Читать книгу Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren - A. F. Morland - Страница 32

Оглавление

Völlig ausgebrannt


Ich sah von der Arbeit auf, als meine Kollegin Sarah den Raum betrat. Von ihr ging ein Strahlen aus, als ob die Sonne aufgehen würde. Und das am frühen Montagmorgen. Ich konnte es nicht fassen. Hatte Sarah sechs Richtige im Lotto gewonnen?

„Ich habe gekündigt“, sprudelte Sarah heraus.

„Und was machst du jetzt?“, fragte Jan. Er sortierte die Fotos für seine Margarine-Werbung.

„Ich studiere. Ich habe einen Platz an der Journalistenschule bekommen. Und da ich noch Resturlaub habe, werde ich nur noch zwei Wochen arbeiten. Dann bin ich weg.“

Ich schluckte. Lena würde auch nur noch die paar Wochen bis zum Mutterschutz hierbleiben, wenn sie überhaupt noch erschien, da sie immer wieder krankgeschrieben wurde. Der Stress in der Firma setzte ihr so zu, dass ihr Arzt Sorge um ihr Baby hatte. Und Sophie hatte nach Süddeutschland geheiratet und war schon seit zwei Monaten weg. Ersatz hatten wir nicht wirklich bekommen. Unser Chef hatte nämlich festgestellt, dass Praktikanten fast genauso gut arbeiteten wie seine festangestellten Mitarbeiter, aber erheblich preiswerter waren.

Den ganzen Tag hatte ich Probleme, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Eigentlich hatte ich im Mai heiraten und bald Kinder bekommen wollen. Dann wäre ich auch weg gewesen. Doch Martin hatte im letzten Augenblick Panik bekommen. Wahrscheinlich hatte seine Mutter gestichelt und mich schlechtgemacht. Also hatte er unsere Hochzeit platzen lassen.

Wenn schon keine Ehe und Familie, dann musste ich eben etwas anderes in meinem Leben ändern. Mir fielen meine einstigen Pläne ein, ins Ausland zu gehen. Gleich nach der Schule hatte ich als Au-pair-Mädchen arbeiten wollen. Doch dann war mein Vater krank geworden und ich konnte meine Mutter nicht im Stich lassen. Sie war so schon mit dem Alltag überfordert gewesen.

Aber jetzt, mit Mitte zwanzig noch als Au-pair-Mädchen in eine Familie gehen? Doch wie sollte ich sonst im Ausland meinen Unterhalt verdienen? Meine Englisch-Kenntnisse waren recht dürftig. Sprachen lagen mir nicht, trotzdem reizte mich ein Auslandsaufenthalt. Andere Länder und andere Menschen kennenlernen, ein ganz anderes Leben zu führen, davon hatte ich schon als kleines Kind geträumt. Im Büro würde ich nicht arbeiten können. Wie also könnte ich Geld verdienen? Oder sollte ich meine Ersparnisse aufbrauchen? Für die Hochzeit und den Haushalt brauchte ich das Geld jetzt nicht mehr.

Tagelang beschäftigte mich die Frage. Es musste auch gar nicht England sein. Vielleicht könnte ich irgendwo in einem Dritte-Welt-Land helfen? In unserer Zeitung stand ein Artikel von einer Abiturientin, die in Südamerika lebte. Ich musste mich einfach einmal erkundigen.

Die Arbeit in der Firma wurde noch stressiger. Lena war über Wochen krankgeschrieben, demnächst würde ihr Mutterschutz beginnen. Sarah jobbte inzwischen bei einem Anzeigenblatt. „Vielleicht kann ich dort während des Studiums ein bisschen dazuverdienen“, sagte sie.

Und von Sophie kamen lange Mails. Sie hatte in München einen Traumjob gefunden. Jan wurde immer unleidlicher. Wir beiden mussten Praktikanten einarbeiten, sie bei Laune halten und nebenbei unsere Arbeit erledigen. Inzwischen entwarf ich auch schon Texte, obwohl ich eigentlich nur als Bürokraft eingestellt war und mit unserer Buchhaltung mehr als genug zu tun hatte.

„Mach doch noch eine Ausbildung als Texterin oder als Journalistin“, schlug Jan vor, als ich mich mal wieder beschwerte.

„Und du?“

„Ich? Ich hoffe, auf einen großen Auftrag, der mich berühmt macht.“

„Doch nicht hier.“

Dazu sagte er nichts, sah aber so komisch aus.

„Willst du auch weg?“, fragte ich geschockt.

Er nahm einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse. „Das Telefon klingelt.“ Schnell stand er auf und verschwand.

Dabei konnte ich nichts hören, obwohl ich gute Ohren besaß.

Wenn ich nicht bald etwas unternehmen würde, wäre ich die letzte Festangestellte. Wenn jetzt auch noch Jan wegging ...

