Читать книгу Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren - A. F. Morland - Страница 41
Omas Nachbarn
ОглавлениеOmas Tod traf mich. Dabei war ich schon lange nicht mehr bei ihr gewesen. Aber in den letzten fünf Jahren hatte ich im Ausland studiert und dann auch dort gearbeitet. Oma war meine Zuflucht gewesen, als meine Eltern sich scheiden ließen und auch später, als das Gezerre um mich stattfand. Immer, wenn ich es nicht mehr aushielt, tröstete sie mich. Sie gab mir Heimat. Ein Zimmer in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung war für mich reserviert. Dabei hätte sie den Platz sicher anderweitig gut verwenden können.
Wenn meine Mutter arbeiten musste und mein Vater mit seiner neuen Familie beschäftigt war, zog ich zu meiner Großmutter. Zwei Jahre ging ich dort sogar zur Schule.
Nicht nur, dass Oma Zeit für mich hatte und sich alle meiner Kümmernisse anhörte, ihre Mietwohnung war auch kindgerecht. Sie wohnte im Erdgeschoss und zur Wohnung gehörte ein Garten, in dem ich spielen konnte. Im Apfelbaum hing eine Schaukel und unter dem Küchenfenster stand meine Sandkiste.
Im ersten Stock lebte Tim, mein Spielgefährte. Oma erlaubte ihn, im Garten zu spielen, auch wenn ich nicht da war. Als ich es zum ersten Mal mitbekam, war ich beleidigt. Doch als Tim mich gegen den großen Nachbarjungen verteidigte, schlossen wir Freundschaft. Jede freie Minute spielten wir zusammen. Und zwei Grundschuljahre gingen wir in eine Klasse. Doch als wir zehn waren, zog Tim weg und ich hörte nie wieder etwas von ihm.
Ich zögerte, zur Beerdigung zu fahren. Oma, die immer so herzlich und liebevoll war, die nie krank war, lebte nicht mehr. Nein, ich konnte es mir nicht vorstellen, sie im Sarg zu wissen.
Doch dann raffte ich mich auf und buchte einen Flug nach Deutschland. Sie war immer für mich da gewesen und ich nie für sie. Wenigstens diesen einen Gefallen konnte ich ihr noch tun. Auch wenn ich keine Lust hatte, meinen Erzeugern zu begegnen. Sobald wir uns sahen, stritten wir uns. Egal, ob Vater oder Mutter. Sie hatten nie richtiges Interesse an mir gehabt. Ich war nur ein Machtinstrument gewesen. Deshalb war ich auch schon mit siebzehn Jahren ausgezogen. Dafür musste ich nachmittags putzen gehen, aber das war immer noch besser gewesen, als ewig Streit zu haben.
In den Ferien zog ich zu Großmutter, auch noch in den Semesterferien, doch dann bekam ich ein Auslandsstipendium und verschwand aus Deutschland. Natürlich reichte mein Geld zuerst nicht für einen Heimaturlaub, auch als ich endlich als Berufsanfängerin arbeitete, war es noch knapp.
*
Tante Ilse, Omas Cousine, hatte die Bestattung organisiert. Sie war auch Testamentsvollstreckerin. Mutter hatte sich wohl geweigert, alles zu erledigen. Typisch. Nach der Scheidung hatte sie sich um ihren Friseursalon gekümmert, Filialen eröffnet und für nichts anderes mehr Zeit gehabt.
Ich fuhr direkt in Tante Ilses Wohnung und brachte meine Koffer bei ihr unter. Leider hatte ich keinen früheren Flug nehmen können und es war zeitlich sehr knapp. Eine Nachbarin schloss mir die Tür auf, dann fuhr ich mit dem wartenden Taxi weiter zum Friedhof.
Die Trauergemeinde stand vor der Kapelle. Tante Ilse nahm mich in ihre Arme. Sie hatte sich immer gut mit Großmutter verstanden. Mutter reichte ich nur die Hand. Erstaunt stellte ich fest, dass auch mein Vater gekommen war. Seine zweite Familie hatte er zum Glück daheim gelassen. Auch ihm gab ich nur die Hand.
In der Kapelle saß ich notgedrungen zwischen meiner Mutter und Tante Ilse. Mein Vater saß bei den Nachbarn ein paar Reihen weiter hinten.
Ein junger Mann schien mir bekannt zu sein. Ich grübelte, konnte ihn aber nicht einordnen. Kein Wunder, immerhin war ich jahrelang nicht da gewesen.
„Warum hat sie nichts geschrieben. Ich wäre doch gekommen“, sagte ich zu Tante Ilse.
„Sie wollte euch keine Sorgen machen. Und die Reise von Neuseeland ist auch sehr teuer.“
Ich biss mir auf die Lippen. Natürlich. Aber ich hätte sie bezahlen können, dann hätte ich eben nichts gespart.
„Bleibst du hier?“, fragte Mutter.
„Das habe ich nicht vor“, sagte ich kalt. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass Mutter es gern gesehen hätte. Wahrscheinlich fühlte sie sich einsam. Kein Wunder, für Freunde und Verwandte hatte sie auch nie Zeit gehabt.
