Читать книгу Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren - A. F. Morland - Страница 29

Der attraktive Nachbar

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Inken schleppte den schweren Einkaufskorb die drei hohen Altbauetagen hoch. Auf halber Strecke kamen ihr zwei Männer entgegen. Die Tür zu der Zweizimmerwohnung unter ihr stand offen. Im Flur behinderten mehrere Umzugskartons ihren Weg. Zog jetzt endlich jemand ein? Lange genug hatte es ja gedauert. Fast ein halbes Jahr hatte die Wohnung leer gestanden und das bei dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum.

„Peter, die Sessel kommen ins Wohnzimmer.“ Ein Mann erschien in der Zimmertür.

„Guten Tag, ich bin Inken Rattke und wohne über Ihnen“, stellte sie sich vor.

Er murmelte etwas, was sie nicht verstand, da er sich gerade umdrehte, und endete mit: „Dann sehen wir uns bestimmt öfter.“ Er lächelte sie an und trat dann an ihr vorbei in das Treppenhaus.

Schwere Schritte kamen die Treppe hoch. Ab und zu stieß etwas gegen das eiserne Treppengelände und rumpelte laut.

Inken drehte sich um. Die beiden Männer trugen ein kleines Sofa hoch.

„Wir sehen uns!“ Sie nickte ihrem neuen Nachbarn zu, hob den Einkaufskorb hoch, den sie abgesetzt hatte, und kämpfte sich die letzte Treppe nach oben.

Der Neue sah interessant aus. Braune kurze Haare, dunkle Augen, etwa einen Kopf größer als Inken, und drahtig. Er gefiel ihr. Ob er noch frei war? Sie musste ihn unbedingt näher kennenlernen.

Am nächsten Morgen döste sie nach dem Weckerklingeln noch eine Weile weiter. Als sie die Augen öffnete, war es hell im Zimmer. Himmel, sie hatte verschlafen. Erschrocken sprang sie aus dem Bett und unter die Dusche. Erst als sie das Fenster öffnete, sah sie den Grund für die Helligkeit. In der Nacht hatte es geschneit. Mit dem Handtuch um den Kopf geschlungen lief sie ins Schlafzimmer zurück und schaute auf den Wecker. Halb sieben. Kein Grund zur Panik. Erleichtert atmete sie aus. Dann föhnte sie die Haare und zog sich an. Auf dem Weg zum Bus überlegte sie, wie sie ihren Nachbarn näher kennenlernen konnte. Ob er über Weihnachten daheim war? Dann könnte er doch ihre Blumen gießen. Eigentlich brauchten die während der drei Tage kein Wasser, aber sie gaben einen guten Grund, ihn anzusprechen.

Am Abend kochte sie wie üblich, da sie das Kantinenessen nicht mochte. Vom Eintopf konnte sie ein paar Tage satt werden und musste nicht täglich Zeit fürs Kochen aufwenden. Es klingelte an der Tür. Inken ging hin und schaute durch den Spion. Der neue Nachbar. Ihr Herz hüpfte vor Freude. Eilig riss sie die Tür auf.

„Guten Abend, können Sie mir einen Dosenöffner leihen? Meiner liegt noch in irgendeinem Karton und ich habe ihn noch nicht gefunden.“

„Kommen Sie doch rein.“ Inken ging in die Küche, stellte die Herdplatte mit dem Topf, dessen Deckel schon laut klapperte, auf niedrigste Stufe und zog eine Schublade auf. Dann kramte sie erst einmal herum, bis sie das gewünschte Teil gefunden hatte.

