Читать книгу Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren - A. F. Morland - Страница 20

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T-Shirt und Nadelstreifen


"Ich verlasse mich auf Sie, Brockner. Kommen Sie mir ja nicht ohne diesen Auftrag zurück!" Die Worte seines Chefs klangen Gunther wie Hammerschläge in den Ohren, während er seinen Wagen durch den dichten Berufsverkehr lenkte. "Und nehmen Sie auf alle Fälle Ihre hübsche Verlobte mit", hatte Meisig verlangt. "Wenn Sie bei Andresen ohne attraktive Begleitung aufkreuzen, haben Sie schon verloren."

Genau dort lag das Problem. Uschi hatte ihm vor wenigen Tagen den Laufpass gegeben. Wegen eines anderen. Die Chance, sie auf die Schnelle zurückzuerobern, erachtete er als äußerst gering. Außerdem wollte er das auch gar nicht. Dieses treulose Luder war für ihn gestorben.

In Gedanken ging Gunther die Liste seiner Verflossenen durch. Ihm musste ganz fix etwas einfallen.

Vor sich sah er eine zierliche Blondine mit atemberaubender Figur. Sie gehörte allerdings nicht seiner Erinnerungswelt an, sonst hätte er nicht so heftig auf die Bremse treten müssen. Verflixt! Das war knapp gewesen. Hastig stieg er aus und eilte auf die Fremde zu.

"Ist Ihnen etwas passiert?"

Die ungefähr 22-jährige zwinkerte ihm fröhlich zu.

"Ziemlich gefährliche Masche, wie Sie versuchen, Frauen auf der Straße anzubaggern", fand sie. "Aber Sie haben darin wohl Übung."

Nein, sie war zum Glück unverletzt, und den Schreck schien sie auch bewundernswert verkraftet zu haben. Gunther kam eine verrückte Idee. Er erklärte ihr in knappen Worten seine Situation. Sie lachte übermütig.

"Und das ist wirklich kein Trick? Ich weiß nicht, ob ich das bringe. Verlobt war ich nämlich noch nie."

"Das gehört zu den Dingen, die man schnell lernt", versicherte Gunther. "Sie haben eigentlich nichts weiter zu tun, als hübsch zu sein und ein fantastisches Essen zu genießen."

Die Frau zögerte nur kurz, bevor sie einwilligte.

"Dann können Sie mich gleich nach Hause bringen, damit Sie wissen, wo Sie mich heute Abend abholen müssen. Aber das Eine sage ich Ihnen gleich. Unsere angebliche Verlobung endet nach diesem Geschäftsessen."

Gunther fiel ein Gesteinsbrocken von der Seele.

"Keine Angst. Ich will unserer Firma nur den Auftrag sichern. Sonst nichts."

"Na, dann ist ja alles klar, Gunther. Ich heiße übrigens Ilonka."

Er holte Ilonka ein paar Stunden später ab - und fiel vor Schreck fast rückwärts die Treppe herunter.

"Wollen Sie etwa so gehen?" Mit seinen immerhin 36 Jahren wusste er bis zu diesem Moment nicht, wie unglaublich lang Frauenbeine sein konnten. Der Mini, den sie trug, war nicht der Erwähnung wert. Umso stärker stach das Oberteil ins Auge. Knallbuntes T-Shirt und an sämtlichen Säumen ausgefranst.

"Heißes Teil, nicht wahr?", stellte sie fröhlich fest. "War aber auch nicht billig." Ihre Haare schillerten in nahezu sämtlichen Regenbogenfarben, nur orange konnte Gunther nicht entdecken. "Wir gehen in keine Disco", ächzte er. "So können Sie unmöglich ..."

"Siezt du alle deine Verlobten?", fiel ihm Ilonka ins Wort. "Warum hast du mir nicht gesagt, dass dein Geschäftsfreund ein Bestattungsunternehmer ist? Also deine Krawatte! Stammt wohl noch aus dem Nachlass deines Urgroßvaters?"

Er blickte nervös auf die Uhr.

"Wie schnell kannst du dich umziehen?"

"Geht ganz fix", versprach sie. "Nur die Frisur ist dann natürlich hinüber. Aber in einer Stunde alles in allem kriege ich das wieder hin."

Sie waren ohnehin schon spät dran. Gunther blieb nichts anderes übrig, als sich mit den Gegebenheiten abzufinden. Dass er jedoch mit Ilonka an seiner Seite einer mittleren Katastrophe entgegenfuhr, stand für ihn schon jetzt fest.

Holger Andresen hatte noch andere Gäste eingeladen. Alles seriöse Herrschaften, die nur ihrer tadellosen Erziehung wegen bei Ilonkas Anblick Haltung bewahrten. Der Gastgeber fand sogar bewundernde Worte für Gunthers 'zauberhafte Begleitung', die sich dafür mit einem heißen Blick bedankte und dem Industriellen ihre Hand länger, als nötig, überließ.