Vater fragte später etwas Ähnliches. Aber er war mir noch fremder als Mutter. Und er hatte seine Frau und meine zwei Halbschwestern. Da brauchte er mich nicht.
*
Erst als fast alle Nachbarn gegangen waren, setzte sich der junge Mann zu mir.
„Kennst du mich noch?“, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. „Du kommst mir bekannt vor, aber ich kann dich nicht einsortieren.“
Er lächelte. „Verständlich, in achtzehn Jahren verändert man sich.“
Überrascht mustere ich den attraktiven brünetten Mann. Doch, die Augen hatten sich nicht verändert. Noch immer waren sie ständig zum Lachen bereit, daher war er mir bekannt vorgekommen: „Tim!“
Er nickte und ich fiel ihm um den Hals. „Man, was habe ich dich damals vermisst. Ich bin bestimmt zwei oder drei Jahre traurig gewesen, wenn ich bei Oma war.“
„Mein Vater war versetzt worden, wir mussten umziehen“, erklärte er achselzuckend.
„Und was machst du jetzt?“
„Ich bin Arzt und arbeite hier im ehemaligen Kreiskrankenhaus.“
„Welches Fachgebiet?“, fragte ich neugierig. Ich fühlte noch immer die alte Verbundenheit zu meinem Spielkameraden.
„Ich bin Chirurg. Du hast auch Medizin studiert.“
„Hat Oma es dir erzählt?“ Anscheinend hatte er engeren Kontakt zu ihr gehabt als ich. Ich bekam gleich Schuldgefühle.
„Ja, sie war ganz stolz auf dich und erzählte von deiner Arbeit in Neuseeland.“
„Ich fühle mich dort wohl. Ich habe viele Freunde und die Menschen sind sehr herzlich.“ Ich grübelte, warum Großmutter mir nichts von Tim erzählt hatte. Schließlich hatten wir regelmäßig über WhatsApp Kontakt gehabt. Vielleicht wollte sie keine alten Wunden aufreißen.
„Bist du verheiratet?“, fragte er.
„Hat Oma dir nicht vorgejammert, dass ich noch immer ledig bin?“ Ich lächelte in Erinnerung an Omas Ermahnungen, mir doch einen Mann zu suchen und nicht so wählerisch zu sein.
„Nein, aber sie hat von einem Verlobten erzählt.“
„Oh, John, das war einmal. Er arbeitet jetzt in Sydney und hat dort eine Kollegin geheiratet.“ Mir kam es vor, als wäre es schon ewig her.
„Das tut mir leid.“
„Muss es nicht. Zuerst war ich niedergeschlagen, aber ich glaube, wir hätten nicht so gut zusammengepasst. Und du?“
„Ich bin auch noch ledig.“ Er versprach mir, uns beim Ausräumen der Wohnung zu helfen.
*
Wie ich erwartet hatte, fuhren meine Eltern am Abend zurück. Beide waren wie üblich beruflich unabkömmlich. Und so waren wir dankbar, dass Tim sein Versprechen wahrmachte und schon am nächsten Abend zum Helfen kam.
Die Wohnung aufzulösen, war schrecklich – zu überlegen, welche Teile weg mussten, was wir noch gebrauchen konnten und die vielen Erinnerungen, die dabei auf uns einstürmten. Außerdem widerstrebte es mir, in den persönlichen Dingen meiner Großmutter zu wühlen.
Zum Glück übernahm Tante Ilse die unangenehmsten Aufgaben. Die Fotos sortierten wir abends vor dem Fernsehen gemeinsam. Dabei fand ich viele Kinderfotos von mir und Tim. Ein paar gab ich ihm.
„Am Wochenende gibt es im Gymnasium eine Ballettaufführung. Ich habe drei Karten ergattert und möchte euch einladen“, schlug er vor, als wir mit der Arbeit fast fertig waren.
Tante Ilse wollte eigentlich nicht mitgehen, damit sie uns nicht stört, aber wir überredeten sie und es wurde ein schöner Abend. Mir war nie bewusst gewesen, wie ähnlich sich Tante Ilse und Großmutter waren. Da Tante Ilse kinderlos war, kam mir wohl jetzt die Familienaufgabe zu, mich um sie zu kümmern.
Also lud ich sie am nächsten Tag zu mir nach Neuseeland ein. Und sie sagte sofort zu. Ich freute mich, dass sie es sich trotz ihrer 73 Jahren zutraute. Die Arbeit fiel gleich viel leichter, wir planten ihre Reise und ich versprach, in den nächsten Tagen mit ihr zum Reisebüro zu gehen und ihr beim Buchen der Reise zu helfen.
Im Überschwang der Begeisterung lud ich am Abend Tim ebenfalls ein, mich zu besuchen. Er entfernte gerade Nägel aus den Wänden, während ich die Löcher zugipste. Tante Ilse hatte ich überredet, zu ihrem Bridge-Abend zu gehen, schließlich brauchte sie zwischendurch eine Erholungspause und musste außerdem sie ihre Freundschaften pflegen.
