Читать книгу Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren - A. F. Morland - Страница 23
Geliebter Lügner
Оглавление"Siehst du den Mann dort drüben?", raunte Sandra Siebert ihrer Freundin Gerti Vollmer zu. "Schau doch nicht so auffällig hin! Der Blonde mit der dunklen Brille. Ist er nicht super?"
Gerti warf einen forschenden Blick nach links und schmunzelte.
"Das kannst du laut sagen. Kommt für mich aber leider nicht in Frage", fügte sie mit leichtem Bedauern hinzu.
"Na hör mal!", entrüstete sich Sandra. "Du hast schließlich deinen Ingo. Ich aber bin noch zu haben. Du, ich glaube, er hat mich bemerkt."
Gerti seufzte.
"Vergiss ihn, Mädchen! Du willst dich doch nicht unglücklich machen."
"Unglücklich? Was willst du damit sagen?"
Sie erhielt keine Antwort, denn in diesem Moment tauchte Gertis Verlobter auf und entführte die 25-jährige auf die Tanzfläche.
Sandras Blicke folgten den beiden nur kurze Zeit. Dann tasteten sie sich erneut zu der Bar hinüber, an der der Blonde noch immer stand.
Was mochte Gerti mit ihrer Bemerkung gemeint haben? Kannte sie den Mann? War er verheiratet? Haftete ein Makel an ihm?
Der Fremde schaute jetzt in ihre Richtung und lächelte. Galt dieses Lächeln etwa ihr? Sandra spürte, wie prickelnde Wärme in ihr emporklomm.
Leider näherte sich dem Mann ein anderer, der ihn in ein Gespräch verwickelte und mit ihm davonging. Gerti und Ingo kehrten zurück.
"Ist dir nicht gut?", erkundigte sich die Freundin.
"Er hat mich angelächelt", gab Sandra mit verklärtem Blick zurück.
"Wer?"
"Na, der Blonde. Ich bin ganz sicher, dass ..."
"Wenn du so reich wärst wie der, hättest du ebenfalls Grund zum Lächeln", unterbrach Gerti sie.
"Wieso reich?"
"Er heißt Burkhard Löffler und ist der Juniorchef einer Restaurantkette. Angeblich eingefleischter Junggeselle, aber alles andere als ein Frauenverächter. Bleibst du noch? Ingo und ich fahren nach Hause. Hier ist ja nichts los."
Sandra wollte noch ihren Wein austrinken und blieb allein am Tisch zurück. Während sie an ihrem Glas nippte, versuchte sie, den Mann mit dem unwiderstehlichen Lächeln aus ihrem Bewusstsein zu verbannen. Ganz wollte es ihr jedoch nicht gelingen.
"Darf ich Sie um diesen Tanz bitten?"
Sandra schreckte aus ihren Gedanken und sah den Störenfried ungnädig an. Ihr Blick verkrampfte sich, als sie den Blonden erkannte. Seine Aufmerksamkeit hatte also tatsächlich ihr gegolten.
Wie im Traum erhob sie sich und stellte wenig später fest, dass Burkhard Löffler ein fantastischer Tänzer war.
"Es ist ein Genuss, mit Ihnen zu tanzen", hörte sie ihn sagen. "Wissen Sie, dass Sie mir schon vor einer Weile aufgefallen sind? Ich fürchtete nur, dass Sie zu diesem breitschultrigen Burschen gehörten, den ich ständig in Ihrer Nähe sah. Er wirkte ziemlich kräftig."
Sandra musste lachen.
"Der Verlobte meiner Freundin. Die beiden haben sich hier gelangweilt."
"Und Sie? Langweilen Sie sich auch?"
"Ich tanze rasend gern", wich Sandra aus, und sie spürte, wie sich der Druck seiner Hand auf ihrem Rücken verstärkte.
Warum hat er ausgerechnet mich aufgefordert? überlegte sie. Ich habe ihn den ganzen Abend nicht auf der Tanzfläche gesehen.
Der Mann brachte sie an ihren Tisch zurück und zögerte.