Dieser Blick und der Ledermini, der während des Essens kaum eine Handbreit von Holger Andresen entfernt war, fand den offenkundigen Unwillen von Nora Andresen. Gunther schwitzte Blut und Wasser und verfluchte seinen unseligen Einfall, ausgerechnet dieses ausgeflippte Persönchen zu seiner Ersatzverlobten zu ernennen.

Ilonka plauderte von der Suppe bis zum Dessert pausenlos mit ihrem Tischnachbarn, der immer häufiger zum Weinglas griff, was aber nicht der ursächliche Grund seines in Fahrt kommenden Kreislaufs war. Auch das Gesicht seiner Frau rötete sich beängstigend. Wenn Gunther die Gastgeberin auch alles andere als sympathisch fand, so teilte er doch deren Ansicht über Ilonkas skandalöses Benehmen, die völlig ungeniert mit Holger Andresen flirtete.

"Willst du nun den Auftrag, oder willst du ihn nicht?", raunte sie Gunther beim Mokka zu. "Lass mich nur machen! Ich werde den Opa schon überzeugen."

Als Holger Andresen seinen Gästen später stolz seine Sammlung kostbarer chinesischer Vasen zeigte, traf sie ihn aber doch an einer äußerst empfindlichen Stelle.

"Ich beziehe diese Stücke keineswegs auf Flohmärkten", verwahrte er sich gegen ihre Vermutung, "sondern ausschließlich von renommierten Kunsthändlern." Sein eben noch lüsterner Blick gefror zusehends.

Ilonka spürte wohl, dass sie eine Menge Punkte eingebüßt hatte.

"Diese öde Party ist echt ätzend", beklagte sie sich bei Gunther. "Können wir jetzt nicht woanders hingehen? Ich kenne eine tolle Bar ..."

"Das glaube ich dir", erwiderte er entnervt. "Vermutlich hast du dort deine ganze Schulzeit verbracht. Ich flehe dich an: Zerschmeiß nicht noch mehr Porzellan!"

"Die blöden Vasen rühre ich nicht an." Zweifellos verstand sie ihn mit Absicht falsch. Gunther hoffte inständig, dass sie sich von nun an zurückhielt.

"Tolle Klunker, die Sie da tragen", hörte er sie jedoch schon Minuten später zur Dame des Hauses sagen. "Sind die alle echt?"

"Selbstverständlich, meine Liebe", entgegnete Nora Andresen mit süßsaurem Lächeln. "Diesen Ring zum Beispiel hat mir mein Mann aus New York mitgebracht. Tiffany. Sie verstehen?"

Ilonka staunte, als sie den Preis hörte.

"Unglaublich, wieviel Geld manche Leute für dieses Zeug ausgeben! Dafür müsste meine Oma jede Menge Strümpfe stricken. Wie finden Sie meine Ohrringe? Der reine Wahnsinn, nicht wahr? Und gar nicht teuer. Ihr Mann meint, dass sie unheimlich gut zu meinen Ohrläppchen passen."

Lieber Gott!, flehte Gunther und klammerte sich verzweifelt an sein Whiskyglas. Schlage die Andresens mit Taubheit! Nur vorübergehend. Oder lass dir irgendetwas anderes einfallen.

Der Himmlische Vater hatte offensichtlich Wichtigeres zu tun. Jedenfalls schickte er weder ein Erdbeben, noch drehte er die Weltuhr um ein paar Stunden zurück. Das Schicksal nahm seinen Lauf.

Im Hintergrund sorgte ein CD-Player für dezente Musik. Ein Streichquartett, das Ilonka entsetzlich einschläfernd fand.

"Haben Sie nicht richtige Musik?", fragte sie Holger Andresen, der sie, schon wieder halb versöhnt, in seiner Plattensammlung wühlen ließ.

"Na also!", verkündete sie kurz darauf, während ein greller Lambada die geschliffenen Gläser in den Händen der Gäste klirren ließ. "Den müssen Sie unbedingt mit mir tanzen." Sie zerrte den über Fünfzigjährigen hinter sich her und befand sich darauf mit ihm in innigem Clinch, wobei ihre Hüften allerdings weitaus gekonnter wackelten.

"Holger, kümmere dich doch bitte um den Champagner!" Nora Andresens Stimme war wesentlich kühler als das prickelnde Getränk, und ihre bitterbösen Augen funkelten mit dem Tiffany-Ring um die Wette.

"Wir müssen auch noch über den Auftrag sprechen", erinnerte Gunther mit Nachdruck, doch sein Verhandlungspartner versteckte sich hinter bauchigen Flaschen und bemühte sich, den Haussegen nicht restlos aus der Balance geraten zu lassen.

"Sie haben sich unmöglich benommen", machte Gunther seinem Herzen Luft, nachdem er sich früher, als geplant, von den Andresens verabschiedet hatte und auch nicht zum längeren Bleiben genötigt worden war.

