Читать книгу Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren - A. F. Morland - Страница 36

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Ein schlagfertiger Mitfahrer


Unauffällig musterte Steffi den Neuen schräg gegenüber. Seit einem Jahr stieg sie jeden Morgen an der Endhaltestelle in die gleiche Bahn. Mit der Zeit kannte sie alle Mitfahrenden. Einige grüßte sie sogar, obwohl sie ihre Namen nicht wusste.

Der Neue fiel ihr schon auf dem Bahnsteig auf. Übersehen konnte sie ihn bei der Größe und Statur wirklich nicht. Mit seinen schätzungsweise zwei Metern und der kräftigen Gestalt wirkte er wie ein Riese. Ausgerechnet in ihr Abteil musste er einsteigen. In der Bahn beanspruchte er zwei Sitzplätze. Er störte irgendwie die Harmonie, und Steffi fühlte sich in seiner Nähe unwohl.

Endlich senkte sie den Blick und suchte die Stelle in ihrem Buch, bei der sie gestern Abend aufgehört hatte.

„Fertig mit der Musterung?“, fragte der Riese.

Verlegen sah Steffi auf, dann beschloss sie die Flucht nach vorn. „Wie groß sind Sie?“

„Größer als Sie.“ Er grinste so ansteckend, dass Steffi zu lächeln begann. Schließlich senkte sie den Blick und vertiefte sich in das Buch.

Ein paar Tage später erwischte Steffi abends am Hauptbahnhof gerade eben noch ihre Bahn. Natürlich waren alle Sitzplätze schon besetzt.

„Hier ist noch frei“, sagte eine tiefe Stimme hinter ihr.

Als sie sich umdrehte, rückte der Riese etwas zur Seite, um ihr Platz zu machen.

Eigentlich wollte sie gar nicht dort sitzen, aber sie konnte nicht gut ablehnen, ohne unhöflich zu sein, also nahm sie den Platz dankend an. Obwohl sie sich so klein wie möglich machte, war die Fahrt entsetzlich unbequem. Viel lieber hätte sie gestanden. Als sie endlich ausstiegen, war Steffi völlig verspannt. Von diesem Tage an grüßte der Riese, und sie musste wohl oder übel zurückgrüßen.

Am Montagabend las Steffi wie üblich auf der Heimfahrt in ihrem Buch, als sie von lauten Stimmen gestört wurde. Drei Männer mit kurzen Haaren und Lederjacken pöbelten eine ältere Frau an. Die Frau wich ängstlich vor ihnen zurück.

„Was willst du hier? Verschwinde, hier ist nur Platz für Deutsche“, brüllte der Anführer.

Ängstlich beobachteten die Fahrgäste die drei. Krampfhaft überlegte Steffi, wie sie der Frau helfen könne. Sollte sie die Notbremse ziehen? Oder mit dem Handy die Polizei rufen? Warum half keiner der Männer?

Da entstand Unruhe. Der Riese drängte sich durch das vollbesetzte Abteil zu den drei Randalierern, legte dem Anführer eine Pranke auf die Schulter und fragte: „Hast du ein Problem?“

Gerade da fuhr die Bahn in einen Bahnhof ein und die Türen öffneten sich.

Die beiden Gefolgsleute sahen sich um, erblickten nur feindselige Gesichter und flohen aus dem Abteil. Als der Anführer erkannte, dass er allein war, riss er sich los und stürmte hinterher.

Erleichtert atmete Steffi auf. Während alle klatschten, ging der Riese gemächlich zu seinem Platz zurück.

„Das haben Sie toll gelöst“, lobte sie, als er bei ihr vorbeiging.

Er schaute sie nur kurz an, setzte sich und vertiefte sich wieder in sein Handy.

Am letzten Freitag des Monats war in der Firma viel los. Steffis Chef hatte darauf bestanden, dass noch alle Rechnungen rausgingen, und sie musste zwei Überstunden machen. Die Telefonistin Moni, mit der Steffi immer zum Bahnhof ging, war natürlich schon weg. Unglücklicherweise begegnete sie an der Pforte ausgerechnet dem Chefassistenten Koopmann.

„Hallo, Stefanie, ich muss auch zum Bahnhof gehen. Mein Auto ist in der Werkstatt“, sagte er.

Wie sollte sie ihn jetzt loswerden, ohne ihn zu verärgern? Also ging sie zähneknirschend mit ihm und versuchte ein harmloses Gespräch in Gang zu halten. Koopmann hatte schon öfter mehrdeutige Anspielungen gemacht, deshalb war sie auf der Hut.

Heute war Koopmann groß in Fahrt. Seine Bemerkungen wurden immer deutlicher. Endlich erreichten sie den Hauptbahnhof. Steffi dachte schon, sie wäre gerettet.

„Stefanie, lass uns ins Kino gehen und anschließend zu mir nach Hause“, schlug er vor, legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.

„Bitte, Herr Koopmann, wir wollen doch auch weiterhin miteinander arbeiten.“ Ängstlich versuchte sie, sich zu befreien.

Sein Griff wurde fester.

„Sei nicht so prüde. In deinem Alter braucht ein Mädchen einen Mann, Stefanie.“ Er grinste so anzüglich, dass ihr übel wurde.

„Hallo Steffi, ich habe dich schon überall gesucht“, rief eine tiefe Stimme fröhlich.

Koopmann zog erschrocken den Arm weg. Schnell fuhr Steffi herum und schaute verständnislos auf den Riesen.

„Hast du etwa unsere Verabredung vergessen?“, fuhr der Riese fort. Dann reichte er Koopmann die Hand. „Ich bin Nils Werner. Steffi hat bestimmt schon von mir erzählt“, stellte er sich vor und legte besitzergreifend einen Arm um Steffi.

Sprachlos schüttelte Koopmann ihm die Hand.

„Liebes, komm, wir müssen uns beeilen“, sagte er und schob sie zum Bahnsteig. Kurz bevor der Zug einfuhr, nahm er den Arm von ihrer Schulter.

„Entschuldigen Sie, aber Sie sahen so hilflos aus. Wer war denn Ihr aufdringlicher Begleiter?“

„Das war mein Chef. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Darf ich Sie zum Dank zu einem Eis einladen?“, schlug sie vor.

Sie setzten sich bei Angelo auf die Terrasse und unterhielten sich bestens. Nils konnte so humorvoll erzählen, so dass Steffi aus dem Lachen nicht herauskam.

„Seit Wochen warte ich nach Feierabend auf dem Bahnhof auf dich, um mit dir zusammen nach Hause zu fahren. Deshalb war ich heute auch rechtzeitig zur Stelle“, gestand er.

„Warum hast du mich nicht längst angesprochen?“, fragte sie.

„Du erschienst immer so kühl und abweisend“, erklärte Nils und wirkte auf einmal sehr schüchtern.

„Du hast mir mit deiner Größe Angst eingeflößt“, gab sie zu und verstand selbst nicht mehr, warum sie so empfunden hatte.

Als es kühler wurde, beschlossen sie, ins Kino zu gehen. Später brachte Nils Steffi vorsichtshalber nach Hause. „Für heute bist du schon genug belästigt worden“, meinte er.

„Ich glaube nicht, dass ich mit Koopmann noch einmal Probleme habe, so blass, wie der geworden ist“, erinnerte Steffi sich schaudernd und schmiegte sich in Nils Arme.

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