"Wenn Ihre Bekannten schon gegangen sind, darf vielleicht ich Ihnen Gesellschaft leisten?"
"Fühlen Sie sich dazu verpflichtet?" Im selben Moment ärgerte sie sich über diese Bemerkung.
Er überhörte sie und setzte sich.
Im Laufe des Abends tanzten sie viel und unterhielten sich über alle möglichen Themen.
Einmal griff er nach Sandras Hand und hielt sie fest.
"Sind Sie Malerin?"
"Nur gelegentlich, wenn ein Zimmer renoviert werden muss."
"Ich dachte eher an künstlerische Tätigkeit."
"Hier beschränke ich mich auf die Kunst, jeden Monat aufs Neue mit meinem Gehalt auszukommen. Ich arbeite als Phonotypistin in einem Großraumbüro. Kein aufregender Job. Und Sie?"
Er ließ sich mit der Antwort Zeit, trank einen Schluck Wein und räusperte sich.
"Ich bin in der Computerbranche tätig. Übrigens habe ich mich noch gar nicht vorgestellt. Meindorf. Fritz Meindorf, aber ich fände es nett, würden Sie mich einfach Fritz nennen."
"Fritz", wiederholte Sandra verblüfft. Warum nannte er ihr einen falschen Namen? Zweifellos stapelte er tief, weil sich viele Frauen wohl hauptsächlich für sein Geld interessierten. Bei ihr verhielt es sich eher umgekehrt. Sie wünschte nichts sehnlicher, als dass er ein ganz normaler Mensch wäre. Einer mit finanziellen Sorgen wie sie. Einer, dem nicht die Wünsche erfüllt wurden, bevor er sie geäußert hatte. Vor allem aber einer, zu dem sie gepasst hätte.
Sie stellte nun auch sich vor und war froh, als die Band einen heißen Beat spielte und Burkhard Löffler ihr aufmunternd zunickte.
Stunden darauf brachte er sie nach Hause.
"Das war ein wunderschöner Abend", fand er. "Wir sehen uns doch wieder?"
"Das wäre nett", presste Sandra hervor.
"Sagen wir, am Mittwoch? Ich hole Sie um sieben Uhr ab."
Sehr eilig hatte er es nicht, sie wiederzusehen. Vier Tage waren eine lange Zeit. Sandra erklärte sich einverstanden und reichte ihm zum Abschied die Hand. Burkhard zog sie sanft in den Arm und küsste sie behutsam. Sie durfte nicht den Kopf verlieren. Ein Kuss riss die Barrieren zwischen ihnen nicht ein.
"Bis bald", hauchte sie und schlüpfte rasch durch die Haustür.
Anfangs war Gerti sprachlos, als Sandra ihr den Verlauf des Abends schilderte. Doch dann beurteilte sie die Ereignisse realistisch.
"Ein Mann wie Löffler kann es sich leisten, auch einmal in ungewohnten Revieren zu pirschen. Sicher amüsiert ihn deine angebliche Ahnungslosigkeit. Auch gibt sie ihm das Gefühl, um seiner selbst willen geliebt zu werden. Das schmeichelt den Herren der Schöpfung. Besonders dann, wenn sie Grund zur Eifersucht auf ihr eigenes Geld zu haben glauben."
"Aber wie er mich geküsst hat", meinte Sandra versonnen, "das war eher schüchtern als siegesgewohnt."
Gerti lachte verächtlich.
"Ganz raffinierte Masche. Auf die Tour hat mich Ingo damals auch rumgekriegt. Burkhard Löffler kennt sich bei den Frauen aus und beherrscht sämtliche Tricks. Fall bloß nicht auf ihn herein." Sie betrachtete die Freundin prüfend. "Oder ist es für diese Warnung etwa schon zu spät?"
"Ach, Gerti!", seufzte Sandra abgrundtief. Wie sehr sehnte sie sich nach dem Mann, der seine Identität nicht preisgeben wollte.
Gerti holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück.
"So einer spielt doch nur mit dir. Soll ich dir sagen, warum er erst am Mittwoch für dich Zeit hat? Seine anderen Abende sind ausgebucht. Heute Gloria, morgen Isabell, Dienstag ..."
