Читать книгу Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren - A. F. Morland - Страница 42

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Mutters Fahrschule


Meine Mutter stammte aus einer kinderreichen Familie vom Lande. Demzufolge durfte sie nur die Hauptschule besuchen und hatte anschließend schnell Geld nach Hause zu bringen. Immerhin sorgte meine energische Großmutter dafür, dass alle Kinder, auch die Mädchen, eine Ausbildung machten. Und so lernte Mutter Schneiderin, ihre Schwestern wurden Frisörinnen und Verkäuferinnen. Sehr viel mehr Möglichkeiten hatten sie auf dem Land nicht. Die Jungen wurden Tischler, Schlosser und Klempner. Onkel Walter wurde Schlosser, machte in der Abendschule sein Abitur und studierte Maschinenbau. Onkel Günter ahmte es nach. Er hatte Tischler gelernt, ging weiter zur Schule und wurde Pfarrer.

Mutter heiratete bald und war dann mit uns vier Kindern, Haus und Garten ausgelastet. Um die Haushaltskasse zu entlasten, trugen wir nur selbstgenähte Kleidung, außerdem schneiderte Mutter für die Nachbarn im Dorf. Meistens waren es allerdings Ausbesserungsarbeiten, für mehr reichte das Einkommen der Nachbarn auch nicht.

Nachdem wir Kinder aus dem Haus waren – wir beiden Mädchen hatten die Realschule besucht und waren dann ins Büro gegangen; Detlev hatte Grafiker gelernt und anschließend Architektur studiert; und Thomas, der Jüngste, hatte direkt Abitur gemacht und war Lehrer geworden – konnten sich unsere Eltern etwas gönnen. Sie reisten mit ihrer Kegelgruppe und später auch zu zweit durch die Welt. Leider starb mein Vater viel zu früh an einem Herzinfarkt und Mutter blieb allein zurück. Zum Glück hatte sie ihren Hausfrauenbund, in dem sie sehr engagiert war, außerdem nähte sie wieder mehr. Vaters kleine Rente reichte nicht für Extras. Aber es hatte sich herumgesprochen, wie gut Mutter als Schneiderin war und immer mehr junge Mädchen ließen sich ihre Hochzeitskleider von ihr nähen.

Zu ihrem sechzigsten Geburtstag erklärte sie, dass sie unbedingt ihren Führerschein machen wolle.

„In deinem Alter?“, fragte meine Schwester Ingrid geschockt.

„Ja, gerade deshalb. Schon immer wollte ich selbst Auto fahren. Doch das Geld hat nie gereicht. Wenn ich es jetzt nicht in Angriff nehme, schaffe ich es nicht mehr.“ Mutter wirkte entschlossen. Und so redeten wir ihr zu, schließlich hatte sie jahrzehntelang auf vieles verzichtet.

Die Theorie fiel ihr schwer. Seit über fünfundvierzig Jahren hatte sie nicht mehr lernen müssen, deshalb setzten wir uns abwechselnd mit ihr hin und übten die Verkehrsregeln und die Verkehrszeichen. Gar nicht so einfach. Ich hatte das meiste auch schon vergessen. Ab und zu erbarmten sich die beiden ältesten Enkel, die gerade den Führerschein machten, und lernten mit ihr.

Detlev und Thomas gingen geduldig mit ihr zum Verkehrsübungsplatz oder in die Feldmark und übten Anfahren, Kuppeln, Bremsen und Lenken.

„Mutter, du solltest einen Automatikwagen nehmen. Dann ist es einfacher“, meinte Thomas nach dem zweiten Versuch. Nachdem Mutter mit ihrem Fahrlehrer gesprochen hatte, befolgte sie den Rat.

Nach einem Jahr bestand Mutter im zweiten Anlauf die theoretische Prüfung. Doch bis zur praktischen fehlte ihr weiterhin viel Übung.

„Macht es dir noch Spaß?“, fragte ich sie ab und zu.

„Es ist herrlich, selbst zu fahren. Auch wenn ich die Prüfung nie schaffe, hat es sich gelohnt.“

Ich schaute sie verblüfft an. Als reines Hobby fand ich den Versuch ziemlich teuer.

„Es ist wie ein Ausflug mit euch. Wir fahren über die Landstraße, besuchen die Nachbarstädte. Dazu habe ich feste Termine, auf die ich mich freue. Wir unterhalten uns über alles Mögliche und wenn ich zu müde zum Fahren bin, chauffiert Herr Wilkens mich zurück.“

Ich verschluckte mein Lachen in einem Hustenanfall, bis ich keine Luft mehr bekam und rot anlief.

„Kind, du solltest zum Arzt gehen!“, tadelte Mutter.

„Wenn es nicht besser wird, mache ich es“, würgte ich hervor.

So traf Mutter sich in den nächsten drei Jahren regelmäßig mit Gerd, so nannte sie Herrn Wilkens inzwischen. Zweimal war sie schon durch die Fahrprüfung gefallen. „Wir wollen keinen Stress machen, die Prüfung hat noch Zeit. Ich mache sie erst, wenn ich ganz sicher bin“, erklärte sie deshalb.

Wir waren alle neugierig, Bernd Wilkens kennenzulernen. Der Mann musste eine Engelsgeduld haben. Allerdings verdiente er an Mutter auch sehr gut. Eine feste Einnahmequelle. Im Dorf kannte man ihn nur vom Sehen, wenn er Mutter abholte oder zurückbrachte. Mutter hatte keine Fahrschule aus unserer Kleinstadt nehmen wollen, weil sie das Gerede scheute.

Kurz vor ihren vierundsechzigsten Geburtstag passte ich ihn ab. Ich besuchte Mutter überraschend an ihrem Fahrschultag und musste so viel mit ihr besprechen, dass ich noch da war, als er klingelte. Mutter blühte auf, strahlend eilte sie zur Tür. Neugierig folgte ich ihr in den Flur und zog meine Jacke über. Dabei versuchte ich, ihn unauffällig zu mustern. Er wirkte sympathisch, war bestimmt schon sechzig, schlank und durchtrainiert, ungefähr so groß wie Mutter und hatte volles graues Haar.

„Guten Tag, Bernd. Das ist meine Tochter Melanie“, stellte Mutter mich vor.

Ich reichte ihm die Hand und lächelte. „Nett, Sie kennenzulernen. Mutter erzählt immer viel von ihren Fahrstunden.“

„Die machen mir auch so viel Freude“, sagte Mutter und lächelte ihn an.

„In dem Alter ist es recht schwer, Fahren zu lernen“, erklärte er. Um seine strahlend blauen Augen bildeten sich Lachfältchen. Er war wirklich liebenswürdig und ich konnte Mutter verstehen.

„Wenn es so ein großer Wunsch ist, dann sollte man ihn umsetzen“, meinte ich schmunzelnd.

Er nickte mir zu und ging mit Mutter zum Fahrschulauto. Ganz Gentleman öffnete er ihr den Wagenschlag. Die beiden unterhielten sich lebhaft und hatten mich anscheinend längst vergessen.

Ob aus dieser Freundschaft noch mehr wird? Ich gönne Mutter ein spätes Glück. Ob sie die Fahrprüfung besteht oder nicht spielt, anscheinend keine Rolle mehr.

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