„Kann ich Ihnen Kartoffelsuppe anbieten? Sie ist gleich fertig.“

Er schüttelte den Kopf. „Danke, ich habe mich schon auf Bohnensuppe eingestellt.“

„Serbische Bohnensuppe aus der Dose?“

Er lachte. „Ja.“

„Ich habe reichlich. Ganz frisch. Wollen Sie nicht doch mit mir essen?“

Er nahm den Dosenöffner und schüttelte den Kopf. „Vielen Dank, ich bringe ihn gleich zurück.“

Inken stellte den Fernseher an und schaute das Vorabendprogramm. Dann aß sie. Die Zimmertür sperrangelweit offen, damit sie das Klingeln nicht verpasste, auch wenn es vom Hausflur kalt hereinzog. Doch der Nachbar kam nicht, dabei bleib sie bis Mitternacht auf, obwohl sie früh aufstehen musste.

Am Morgen entdeckte sie an seiner Tür ein Namensschild: Simon Geber.

Nach der Arbeit klingelte sie bei Simon, wie sie ihn in Gedanken längst nannte. Doch niemand öffnete. Wieder sah sie bis zu den Spätnachrichten fern, sie ließ sogar ihr Steppaerobic sausen, um ihn nicht zu verpassen. Aber er kam nicht vorbei.

Am Morgen hörte sie Musik aus Simons Wohnung, kurz überlegte sie, sofort runterzugehen und sich zu beschweren, aber dazu reichte die Zeit dann doch nicht.

Am Abend klingelte sie wieder bei ihm. Diesmal öffnete Simon. „Ach der Dosenöffner. Den hatte ich schon ganz vergessen, dabei habe ich inzwischen meinen eigenen ausgepackt.“

Er bat sie herein. Im Wohnzimmer stand das rote Sofa mit zwei passenden Sesseln, an der langen Wand war ein kleiner Schrank und ein großes Fernsehgerät.

Er brachte den Dosenöffner aus der Küche und zwei Gläser. „Ein Glas Wein als Entschädigung?“, fragte er.

Sie schaute auf die Uhr. „Eigentlich wollte ich noch zum Schwimmen.“

„Mit einem Glas Riesling geht es bestimmt viel besser.“

„Nein, damit gehe ich unter wie ein Sandsack.“ Sie lachte und setzte sich auf das Sofa. Er schenkte die Gläser ein und ließ sich auf dem Sessel nieder.

„Auf gute Nachbarschaft.“

„Auf gute Nachbarschaft! Sind Sie neu in der Stadt?“, fragte Inken.

„Nein, ich habe hier studiert. Bin aber jetzt von München hergezogen. Ich habe mich hier immer wohlgefühlt.“ Er streckte seine Beine aus.

„Wo arbeiten Sie denn?“

Offen erzählte er von seinem Job als Journalist.

„Oh, das ist sicher spannend. Ich arbeite nur für eine Versicherung.“ Inken ließ ihr Schwimmen ausfallen. Ihre beiden Freundinnen würden es ihr verzeihen. Aber der Typ war zu süß, die Gelegenheit wollte sie nicht verpassen.

Leider blieb es bei diesem einen Gespräch. In den nächsten Wochen sah sie ihn nicht. So konnte sie ihn auch nicht bitten, über Weihnachten ihre Blumen zu gießen.

Anfang Februar schneite es wieder. Sie brauchte täglich lange, um zur Arbeit zu kommen. Die Busse fuhren verspätet. Selbst der Fußweg durch den hohen Schnee zur Haltestelle war anstrengend und dauerte. Sie war froh, überhaupt in die Firma zu kommen.

Hin und wieder sah sie in Simons Wohnung Licht brennen. Leider fiel Inken nichts ein, um zu klingeln, ohne aufdringlich zu wirken. Sie musste sich eben in Geduld fassen.

„Kommst du mit zum Fasching?“, fragte ihre Freundin eines Tages bei einem Treffen.

Inken zögerte. Ohne Partner machte so ein Fest keinen Spaß. Dann fiel ihr Simon ein. Ob er als Journalist zur Feier ging, um darüber zu berichten? Sie würde ihn fragen oder besser noch ihn einladen, damit er davon schreiben konnte.

Sie hatte Glück und traf ihn am Wochenende beim Bäcker. „Kommen Sie auch zum Fasching des Sportvereins? Das ist in unserem Stadtteil die größte Feier.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich dachte, Sie schreiben einen Artikel darüber“, sagte sie enttäuscht.