Ilonkas schlanker Körper befand sich auf dem Beifahrersitz noch immer in lambadischen Zuckungen. Unbeschwert summte sie südamerikanische Rhythmen und erinnerte ihn daran, dass sie doch per du waren. Seine Vorwürfe konterte sie mit dem lapidaren Kommentar:

"Jemand musste doch diese Trauergemeinde in Schwung bringen. Fade Stimmung ist ganz schlecht fürs Geschäft. Wusstest du das nicht?"

"Ich weiß nur, dass mich die letzten Stunden Jahre meiner beruflichen Karriere gekostet haben. Vielleicht hätte ich heute am Zebrastreifen doch besser nicht bremsen sollen."

"Zum 'Grünen Kakadu' musst du die nächste links abbiegen", wies Ilonka ihn ungerührt an. "Hoffentlich lassen sie dich in deinem altmodischen Zweireiher überhaupt rein. Von deinem antiquierten Outfit abgesehen, finde ich dich nämlich ganz okay. Kannst du eigentlich tanzen? Ich meine, nicht nur Menuett."

Gunther ging auf ihren Vorschlag nicht ein. Er war von diesem chaotischen Persönchen bedient.

Meisig war außer sich, denn über Andresens fetten Auftrag durfte sich die Konkurrenz freuen. "Und ich habe Ihnen so vertraut, Brockner", meinte er düster. "Übrigens brauche ich einen guten Mann in unserem Schweizer Verkaufsbüro."

Er sollte also in dieses Nest abgeschoben werden, das kaum auf einer Landkarte eingezeichnet war. Dann suchte er sich lieber gleich einen anderen Job.

"Wie Sie meinen", willigte Meisig kühl ein.

Na, fabelhaft! Jetzt war er also arbeitslos. Das hatte er nur Ilonka zu verdanken. Wenn ihm dieses kleine Biest noch einmal über den Weg lief, würde er es glatt erwürgen.

Zum Glück fand er bald eine neue Stelle, und die Aufstiegschancen konnten sich auch sehen lassen. Aber so ganz ließ sich die quirlige Ilonka trotzdem nicht aus seiner Erinnerung verbannen. Gunther konnte das überhaupt nicht verstehen, denn normalerweise wanderten bei ihm schlechte Erfahrungen spontan in den Ablagekorb ‚erledigt'. Uschi, seine ehemalige Verlobte, lag dort zum Beispiel längst. Und natürlich auch Meisig, der ihn in die Wüste schicken wollte. Warum also brachte er Ilonkas unbekümmertes Lachen nicht aus seinem Sinn? Wieso dachte er besonders abends, wenn er sich nach einem stressigen Arbeitstag ein Bier genehmigte, immer wieder an die beneidenswert unkomplizierte Frau, für die es keine Probleme gab?

Gegen seinen Willen musste er schmunzeln, wenn er an die versteinerten Mienen bei jener denkwürdigen Party dachte. Zu komisch, wie der fette Andresen beim Lambada verzweifelt seinen Bauch einzuziehen versuchte. Na, und erst das tiefgefrorene Lächeln seiner Nora!

An manchen Abenden ertappte sich Gunther, wie er langsam mit dem Wagen durch die Straße fuhr, in der sie wohnte, ohne sie jedoch zu sehen. Er spielte sogar mit dem verrückten Gedanken, dem 'Grünen Kakadu' einen Besuch abzustatten, was er freilich unterließ.

Doch eines Tages hielt er es nicht mehr aus. Was war schon dabei, wenn er bei ihr läutete? Nur um guten Tag zu sagen. Weiter nichts.

Ilonka öffnete. Sie trug einen bequemen Hausanzug. Etwas überraschend Normales. Doch auch darin sah sie unglaublich sexy aus.

"Ich war ganz zufällig hier in der Gegend", begann Gunther zögernd, "und da dachte ich mir ..."

"Willst du 'nen Kaffee?", bot Ilonka an. "Er ist noch heiß." Es klang so selbstverständlich, als würde er jeden Abend auf einen Sprung bei ihr vorbeischauen.

Ihr winziges Wohnzimmer war modern eingerichtet. Aber irgendwie gemütlich, fand Gunther. "Für mich?", fragte er irritiert, als sie ihm ein Päckchen in die Hand drückte.

"Pack schon aus!", drängte sie und verschwand Richtung Küche.

Als sie mit dem Kaffee zurückkam, betrachtete er das schicke Oberhemd und die moderne Krawatte.

"Nicht sehr originell", sagte sie leise, "aber unbedingt notwendig. Findest du nicht?"

"Aber woher wusstest du denn, dass ich herkommen würde?", wollte Gunther verdutzt wissen.

Das zierliche, grünäugige Etwas lächelte tiefgründig.

"Ich wusste es ganz einfach. Du würdest kommen. Irgendwann."

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