Daheim holte ich mir Eis aus dem Kühlschrank und zog mich mit dem dicken Schmöker, den ich mir am Bahnhof gekauft hatte, auf das Sofa zurück und las bis zum frühen Morgen. Am nächsten Tag ging es mir noch immer nicht besser. Kein Wunder, so übermüdet wie ich war.

Aber ich fand eine Organisation, die Freiwillige zur Restaurierung von historischen Gebäuden einsetzte. In Frankreich wurde gerade eine Burg wiederaufgebaut.

Mein Französisch war nie gut gewesen und seit der Schulzeit hatte ich es auch nicht mehr benutzt. Doch die Gegend sah toll aus. Südfrankreich. Ich müsste nicht monatelang dort leben, sondern nur ein paar Wochen. Und nebenbei konnte ich einen Sprachkurs machen. Am besten besuchte ich vorher schon einen. Gesagt, getan. Gleich am nächsten Tag meldete ich mich an einer privaten Sprachschule für einen Abendkurs an.

Natürlich war es anstrengend. Nach einem stressigen Tag in der Firma konnte ich mich kaum konzentrieren. Aber ich wollte unbedingt Französisch lernen. Und ich bewarb mich bei dieser Organisation.

Ich hatte Glück und wurde für den Spätsommer genommen. Also kündigte ich gleich am nächsten Tag meinen Arbeitsvertrag und meine kleine Einzimmerwohnung. Das Bett und den Kleiderschrank wollte ich im Keller meiner Eltern unterstellen. An Lena verkaufte ich meine Waschmaschine und Jan war bereit, mein Bücherregal und meinen Tisch zu übernehmen.

„Und was machst du nach dem Frankreichaufenthalt?“, fragte Jan.

„Vielleicht suche ich mir einen Job als Buchhalterin; ich war blöd, mir keinen Wechsel zuzutrauen. Oder ich gehe für ein paar Monate nach Großbritannien.“

„Hast du keine Lust, noch zu studieren?“

„Ein Jahr lang eine Auszeit zu nehmen, kann ich finanzieren. Ich habe es durchgerechnet. Aber vier Jahre studieren geht nicht.“

„Du kannst nebenbei arbeiten. Eventuell bekommst du Bafög?“

Ich schüttelte den Kopf. „Leider nein. Aber vielleicht sollte ich meinen Bilanzbuchhalter machen. Dauert ein Jahr in der Abendschule. Nur in unserer Firma kann man Abendkurse doch vergessen.“ Ich sprach aus leidvoller Erfahrung. Jede Französischstunde musste ich mir erkämpfen, da mein Chef wollte, dass ich die liegengebliebene Arbeit noch erledigte. Erst nach einem Monat Streit nahm ich meinen Mut zusammen und suchte eine Aussprache. Mir konnte doch gar nichts passieren. Ich hatte längst gekündigt.

„Die Arbeitsbedingungen sind in den letzten Wochen katastrophal geworden. Wenn Sie nichts ändern, werden Sie keine guten Kräfte mehr finden. Jan und ich arbeiten bis zur völligen Erschöpfung, weil Sie die weggegangenen Kollegen nicht ersetzt haben. Deswegen gehe ich jetzt auch. Und mehr als die gesetzlich zulässigen Stunden arbeite ich nicht mehr. Notfalls schalte ich die Gewerkschaft ein.“

Dem Chef blieb der Mund offen stehen. Wahrscheinlich würde er mir ein schlechtes Zeugnis ausstellen – sei‘s drum. Ich musste mich zum Glück hier nicht mehr lange betätigen. Nach dem Gespräch machte ich täglich pünktlich Schluss. Egal, wie viel Arbeit noch herumlag.

Die freie Zeit brauchte ich auch. Ich musste so viel erledigen. Alle Vorsorgetermine bei den Ärzten nahm ich in Anspruch. Wer weiß, wie die Ärzte in Frankreich waren und ob ich sie verstehen konnte.

Dann musste ich mich überall abmelden oder ummelden. Dieser deutsche Papierkram. Versicherungen, GEZ, Strom und Wasser und und und ...

Endlich ging es los. Meine Eltern brachten mich zum Flughafen. Meine Mutter hatte Tränen in den Augen. „Mama, ich wandere doch nicht aus. Es ist nur für zwei Monate.“ Ich umarmte sie und lachte. Dabei war mir momentan eher nach Weinen zumute.

Aufgeregt checkte ich ein und wartete, bis ich endlich aufgerufen wurde. Ich war heilfroh, den Französischkurs gemacht zu haben. In Toulouse musste ich in den Bus umsteigen und irgendwann landete ich müde im Camp.