Er lächelte. „Für die Vereine bin ich nicht mehr zuständig. Ich arbeite im Politikressort.“ Nach einer kleinen Pause ergänzte er: „In einer überregionalen Zeitung.“

Sie biss sich auf die Lippen. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln. „Sind Sie viel unterwegs?“

„Ja, ich bin häufig in Berlin.“

Noch immer wusste sie nicht, ob er eine feste Partnerin hatte. Doch sie wagte nicht, direkt zu fragen, schließlich kannte sie ihn kaum.

Eine Woche später traf sie ihn wieder. Diesmal im Treppenhaus. Es hatte getaut, draußen sangen die Vögel, die Haselnüsse blühten und selbst die Krokusse streckten ihre Blätter aus dem Boden.

„Wir planen schon unser Nachbarschaftsfest. Helfen Sie auch dabei?“, fragte sie und als er überrascht aufsah: „Eigentlich feiern wir erst am letzten Wochenende vor den Sommerferien. Aber Frau Braun ist die Einzige im Organisationskomitee, deshalb fängt sie jetzt schon an, alle Nachbarn einzuspannen.“

„Und warum fragt sie mich nicht direkt?“ Es klang nicht sehr ermutigend, doch Inken ließ sich nicht aus der Fassung bringen. „Weil Sie nie daheim sind. Sie hat schon mehrmals bei Ihnen geklingelt.“

Er lachte. „Richten Sie ihr aus, dass ich keine Zeit habe und nicht komme.“

Sehr gesellig schien er nicht zu sein. „Das wissen Sie schon jetzt?“ Sie zweifelte an seiner Ehrlichkeit.

„Im Sommer bin ich unterwegs“, erwiderte er kühl.

Drei Tage später war der Winter zurückgekommen und die Straße spiegelglatt. Niedergeschlagen fuhr Inken mit dem Bus zur Arbeit. Jetzt wohnte dieser gutaussehende Mann schon seit zehn Wochen unter ihr, aber sie hatte ihn erst fünfmal getroffen und nur wenige Worte mit ihm gewechselt.

Kurz vor der Firma drehte sich der Bus um sich selbst bei dem Versuch, vor der roten Ampel zu bremsen.

Inken stieg besonders vorsichtig aus. Der Tag verlief genauso mies, wie er angefangen hatte. Sie hatte zwei fürchterliche Kundengespräche. Ihre Kollegin war gestürzt und lag im Krankenhaus. Inken würde die nächsten Wochen ihre Arbeit übernehmen müssen. Und ihre Chefin erlitt einen Wutanfall, weil der neue Azubi vergessen hatte, die Anzeige rechtzeitig abzuschicken.

Erleichtert stieg Inken abends in den Bus, schloss die Augen und nickte doch tatsächlich ein. Erst als sie ein Martinshorn hörte, schaute sie hoch. Himmel, ihre Station. Die nächste war besonders weit entfernt. Sie sprang hoch und durch die sich gerade schließenden Türen hinaus. Dabei rutschte sie aus, fiel erst auf ihr Bein, dann auf ihren Steiß und schließlich auf ihren Arm. Ein stechender Schmerz durchzuckte sie. Sie schrie auf. Der Fußweg war so glatt, dass sie noch ein Stück weiterrutschte. Direkt in einen Mann, der am Kiosk neben ihrem Hauseingang stand. Selbst das bremste sie nicht völlig ab, sondern riss ihn nur von den Beinen. Er stürzte auf sie und sie schlug jetzt auch noch mit ihrem Kopf auf. Sie stöhnte auf. Tränen schossen in ihre Augen.

„Hallo, Sie sind aber stürmisch.“ Der Mann richtete sich auf, indem er sich an der Regenrinne festhielt. „Frau Rattke? Ist alles in Ordnung?“ Simon blickte auf sie herab und reichte ihr die Hand.

