Читать книгу Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren - A. F. Morland - Страница 43

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Der alte Schulkamerad


Sorgfältig zupfte ich ein kleines Pflänzchen heraus, anschließend goss ich die frisch gepflanzten Begonien.

„Zehn Jahre ist es schon her“, murmelte ich. Wie viele Pläne hatten wir gehabt.

„Wenn die Kinder aus dem Haus sind, fahren wir nach Island“, hatte Robert mir versprochen. Er selbst wollte China sehen. Und als Rentner wollten wir mit dem Wohnmobil durch Europa und später durch Nordamerika reisen. Doch dann kam er eines Tages nicht nach Hause. Herzinfarkt in der Firma. Der Notarzt kam zu spät und konnte nichts mehr tun. Dabei waren wir doch noch so jung und die Kinder noch gar nicht fertig mit ihrer Ausbildung.

Sanne studierte im dritten Semester Chemie, Benni hatte gerade sein Abitur bestanden und befand sich im Zivildienst. Zum Glück sorgte die Lebensversicherung dafür, dass die Kinder ihre Ausbildungen beenden konnten. Und ich konnte mir in Ruhe eine Arbeit suchen, die mir gefiel. Ich wollte nicht wieder als Krankenschwester arbeiteten. Die Tätigkeit war mir inzwischen zu anstrengend. Aber ich hatte Glück und fand eine Anstellung in einer Galerie.

Obwohl ich zur Gymnastik und zu einem Italienischkurs ging und viele Freunde hatte, fühlte ich mich oft einsam. Ich wusste aber nicht, was ich sonst noch dagegen unternehmen konnte. Die Kinder waren inzwischen längst aus dem Haus und meine Freundinnen hatten alle Partner. So hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Aber ich musste es nehmen, wie es war.

Ich nahm die Gießkanne, nickte dem Grab zu und spazierte über den Waldfriedhof. Ein paar Gräber weiter saß ein Rotkehlchen auf einer Tanne und sang ein Lied. Ein Eichhörnchen huschte einen Baumstamm hoch. Ruhig und friedlich war es hier. Kaum zu glauben, dass ein paar Meter weiter die große Bundesstraße vorbeiführte.

Schließlich ging ich zum Parkplatz und legte Gießkanne, Schaufel und Harke in den Kofferraum.

Beim Ausparken stieß ich mit einem Auto, das mit viel zu hoher Geschwindigkeit an der Parkreihe vorbeifuhr, zusammen. Es krachte laut. Vor Schreck ging mir der Motor aus. „Verdammt, muss der so rasen?“, fluchte ich und stieg aus, um den Schaden zu begutachten. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen und meine Hände zitterten.

„Können Sie nicht aufpassen?“, fauchte der Fahrer mit rotem Gesicht.

„Ich habe mich vorsichtig in die Straße getastet. Wenn Sie ein angemessenes Tempo gehabt hätten, hätten Sie mich rechtzeitig gesehen“, verteidigte ich mich. Dabei richtete ich mich zur vollen Größe auf und funkelte den Mann wütend an. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Aber ich wusste nicht, woher. Dabei habe ich ein gutes Personengedächtnis.

Ich schaute auf sein Auto. Der Kotflügel war verbeult, ebenso die Beifahrertür, der Spiegel zusammengedrückt. Ich drehte mich um. Ich musste schon genau hinschauen, um etwas zu entdecken. Mein Wagen hatte keine Beule. Das Rücklicht wies Farbspuren auf und der Kotflügel war ein kleines Bisschen verschoben.

Ich holte die Handtasche und kramte die Versicherungskarte heraus.

„Brauchen wir die Polizei, oder können wir es so regeln?“, fragte ich.

Der Mann hatte sich inzwischen etwas beruhigt. „Es wird wohl schon so gehen.“ Dann lächelte er mir zu. „Tut mir leid, ich bin in Eile, aber was soll’s.“

„Es hätte Schlimmeres passieren können.“ Mit Schrecken dachte ich, dass ich ebenso gut einen Fahrradfahrer erwischt und verletzt haben könnte.

„Barbara Behrmann“, las der Mann. Dann wurde sein Lächeln breiter. „Bärbel König. Du kamst mir gleich so bekannt vor.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht woher.“

Er reichte mir seine Versicherungskarte. „Dr. Horst Reimers“, las ich. Horst, der unscheinbare, schlaksige Freund von Rainer, dem Mädchenschwarm. Immer war er wie ein Schatten von Rainer gewesen. Auch ich hatte einst für Rainer geschwärmt und Horst überhaupt nicht beachtet. Eigentlich wusste ich überhaupt nichts von ihm, obwohl wir acht Jahre zusammen zur Schule gegangen waren.

„Es ist schon so lange her“, murmelte ich.

„Vielleicht sollten wir uns gerade deshalb wiedersehen.“

Jetzt lächelte ich auch. „Alte Erinnerungen austauschen?“

„Lass uns doch zusammen eine Tasse Kaffee trinken“, schlug er vor.