"Hör schon auf!", verlangte Sandra unglücklich. "Er war so nett."
"Ein netter Lügner", stellte Gerti richtig.
"Ich weiß. Wahrscheinlich meinte er das Rendezvous gar nicht ernst."
Doch da täuschte sie sich. Am Dienstagabend läutete bei ihr das Telefon.
"Du hast doch hoffentlich nicht unsere morgige Verabredung vergessen? Vielleicht wird es bei mir ein paar Minuten später."
"Das macht ja nichts", entgegnete Sandra matt, und ihr Herz schlug gleichzeitig nach allen Seiten. Sie musste sofort Gerti die Neuigkeit mitteilen.
"Er steuert unbeirrt sein Ziel an", befürchtete diese. "Du solltest den Spieß umdrehen."
"Kannst du dich deutlicher ausdrücken?"
"Ist doch ganz einfach. Löffler will dich. Für eine Nacht oder auch ein paar mehr. Für ihn stammst du gewissermaßen aus einer anderen Welt. Der Püppchen aus seinen Kreisen ist er überdrüssig. Ihn reizt das Exotische."
"Du redest nicht sehr nett von ihm." Es drängte Sandra, den Blonden zu verteidigen.
"Was er mit dir vorhat, ist auch nicht nett. Aber er ahnt zum Glück nicht, dass du die Wahrheit kennst. Deshalb musst du die Chance beim Schopf packen."
Sandra verstand noch immer nicht.
"Ich bitte dich", wurde Gerti ungeduldig. "Du darfst dich keinesfalls unter Wert verkaufen. Sorge dafür, dass Löffler sich großzügig zeigt. Ein hübscher Schmuck, ein schickes Kleid. Das setzt er doch sowieso von der Steuer ab."
"Ich soll mich verkaufen?", fragte Sandra konsterniert.
"Du übertreibst. Wenn es dem Prinzen gefällt, sich ein Aschenputtel zu holen, dann soll er sich gefälligst auch an die Bedingungen halten. Es ist nicht jedermanns Sache, in gläsernen Schuhen herumzulaufen, aber käme dir zum Beispiel ein neuer Wagen sehr ungelegen? Deiner fällt doch bei der nächsten Wäsche auseinander. Sei bloß nicht zu bescheiden! Schließlich findet er auch bei dir etwas, was er bei seinen üblichen Geliebten bestimmt vergeblich sucht: Naivität. Oder ist dir der Gedanke, mit ihm zusammenzusein, gar so entsetzlich?"
"Du weißt schon, was ich meine", verteidigte Sandra ihren Standpunkt, bevor sie den Hörer auflegte.
Während des folgenden Tages unterliefen ihr im Büro einige Fehler. Sie konnte sich nur schwer auf ihre Arbeit konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Burkhard Löffler ab. Warum durfte sie sich nicht einfach auf den Abend mit ihm freuen?
Nach Feierabend hastete sie heimwärts, duschte und frisierte sich, legte ein besonders sorgfältiges Makeup auf und entschied sich viermal für ein anderes Kleid, das sie anziehen wollte.
Um halb sieben war sie fertig und schaute in Minutenabständen auf die Uhr. Kurz vor der vereinbarten Zeit schüttelte sie energisch den Kopf und verließ beinahe fluchtartig die Wohnung. Mit dem Wagen fuhr sie zu Gerti.
"Kann ich bei dir übernachten?"
Die Freundin sah sie überrascht an.
"Habt ihr euch gezankt?", war ihre erste Befürchtung.
Sandra gestand, dass sie sich zu einem Entschluss durchgerungen hatte.
"Ich will ihn nie wiedersehen. Es ist sinnlos. Du hast völlig recht, Gerti. Er spielt nur mit mir."
"Aber du kennst seine Karten und kannst die Spielregeln in deinem Sinne korrigieren", erinnerte Gerti. "So eine Chance bietet sich dir kaum jemals wieder."
"Ich weiß", gab Sandra traurig zu, und sie dachte dabei nicht an das neue Auto oder teure Garderobe, sondern an den Mann, den sie verloren hatte.