Inken biss die Zähne zusammen, griff mit der schmerzfreien Linken zu und ließ sich hochziehen. Doch sie konnte kaum auf ihrem rechten Bein stehen.

„Wirklich alles in Ordnung?“ Besorgt musterte er sie.

„Nein, mein Bein. Ich kann nicht stehen.“ Sie biss ihre Zähne zusammen.

„Am besten bringen wir Sie ins Krankenhaus.“ Er zog sein Handy aus der Tasche und rief den Notdienst, der meinte, es könne dauern, sie hätten so viele Notfälle, deshalb rief er ein Taxi. Dann bugsierte er Inken in den Kiosk und setzte sie dort auf einen Stuhl, den der Verkäufer aus einem Hinterzimmer holte.

Als die Taxe kam, setzte er sie nicht nur hinein, sondern begleitete sie. Im Krankenhaus mussten sie mehrere Stunden warten, weil so viele Menschen gestürzt waren. Simon las ihr vor und spielte Mau-Mau mit ihr. Den Roman und das Kartenspiel hatte er im Krankenhausladen besorgt. Als Inken aufgerufen wurde, verabschiedete Simon sich.

Inken wurde untersucht und geröntgt. Ihr Arm und ihr Steiß waren geprellt, das Bein gebrochen. Die Ärzte gipsten es ein, der Arm erhielt einen Zinkleimverband. Anschließend wurde sie mit der Taxe nach Hause geschickt.

Der Wagen hielt direkt vor dem Hauseingang. Sie stieg mühsam aus und humpelte vorsichtig zum Eingang. Dann stand sie vor der Treppe und schaute verzweifelt hoch. Drei Stockwerke. Wie sollte sie das schaffen?

Zum Glück hatte Simon auf sie gewartet und kam die Treppe heruntergeeilt. „Ich kann dich doch nicht hier stehenlassen. Irgendjemand muss dir doch die Treppe hoch helfen.“

Inken schaute ihn zweifelnd an. Eigentlich brauchte sie einen Fahrstuhl, selbst mit Hilfe würde es anstrengend werden.

„Na, dann wollen wir mal.“ Simon bückte sich leicht und hob sie hoch.

„Ich bin viel zu schwer“, protestierte sie.

„Nicht schwerer als die Gewichte im Fitness-Studio.“ Er trug sie in den ersten Stock. Dann machte er eine Pause.

„Lass mich hinunter. Ich schaffe es schon“, sagte sie. Es war ihr peinlich, dass Simon sich so abquälen musste.

Aber er hielt sie fest und setzte sich wieder in Bewegung. „Ich verzichte heute auf das Fitness-Studio“, antwortete er keuchend.

„Dazu ist es sicher schon zu spät.“

Er lachte und musste eine Pause machen, weil er keine Luft mehr bekam.

Oben setzte er sie vor ihrer Tür ab. Nachdem sie aufgeschlossen hatte, trug er sie ins Wohnzimmer bis zum Sofa.

„Kann ich dir noch etwas zu essen und trinken holen?“, fragte er, nachdem er endlich wieder ruhig atmete.

„Das wäre lieb. Im Kühlschrank steht Saft. Und ein Joghurt.“

Er bot an, für sie zu kochen, doch sie lehnte ab. „Ich bin viel zu müde, um noch groß zu essen.“

„Kann ich sonst noch irgendwie helfen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Dann gehe ich. Morgen Abend schaue ich wieder vorbei. Schreib einen Einkaufszettel, ich besorge dir dann alles.“ Er zwinkerte ihr zu und zog die Tür hinter sich zu.

Inken strahlte. Natürlich ärgerte sie sich über ihren Gips. Und die Verletzungen schmerzten trotz der Medikamente. Außerdem würde sie das Schlittschuhlaufen mit ihren Freunden am Wochenende absagen müssen. Aber wenn Simon dafür öfter bei ihr vorbeischaute, würde es sie vollauf entschädigen.

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