Читать книгу Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren - A. F. Morland - Страница 31

Retter in der Not

Оглавление

In Gedanken versunken öffnete ich die Wohnungstür, warf die Handtasche auf den Schuhschrank und streifte die Pumps von den Füßen, bevor ich barfuß in die Küche lief. Dort holte ich Mineralwasser aus dem Kühlschrank und schenkte mir erst einmal ein Glas ein. Anschließend stellte ich den Wasserkocher an. Ein Becher Frauenpower-Tee würde mir jetzt guttun. Der Tag war so anstrengend gewesen und mein Kopf schmerzte entsetzlich. Musste mein Mandant auch so halsstarrig sein? Erst vereinbarten wir, dass wir auf einen Vergleich hinarbeiten wollten, doch im letzten Augenblick weigerte er sich, ihn anzuerkennen. Er hatte keine Chance, den Prozess zu gewinnen, doch das konnte ich ihm nicht klarmachen.

Ich ging mit dem Glas in der Hand ins Wohnzimmer und legte eine CD auf, Wellnessmusik zur Entspannung. Auf dem Anrufbeantworter war eine Nachricht.

„Miriam, ich habe am Freitag zwei Karten für die Oper. Es gibt Tosca. Ich hole dich gegen 18 Uhr ab, dann können wir vorher noch einen kleinen Imbiss zu uns nehmen.“

Ich schnappte nach Luft. Begriff Raoul denn nicht, dass es vorbei war? Der Anruf war so typisch für ihn. Er fragte nicht einmal, ob ich Zeit hätte, sondern setzte voraus, dass ich voller Begeisterung mitkäme.

Ich wollte schon zum Hörer greifen, um ihm unfreundlich zu antworten, dann besann ich mich. Nein, es wäre besser, ihn vor der Tür stehen zu lassen. Sonst würde das hier doch nie ein Ende haben.

Schnell nahm ich die Zeitung und suchte nach den Veranstaltungen. Ja, der neue Kinofilm war passend. Nichts Schweres, sondern einfach nur zum Amüsieren, genau das Richtige für einen Abend mit meiner Schwester. Also rief ich Ines an. „Hast du Lust, mit mir am Freitag ins Kino zu gehen?“

„Ja, prima. Ich komme gleich von der Arbeit bei dir vorbei, dann können wir noch ein bisschen klönen, bevor wir losziehen.“

Das wäre erledigt. Jetzt konnte der Feierabend beginnen. Leider war das Fernsehprogramm nicht besonders. Und mein neuer Krimi, dem ich mich stattdessen widmete, auch nicht.

Um neun Uhr schlief ich auf dem Sofa ein. Nur um kurz darauf aus dem Schlaf gerissen zu werden. Über mir hämmerte jemand. Wer kam zu dieser späten Stunde bloß auf die Idee, noch zu werkeln? Jetzt wurde etwas Schweres rumpelnd über den Boden gezogen. Dann fing das Gehämmer erneut an. Wütend stand ich auf, hob das Buch vom Teppich auf und schlüpfte wieder in die Pumps. Klack, klack, klack stolzierte ich die Treppe hoch und klingelte an der Wohnung über meiner Sturm. Es musste ein neuer Mieter sein. Die alte Frau Martens war vor einem Monat in ein Pflegeheim gezogen.

Ein junger Mann in einem nicht mehr so sauberen T-Shirt und einer abgewetzten Jeans öffnete.

„Wissen Sie, wie spät es ist?“, fauchte ich ihn an.

„Noch nicht zehn Uhr. Bis zehn darf man doch Lärm machen!“ Der Mann lächelte mich an, doch mir war nicht nach Lächeln zumute.

„Nein, nur bis 20 Uhr sagt die ordnungsbehördliche Verordnung über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.“ Ich funkelte ihn böse an. Was für Proleten sich jetzt in dieser guten Gegend schon breitmachten! Wenn es so weiterging, müsste ich mir eine neue Wohnung suchen. Dabei gefiel mir meine wirklich gut. Außerdem hatte ich keine Lust auf die damit verbundene Arbeit.

„Aber ...“

„Kein Aber. Bis 20 Uhr dürfen Sie Lärm machen, danach müssen Sie ...“

„Über den Boden schweben?“ Der Mann grinste frech. Um seine Augen bildeten sich tiefe Lachfalten. „Dann sollten Sie aber gleich einmal Ihre Schuhe ausziehen. Sie sind damit im ganzen Haus zu hören.“

Am liebsten hätte ich ihm eine geknallt, aber ich beherrschte mich.

„Bieten Sie mir ein Bett an? Ich bin gerade dabei, meins aufzubauen, und habe keine Lust, heute auf dem Fußboden zu schlafen.“

„Und das macht so viel Lärm?“ Ich glaubte ihm kein Wort.