„Sei vorsichtig mit deinen Einladungen, sie könnten angenommen werden“, warnte Tim lächelnd.
„Und ich freue mich, wenn ich Besuch aus Deutschland bekomme.“ Ich strahlte ihn an.
„Ach so, und warum hast du deine Eltern bisher noch nicht eingeladen?“, hakte er nach.
„Woher weißt du das?“, antwortete ich ernst. Über meine Eltern mochte ich nicht sprechen, mit niemanden.
„Weil deine Großmutter es mir gesagt hat.“
„Meine Großmutter?“, staunte ich.
„Ja, wir haben uns darüber unterhalten. Sie wäre gern geflogen, hat es sich aber nicht zugetraut. Sie war auch schon zu krank dazu. Aber deine Mutter hat sich bei ihr beklagt, dass du sie nie einlädst.“
Ich schwieg eine Weile.
„Unser Verhältnis ist nicht so, dass ich sie gern bei mir zu Hause hätte. Meine Eltern haben mir meine Kindheit ganz schön zur Hölle gemacht.“ Mein Kopf begann zu schmerzen, wie immer, denn ich länger mit ihnen zusammen war oder mich mit ihnen auseinandersetzte, auch ein Grund, warum ich meine Eltern mied.
„Aber jetzt bist du erwachsen“, erwiderte er leise.
„Und soll auf Familie machen? Familie, die ich nicht hatte, als ich sie brauchte?“, fauchte ich, dabei konnte Tim doch gar nichts für meine verkorkste Familie.
„Beruhige dich doch.“ Er nahm mich in seine Arme. Ich schmiegte mich an ihn, ohne Rücksicht auf meine weißen Gipshände. Mann, wie sehr hatte ich ihn die letzten achtzehn Jahre vermisst. Er küsste meine Haare.
„Kathi, sie muss doch nicht bei dir wohnen. Buche ein Hotel für sie und dann könnt ihr ein paar Sachen gemeinsam unternehmen.“
„Sie hat doch nie Zeit“, wandte ich ein.
„Inzwischen wohl doch. Ihr Geschäft läuft nicht mehr so gut.“ Er strich mir besänftigend über den Rücken.
„Welches von ihren Geschäften?“, fragte ich verblüfft und schaute ihn an.
„Sie hat nur noch eins.“
Das war neu für mich. Oma hatte mir anscheinend einiges verschwiegen.
„Und, hatte sie Zeit für Großmutter?“ Früher hatte sie sich nie um ihre Mutter gekümmert. Oma war immer nur gut, wenn sie als Babysitter für mich einsprang.
„Mehr als du in den letzten fünf Jahren.“
Ich schluckte. Das saß. Ich fühlte mich doch selbst schon so schuldig.
„Deine Großmutter fand es gut, dass du in Neuseeland arbeitest. Und dass du nach Kanada wechseln willst“, nahm Tim seinen Worten die Schärfe.
„Ich habe sie mehrmals eingeladen, aber sie hat immer abgelehnt“, sagte ich traurig. „Wie gern hätte ich ihr Neuseeland gezeigt und meine neuen Freunde vorgestellt.“
„Sie war krank.“
„Das hat sie mir nie gesagt.“ Tränen traten in meine Augen, ich schluckte.
„Sie wollte dich nicht beunruhigen. Sie meinte, du hättest es so schon schwer genug gehabt.“
„Ich habe in den letzten Jahren meinen Studienkredit zurückgezahlt“, murmelte ich.
„Studienkredit? Deine Eltern hatten doch genug Geld“, wunderte sich Tim.
„Nicht für mein Studium. Mutter hätte mich gern als Friseurin in ihrem Laden gesehen und Vater als Buchhalterin in seiner Steuerberatungspraxis. Und als ich sagte, ich studiere, meinten sie, dann solle ich doch das Studium selbst finanzieren“, stieß ich bitter hervor. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich an die damaligen Streitigkeiten dachte. Natürlich hätte ich den Unterhalt einklagen können, aber das wollte ich nicht. Ich fand, in meinem Leben waren schon genug Rechtsanwälte beschäftigt worden.
Er drückte mich. „Trotzdem solltest du deine Eltern einmal einladen. Es wird Zeit, dass ihr eure Streitigkeiten beseitigt.“
„An denen ich nicht schuld war. Das waren doch nur Machtkämpfe, um dem Ex eins auszuwischen.“ In mir tobten Stürme, die ganze Bitterkeit meiner Kindheit und Jugend tauchte wieder auf.
„So ähnlich sah deine Großmutter es auch. Aber sie hoffte auch, dass du dich mit deinen Eltern aussöhnst.“ Er zog mich wieder enger an sich und wiegte mich wie ein kleines Kind.
Ich stöhnte. „Nicht jetzt, ich kann es noch nicht. Vielleicht in ein paar Jahren.“ Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund. Er erwiderte den Kuss, erst sanft, dann stürmischer.
Nach einer Weile fragte ich atemlos: „Besuchst du mich in Neuseeland?“
„Und in Kanada!“ Lächelnd strich er mir die Haare aus dem Gesicht und küsste mich erneut.