„Und dein Termin?“

Er schaute auf die Uhr. „Den verpasse ich sowieso.“ Er zog ein Handy aus seiner Hosentasche und entfernte sich ein paar Schritte. Nach einer Weile kam er zurück und parkte sein Auto in die Lücke neben meinem Wagen.

Gemeinsam liefen wir durch den Park gegenüber vom Friedhof. Am anderen Ende der Grünanlage war eine alte Konditorei, dort suchten wir uns einen Tisch und bestellten Kaffee und Kuchen.

„Du hattest schnell geheiratet.“ Horst wusste besser über mich Bescheid als ich von ihm.

Ich berichtete von Robert und den Kindern.

„Das tut mir leid.“ Horst war sichtlich betroffen.

„Es ist schon lange her.“

„Und du hast keinen neuen Partner?“

Ich schüttelte den Kopf. „Die netten Männer sind doch alle gebunden. Nein, außerdem war ich nicht frei.“ Um abzulenken, und aus Höflichkeit fragte ich ihn nach seinem Leben. Er erzählte spannend von Jahren in Südafrika und Großbritannien. Er war seit Kurzem geschieden und hatte eine Tochter, die bei ihrer Mutter in Birmingham lebte.

Er hatte auch noch Kontakt zu Rainer. „Ich durfte immer neben ihm sitzen, damit er Latein und Mathe bei mir abschreiben konnte.“

„Deswegen konnte er dann Medizin studieren.“ Ich lachte. Bilder von früher tauchten vor meinen inneren Augen auf. Eigentlich war Rainer nur in Sport gut gewesen, aber er hatte das nötige Selbstbewusstsein gehabt und Horst für die Fächer, die er überhaupt nicht konnte. Außerdem schmeichelte er uns Mädchen häufig die Hausaufgaben ab.

Horst selbst hatte Physik und Mathematik studiert und arbeitete als Professor an der Universität.

„Und du? Hast du studiert?“, fragte er.

„Nein, ich bin gelernte Krankenschwester. Ein Mädchen studiert doch nicht. Meine Eltern waren ziemlich konservativ. Wir sollten heiraten und Kinder kriegen und nicht Karriere machen.“ Ich verzog mein Gesicht. „Immerhin durfte ich Abitur machen. Meine große Schwester ist nur bis zur zehnten Klasse zur Schule gegangen.“

Noch heute ärgerte ich mich, dass ich meinen Eltern so bereitwillig nachgegeben hatte. Aber da ich sehr schnell Robert kennengelernt hatte, hatte ich auch nach der Ausbildung nichts Neues angefangen.

„Warum hast du nicht später noch mehr daraus gemacht, du warst doch in der Schule gut?“, fragte Horst.

„Die Kinder haben mich ziemlich gefordert und nach Roberts Tod fehlt mir die Kraft dazu.“ Ich berichtete über meine Arbeit in der Galerie. „Ich bin beim Einkaufen vorbeigelaufen und habe im Schaufenster ein Schild gesehen, dass sie eine Bürokraft suchen.“ Seit fast zehn Jahren war ich dort angestellt und hatte mich langsam eingearbeitet, sodass ich inzwischen selbstständig Ausstellungen vorbereitete und Kontakt zur Presse hielt.

Es wurde dunkel. Horst schaute auf die Uhr. Erschrocken stand er auf. „Wir sehen uns wieder?“

Ich nickte. Die Zeit mit ihm war schnell verflogen, so interessant war unser Gespräch gewesen.

„Ich muss jetzt unbedingt los, sonst verpasse ich den nächsten Termin.“ Er gab mir die Hand. Draußen auf der Straße hielt er ein Taxi an und stieg ein. Klar, mit dem zerbeulten Auto konnte er unmöglich weiterfahren.

Ich lief nachdenklich durch den Park zurück. Ich hatte Horst gar nicht so interessant und nett in Erinnerung. Die alten Schubladen aus Jugendzeiten ... Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte immer viel zu sehr die Meinungen der anderen übernommen, statt mir selbst ein Bild zu machen. Dann fuhr ich los. Diesmal passte ich noch mehr als sonst beim Ausparken auf. Gleich morgen musste ich die Werkstatt anrufen und den Wagen anmelden. Hoffentlich stufte die Versicherung mich nicht zu hoch. So viel verdiente ich in der Galerie nicht.

Am nächsten Tag hatten wir so viel zu tun, dass ich gar nicht zum Nachdenken kam. Abends klingelte es an der Tür. Als ich öffnete, stand ein Bote mit einem Blumenstrauß vor mir. „Schön, dich wiedergetroffen zu haben. Horst“, stand auf einer Karte. Sorgfältig suchte ich eine Vase aus und stellte die Blumen hinein. Es war das erste Mal seit fast elf Jahren, dass ein Mann mir einen Strauß schenkte.

Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren

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