Die ersten vier Wochen vergingen wie im Fluge. Unsere Gruppe bestand aus jungen Studenten aus aller Herren Länder und wir verstanden uns hervorragend. Nach der Arbeit unternahmen wir gemeinsam etwas, feierten, machten Ausflüge oder unterhielten uns einfach. Zweimal in der Woche besuchte ich einen Französischkurs und da mir meine Kollegen halfen, lernte ich mehr als in der Schulzeit. Vielleicht war ich doch gar nicht so sprachunbegabt, wie ich immer gedacht hatte.

Mit meiner Familie und meinen Freunden daheim blieb ich übers Internet und das Handy verbunden. Jan hatte kurz nach mir gekündigt und arbeitete jetzt in einer großen Werbeagentur.

Gegen Ende meiner Zeit besuchte er mich und wir machten gemeinsam einen Ausflug nach Marseille.

„Schreib doch einen Text über dein Leben hier in Frankreich“, schlug er vor. Und da es die letzte Woche regnete, setzte ich mich tatsächlich an den PC und berichtete über das Leben und die Arbeit. Ich schrieb nicht nur einen Text, sondern gleich mehrere, weil ich mich nicht entscheiden konnte. Ich beschrieb die Gegend, die Arbeit als Freiwillige und meine Erfahrungen mit dem Sprachenlernen.

Nach den zwei Monaten reiste ich mit dem Zug durch Frankreich. Ich bereiste das Rhonetal und die Alpen, die Loire, die Bretagne und Paris. Am Ende beschloss ich, vorerst nicht in Deutschland zu arbeiten. Ich besuchte meine Eltern und blieb ein paar Wochen bei ihnen, bis meine Papiere für Südamerika fertig waren. Ich wollte dort in einem Kindergarten arbeiten. Kein ganzes Jahr, das war mir zu viel, aber ein halbes. Ich lernte Spanisch, in einem einwöchigen Intensivkurs an einer Sprachenschule und machte mich dann optimistisch auf den Weg nach Bolivien.

Diesmal hatte ich leider keine so fröhliche Gruppe wie in Frankreich. Doch die Mitarbeiter waren nett und meine Hilfe war wirklich nötig. Die Armut der Menschen erschütterte mich. Trotz der vielen Arbeit besuchte ich Spanischkurse, übte daheim und während der Arbeit, die wenige Freizeit nutzte ich, um meine Eindrücke zu Papier zu bringen.

Jan hatte sich bemüht, für meine Manuskripte aus Frankreich Abnehmer zu finden. Tatsächlich erschienen alle Texte in Zeitungen und Zeitschriften. Das motivierte mich, weiterzuschreiben, und bald wurden auch die Artikel aus Südamerika gedruckt.

„Willst du nicht doch Journalistin werden? Du schreibst so interessant“, lobte Jan.

Inzwischen hatte ich mir eine gute Kamera angeschafft und machte viele Fotos. Langsam zweifelte ich an meinem Vorhaben, Bilanzbuchhalterin zu werden. Schreiben und Fotografieren machten mir wirklich viel Spaß.

Als meine Zeit um war, reiste ich durch Südamerika. In Rio de Janeiro traf ich mich mit Jan und wir sahen uns gemeinsam Brasilien an.

„Kann ich auch daheim schreiben? Da passiert doch nichts“, zweifelte ich, als er mich wieder darauf ansprach.

„Du kannst auch über den Harz oder die Lüneburger Heide berichten“, tröstete Jan.

Gemeinsam flogen wir zurück. Daheim meldete ich mich für ein Fernstudium Journalismus an. Wenn die Honorare für die Zeitungsartikel nicht reichten, würde ich eben stundenweise als Buchhalterin arbeiten. Aber Jan hatte recht, ich wollte wirklich noch studieren.

Seit meinem Sabbatical und den Auslandsaufenthalten bin ich viel selbstbewusster geworden. Ich habe zusätzlich ein paar Englischkurse gemacht und bin jetzt viersprachig, außerdem habe ich es geschafft, allein im Ausland zurechtzukommen. Am meisten motiviert mich aber mein journalistischer Erfolg. Ich hätte nie gedacht, meine Texte verkaufen zu können. Ab und zu reise ich, oft begleitet mich Jan. Die Fahrten sind nicht mehr so lang, aber lang genug, um einen Eindruck von der Gegend zu bekommen und darüber berichten zu können. Aus den Fotos und den Erlebnissen mache ich nicht nur Zeitungsartikel, sondern schreibe inzwischen auch Bücher.

Jan ist als Werbetexter erfolgreich. Aber auch er hat aus unserer alten Firma gelernt und lässt sich nicht mehr so stark vereinnahmen. Er sorgt dafür, dass er genug Pausen hat und sein Privatleben nicht zu kurz kommt. Darauf lege ich großen Wert. Im nächsten Monat wollen wir nämlich heiraten.

Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren

Подняться наверх