Burkhard Löffler rief am nächsten Tag nicht bei ihr an. Er hatte es nicht nötig, einer Frau hinterherzulaufen. Andere warteten schon auf sein Lächeln.
Sandra fand sich schweren Herzens mit den Tatsachen ab. Tagsüber schaffte sie das leidlich. Nur wenn sie nachts wach in ihrem Bett lag, spürte sie hin und wieder den fast scheuen Kuss auf ihren Lippen und sie war versucht, alles für einen Irrtum zu halten.
Ein Blick ins Telefonbuch belehrte sie eines Schlechteren. In der ganzen Stadt gab es keinen Fritz Meindorf. Das war der Beweis für seine Lüge.
Nach drei Wochen erhielt sie einen unerwarteten Anruf.
"Wir waren verabredet, Sandra. Warum hast du mich versetzt?"
Sandra schnappte nach Luft.
"Diese Frage fällt dir reichlich spät ein", beschwerte sie sich.
"Ich war verreist", gab der Mann als Entschuldigung an. "Dienstlich. Es hat sich ganz überraschend ergeben. Ich hätte dich angerufen, aber dein Interesse schien nicht sehr groß zu sein. Du bist mir noch eine Antwort schuldig. Kannst du mich nicht ausstehen?"
"Ich habe etwas dagegen, wenn man mich anlügt", antwortete Sandra betont kühl. Es war verdammt schwer, die Unnahbare zu spielen, wenn in der Brust ein Aufruhr tobte.
"Was wirfst du mir vor?"
"Du heißt nicht Fritz Meindorf."
Der Anrufer schwieg sekundenlang, bevor er sagte: "Das weißt du? Aber bedeutet denn ein Name wirklich so viel?"
"Es ist nicht nur der Name", hielt Sandra entgegen. "Was soll ich dir denn glauben? Deinen Beruf? Deine angebliche Dienstreise."
"Nun ja", kam es gedehnt. "Das kann ich dir alles erklären. Aber nicht am Telefon. Können wir uns treffen?"
Wozu?, wollte sie fragen. Würde das etwas ändern? Burkhard Löffler leitete gemeinsam mit seinem Vater ein Millionenunternehmen. Er war Alleinerbe, wie Gerti in Erfahrung gebracht hatte. Und Sie? Zweitausend Euro monatlich netto. Ihr ganzes Vermögen bestand aus Luftschlössern.
Aber jetzt, nachdem er wusste, dass sie die Wahrheit kannte, konnte sie sich getrost anhören, was er zu sagen hatte. Deshalb willigte sie ein, und sie verabredeten sich an der Pauluskirche.
Sandra hatte schon den Wohnungsschlüssel in der Hand, als das Telefon erneut anschlug. Diesmal war es Gerti.
"Hast du gelesen, wo sich Burkhard Löffler während der letzten Wochen amüsiert hat?", zwitscherte sie aufgeregt. "Am Strand von Florida. In der Zeitung ist er mit einer tollen Bikinischönen abgebildet. O Mädchen, das hättest du sein können. Einen solchen Goldschatz stößt du vor den Kopf. Ich begreife es noch immer nicht. Soll ich den Artikel für dich aufheben?"
"Nicht nötig", lehnte Sandra ab. Dieser Schuft! Was wollte er ihr eigentlich noch erklären?
Sie verließ die Wohnung, aber sie fuhr nicht zur Pauluskirche, sondern lief stundenlang durch den Stadtwald. Alles, was sie überwunden glaubte, war von Neuem aufgebrochen.
Spät abends kehrte sie heim. Sie fühlte sich unglücklich, glaubte, alles falsch gemacht zu haben, und wusste doch, dass sie nicht anders hatte handeln können.
Burkhard Löffler meldete sich an diesem Tag nicht mehr, und auch tags darauf ließ er nichts von sich hören.
Sandra ging ihrer Arbeit nach, redete sich ein, froh zu sein, dass nun endlich alles vorüber war, und dass das Bohren in ihrem Herzen sicher auch bald nachlassen würde.
