels Nummer, und als diese sich meldete, nannte er einen falschen Namen.

"Es handelt sich um Ihre Feuerversicherung. Können Sie wohl in den nächsten Tagen in unser Büro kommen?"

Die ahnungslose Tante sagte zu, die Angelegenheit gleich heute zu erledigen. Gar so krank konnte sie also nicht sein. Marion hatte ihn angelogen. Ganz klar, dass ein anderer Mann dahintersteckte. Blond, breitschultrig, mit Schnurrbart!

Du hast recht, Tante Ethel, dachte Arne. So etwas sollte man sofort klären.

Er holte nicht sein eigenes Auto, sondern mietete einen Wagen. Marion sollte ihn nicht schon von weitem am Fahrzeug erkennen. Nach dreistündiger Fahrt erreichte er das Haus der Tante, läutete aber nicht, sondern wartete in einiger Entfernung und beobachtete die Haustür.

Es dauerte nicht lange, da hielt eine Limousine vor dem Haus. Den Mann, der ihr entstieg, sah Arne nur von hinten. Er war kräftig gebaut und besaß blondes Haar. Das musste er sein.

Auf der anderen Seite stieg Marion aus. Der Mann legte seinen Arm um sie. So gingen sie auf das Haus zu.

Nachdem sich hinter Marion die Tür geschlossen hatte, fuhr der Fremde davon.

Arne läutete Sturm. Marion öffnete ihm. Sie war bleich.

"Du?" Ihre Stimme vibrierte.

"Das hättest du wohl nicht gedacht", schnaubte Arne. "Wer ist der Kerl?"

Marion begriff schnell.

"Dr. Kornfeld. Er war so nett, mich nach Hause zu bringen, weil mir in seiner Praxis so übel wurde."

"Tatsächlich?", höhnte Arne. "Deshalb begleitet er dich wohl auch gelegentlich in Cafés. Man hat euch gesehen."

Marion lachte zaghaft.

"Ach was! Das war doch nur ein ehemaliger Schulfreund. Wir trafen uns zufällig. Aber du hast es gerade nötig, mir eine Szene zu machen. Du denkst wohl, ich wüsste nicht, mit wem du in Kalifornien warst. Sie ist sehr hübsch. Und jünger als ich. Aber eines, Arne, eines habe ich ihr voraus. Ich bin es, die dein Kind erwartet."

Das hatte sie nicht sagen wollen. Nicht ausgerechnet in einer solchen Situation.

"Ein Baby?", stammelte Arne und nahm Marion behutsam in die Arme. "Ist das wirklich wahr?"

Als Marion unter Tränen nickte, erklärte er ihr, dass sie nicht den geringsten Grund besaß, auf Priscilla Graham eifersüchtig zu sein.

"Bali ist natürlich vorläufig gestrichen", sah er ein.

"Aber es sollte doch unser neuer Anfang werden", erinnerte Marion schluchzend.

Arne küsste sie liebevoll.

"Den neuen Anfang haben wir bereits gemacht, Liebes. Nun lass uns gemeinsam daran festhalten. Dann werden wir es auch schaffen."

Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren

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