Während der Mittagspause blätterte sie zerstreut die Zeitung durch, überflog die politischen Meldungen und die Nachrichten vom Sport und zeigte auch kein Interesse für die Berichte über Katastrophen und Umweltskandale.
Auch das Foto von dem völlig demolierten Cabrio hätte sie nicht in ihren Bann gezogen, wäre nicht die dicke Schlagzeile gewesen: 'Millionenerbe Burkhard Löffler schwer verunglückt!'
Sie glaubte, ihr Herz bliebe stehen. In nervöser Hast überflog sie den kurzen Artikel, las ihn ein zweites und drittes Mal und ließ schließlich die Zeitung sinken.
Von überhöhter Geschwindigkeit war die Rede, von eigenem Fehlverhalten ohne Fremdverschulden. Burkhard Löffler, der zuvor bereits eine Kreuzung bei Rot überfahren hatte, war gegen ein parkendes Auto geknallt und anschließend durch einen Bretterzaun gerast, hinter dem er in einer Baugrube liegengeblieben war. Sein Wagen hatte sich mehrfach überschlagen. Er selbst musste mit der Rettungsschere befreit und wegen seiner schweren Verletzungen umgehend ins nächste Krankenhaus eingeliefert werden.
Sandra schloss die Augen. So knapp und sachlich der Bericht auch gehalten war, in einem Punkt irrte er. Es lag ein Fremdverschulden vor. Sie selbst trug die Verantwortung für dieses Unglück.
Der Unfall hatte sich in der Kleiststraße ereignet, ungefähr auf halber Strecke zwischen der Pauluskirche und ihrer Wohnung. Burkhard musste, als er sie am vereinbarten Treffpunkt nicht antraf, im Höllentempo zu ihr gefahren sein, um sich mit ihr auszusprechen. Dabei war es dann passiert. Eine kleine Unaufmerksamkeit, ein flüchtiger Gedanke, der ihr galt und nicht der Straße, hatte genügt, um ihn die Herrschaft über den Sportwagen verlieren zu lassen.
Wieder studierte sie die wenigen Zeilen, in denen nur von schweren Verletzungen die Rede war. Er lebte also, aber der entsetzliche Anblick des total deformierten Autos musste das Schlimmste befürchten lassen.
"Es ist meine Schuld", murmelte Sandra. "Wenn er stirbt, habe ich ihn auf dem Gewissen."
Doch noch mehr als die Verantwortung erdrückte sie die Vorstellung, der Mensch, den sie entgegen aller Vernunft liebte, könnte sterben oder aber für den Rest seines Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sein.
Sie musste zu ihm. Sie musste ihn sehen und ihn um Verzeihung bitten.
In der Stadt gab es viele Krankenhäuser, aber der Kleiststraße lag die Georgi-Klinik am nächsten. Zweifellos wurde dort um sein Leben gekämpft.
Sandra bat für den Nachmittag um Urlaub. Ihr Abteilungsleiter, der ihr gerade eine eilige Arbeit hatte geben wollen, erschrak bei ihrem Anblick. Er stellte keine Fragen und nickte nur.
Sie war zu erregt, um sich hinter das Steuer ihres Wagens zu setzen, und entschied sich für ein Taxi. Im Krankenhaus stieß sie auf eine Schwierigkeit, mit der sie nicht gerechnet hatte.
"Zu Herrn Löffler wollen Sie?", wiederholte die Stationsschwester und musterte sie missbilligend. "Sind Sie eine Verwandte?"
"Verwandt? N...nein, das bin ich nicht."
"Dann tut es mir leid. Herr Löffler befindet sich auf der Intensivstation. Nur die nächsten Angehörigen dürfen zu ihm."
"Aber ich muss ihn sehen", stieß Sandra verzweifelt hervor. "Ich ... bin mit ihm verlobt. Wir wollen heiraten."
Sie erschrak selbst über diese dreiste Lüge. Aber nun war sie heraus, und sie verfehlte ihre Wirkung nicht.
"Verlobt? Nun, das ist etwas anderes. Aber bitte nicht länger als fünf Minuten."
"Wurde er operiert?", erkundigte sich Sandra bang.
"Selbstverständlich. Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand, aber der Patient hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt."
Die Schwester öffnete die Tür, und im ersten Moment sah Sandra nur Apparate, Schläuche und zwei Infusionseinrichtungen. Dazwischen lag der Verunglückte. Sandras Herz verkrampfte sich, als ihr seine Hilflosigkeit bewusst wurde. Außer seinen geschlossenen Augen, dem Mund und den Nasenlöchern, in die zwei Schläuche führten, wurde alles durch Gipsschalen und dicke Verbände verdeckt. Der Mann schien nicht mehr zu atmen. Was hatte sie getan?
"Verzeih mir, Burkhard!", hauchte sie unter Tränen. "Das wollte ich nicht. Ich liebe dich doch. Warum nur habe ich meinem dummen Stolz gehorcht?" Weinend sank sie neben dem Bett nieder.
Hinter ihr öffnete sich erneut die Tür.
"Wer ist das?", hörte sie eine Frau tuscheln.
Sandra drehte sich um und erhob sich.
"Sie behauptet, ebenfalls mit dem Patienten verlobt zu sein", zischte die Stationsschwester drohend.
"Unerhört!", fauchte die Blondine, die neben ihr stand und geradewegs einem Modemagazin entstiegen zu sein schien. "Was erlaubt sich diese Person? Burkhard hat sich mit mir verlobt. Letzte Woche in Florida. Und nun ist er ..." Sie brach in Tränen aus und zupfte mit spitzen Fingern ein Tuch aus ihrer Handtasche. Sandra sah an ihrer Hand einen beachtlichen Diamanten aufblitzen.
"Ich wollte doch nur ..."
"Ich muss Sie bitten, den Raum sofort zu verlassen", unterbrach die Schwester Sandras Stammeln.
Sandra wankte auf den Gang. Wurde ihre Schuld dadurch geringer, dass Burkhard sie bis zum Schluss angelogen hatte? Was war das für ein Mann, der, frischverlobt, unbedingt den Kontakt zu einer anderen aufrechterhalten wollte?
Später hätte sie nicht sagen können, wie sie nach Hause gekommen war. Sie warf sich erschöpft auf das Sofa, ließ ihren Tränen freien Lauf und fühlte sich so elend, dass sie nicht wusste, wie sie die kommenden Tage überstehen sollte.
Einige Male läutete das Telefon, da es aber nur Gerti sein konnte, die ohne Frage ebenfalls die Zeitungsmeldung gelesen hatte, nahm sie den Hörer nicht ab. Sie fühlte sich nicht in der Verfassung, jetzt über die schlimmen Ereignisse zu sprechen.
Am nächsten Tag rief Gerti sie im Büro an.
"Hast du schon gehört?"
"Er war auf dem Weg zu mir, Gerti", versicherte Sandra. "Ich begreife es nicht."
"Offenbar liegt ihm doch mehr an dir, als wir angenommen haben."
"Aber er ist verlobt", klärte Sandra die Freundin auf. "Ich habe die Frau gesehen."
Sie verabredeten ein Treffen nach Büroschluss, aber auch da brachte Gerti es nicht zuwege, Sandra auf andere Gedanken zu bringen. Sie fühlte sich eng mit Burkhard Löfflers tragischem Schicksal verknüpft.
"Wir könnten bei mir Abendbrot essen", schlug Sandra vor, die nicht allein sein wollte.
Gerti war einverstanden. Sie besorgten ein paar Kleinigkeiten und traten den Heimweg an.
Auf der Treppe stieß Sandra einen Schrei aus und ließ die Einkaufstüte fallen. Vor ihrer Wohnungstür stand ein Mann, aber es musste sich um einen Geist handeln.
"Burkhard!"
Gerti blickte überrascht von einem zum anderen. Sie hielt es für angebracht, die Freundin zu stützen, denn sie war totenbleich geworden und taumelte.
Der Blonde mit der dunklen Hornbrille eilte bestürzt die Stufen herab und griff ebenfalls zu.
"Ich wollte dich nicht erschrecken", entschuldigte er sich betreten.
Gerti runzelte die Stirn.
"Wie hast du ihn genannt? Burkhard?"
"Natürlich", erwiderte Sandra, die sich allmählich erholte. "Er weiß, dass ich seinen richtigen Namen kenne. Aber wer liegt im Krankenhaus? Wer fuhr gestern seinen Wagen und wurde so entstellt, dass man ihn für Burkhard Löffler halten musste?"
"Aber Mädchen!", protestierte Gerti. "Das hier ist doch nicht Burkhard Löffler. Wie kommst du nur darauf?"
"Nicht Burkhard Löffler? Du hast es mir doch selbst gesagt. Erinnerst du dich nicht? Damals beim Tanzen."
"Unsinn! Du zeigtest mir einen anderen Mann."
"Aber ich meinte ihn."
"Kann mir eine der Damen wohl erklären, wovon eigentlich die Rede ist", meldete sich der Mann zu Wort. "Offenbar liegt hier ein Missverständnis vor."
"Du bist nicht Burkhard Löffler, der Millionenerbe?", fragte Sandra heiser.
"Schön wär's ja. Ich heiße Holger Gerlich, aber das wollte ich dir ja gestern alles beichten. Leider hast du mich wieder vergeblich warten lassen, und zu Hause traf ich dich auch nicht an. Ich versuchte später noch mehrmals, dich telefonisch zu erreichen, aber es klappte nicht. Deshalb habe ich es heute erneut probiert. Ich muss wissen, welche Lügen man dir über mich erzählt hat. Ich schwöre dir, dass sie nicht wahr sind. Der Prozess wird beweisen, dass ich mit dem Tod der Frau nichts zu tun habe. Ich weiß inzwischen, wer in jener Nacht meinen Wagen gestohlen hat, um mit ihm die Tat zu begehen."
"Du bist in einen Mordfall verwickelt?", fragte Sandra beklommen.
"Ob es Mord oder nur fahrlässige Tötung mit anschließender Fahrerflucht war, muss sich noch herausstellen. Jedenfalls sind diese Ereignisse der Grund, warum ich es vorzog, dir vorläufig meinen richtigen Namen zu verschweigen. Er geistert nämlich schon durch die Presse. Erst wollte ich diesen Namen reinwaschen. Wie hättest du mir sonst vertrauen sollen? Damals schleppte mich mein Freund auf diesen Ball. Mir war nicht zum Tanzen und Fröhlichsein zumute. Alles sprach gegen mich. Wie sollte ich jemals die Wahrheit ans Licht bringen? Doch dann sah ich dich, und plötzlich hatte alles wieder einen Sinn. Es gab einen Grund, für den es sich zu kämpfen lohnte. Leider musste ich sehr schnell annehmen, dass du nichts von mir wissen wolltest. Ich trat eine Reise an, um dich zu vergessen, was mir nicht gelang. Doch bei dieser Gelegenheit erfuhr ich Dinge, die für den Prozess von ausschlaggebender Bedeutung sein werden. Ist es wirklich wahr, dass du mich für einen anderen hieltest?"
"Ich war die ganzen Wochen überzeugt, du suchtest nur einen amüsanten Zeitvertreib. Dieser Löffler muss an jenem Abend ganz in deiner Nähe gestanden haben, als ich meine Freundin auf dich aufmerksam machte."
"Ich glaube, ich werde heute wohl doch mit Ingo Abendbrot essen", ließ sich Gerti vernehmen. "Nein sowas!" Kopfschüttelnd ging sie die Treppe hinunter.
Auf dem unteren Absatz blieb sie stehen und lauschte nach oben. Die Worte, die geflüstert wurden, konnte sie nicht verstehen, aber auf einmal war es ganz still. Zufrieden schmunzelnd verließ sie das Haus.
"Hoffentlich wird Burkhard Löffler wieder völlig gesund", sagte Sandra leise, als sie gemeinsam mit Holger Gerlich ihre Wohnung betrat. "Ich möchte, dass jetzt alle Menschen so glücklich sind wie ich."