Der Mann öffnete seine Tür noch weiter und machte eine einladende Bewegung. „Vielleicht können Sie mir helfen. Ich bin handwerklich nicht so versiert, aber irgendetwas stimmt mit der Gebrauchsanleitung nicht.“

Ich zögerte, doch dann siegte die Neugier. Zögernd betrat ich die Wohnung. Überall standen Umzugskartons herum. Im Wohnzimmer war immerhin schon ein Schrank aufgebaut, ebenso im Schlafzimmer.

„Meine Freunde haben mir beim Umzug und Aufbau der Schränke geholfen, doch dann habe ich sie nach Hause geschickt. Sie müssen noch drei Stunden zurückfahren.“ Er zeigte mir die Gebrauchsanweisung.

„Verstehen Sie sie? Können Sie das Bett zusammenbauen?“

Ich las die Gebrauchsanweisung, dann kontrollierte ich, was mein Nachbar schon geleistet hatte.

„Das stimmt bisher.“

„Trotzdem passen die Schrauben nicht hinein.“

Ich glaubte ihm nicht, kniete mich neben die Einzelteile und versuchte es selbst. Es klappte wirklich nicht.

„Die Löcher sind noch nicht vorgebohrt“, erklärte er, als ich wieder aufstand.

„Beanstanden Sie es und bringen Sie das Bett zurück“, sagte ich und weil er nicht so begeistert aussah, bot ich an: „Ich setzte Ihnen notfalls auch ein Schreiben auf.“

Jetzt lachte er laut. „Ich habe es in Berlin gekauft. Außerdem möchte ich heute noch darin schlafen. Also bohre ich lieber ein paar Löcher, als das Bett zurückzubringen.“

Er nahm die Bohrmaschine, setzte den Holzbohrer ein und grinste mich herausfordernd an.

„Natürlich verstoße ich damit gegen die Ruheverordnung.“ Dann bohrte er an allen Pfosten die fehlenden Löcher. Jetzt ließ sich das Bett einfach zusammenbauen, und da ich die Teile hielt, war er schnell fertig.

„Sehen Sie, manchmal macht man halt Lärm, bei einem Umzug lässt es sich nicht vermeiden. Aber lieber an einem Tag etwas länger arbeiten als an den nächsten Tagen auch noch. Oder?“

Ich murmelte eine unverständliche Antwort, dann flüchtete ich. Wieder schallte das Klacken meiner Absätze laut durch das Treppenhaus.

Am Freitagmittag rief Ines an und sagte unser Treffen ab. „Tut mir leid, aber Jonas ist krank geworden. Er hat Fieber und jammert. Ich glaube, er bekommt Scharlach. So kann ich ihn auf keinen Fall der Babysitterin zumuten.“

Ich bemitleidete meine Schwester und wünschte meinem Neffen gute Besserung, dann versuchte ich, noch eine Freundin aufzutreiben, aber so kurzfristig hatten alle etwas vor. Also bummelte ich durch die Geschäfte, doch gegen sieben Uhr hatte ich keine Lust mehr, die Zeit totzuschlagen. Sicher hatte Raoul längst aufgegeben und ich konnte unbesorgt nach Hause gehen. Doch ich hatte mich getäuscht. Als ich in die Tiefgarage einbog, sah ich seinen Porsche auf der anderen Straßenseite stehen. Aber jetzt war es zu spät, wieder umzudrehen, bestimmt hatte er mich schon entdeckt.

Seufzend lief ich die Treppe zur Wohnung hoch. Raoul stand wartend vor der Tür. Sein wütender Gesichtsausdruck versprach nichts Gutes.

„Hättest du mich nicht anrufen können, wenn es bei dir länger dauert!“, kanzelte er mich ab.

„Ich habe eine Verabredung“, erwiderte ich kühl.

„Ja, mit mir.“

„Nein, ich will mit einem Bekannten ins Kino“, log ich.

„Und warum sagst du dann bei mir nicht ab?“ Raouls Kiefermuskeln verkrampften sich, gleich würde er explodieren. Ich hasste es und ich hatte Angst vor seinen Wutanfällen.

„Du hast mich nicht gefragt, dann hättest du es erfahren.“ Leider wirkte ich nicht besonders selbstsicher.

„Wer ist es?“, fragte Raoul und trat auf mich zu, sodass er mich fast berührte. „Wen ziehst du mir vor?“

Fieberhaft überlegte ich, wen ich nennen sollte. Doch bevor ich antwortete, kam der neue Nachbar pfeifend die Treppe heruntergelaufen.

„Bist du dann so weit? Ich muss nur noch die Waschmaschine abstellen, dann können wir losgehen“, erklärte er. Dann küsste er mich rechts und links auf die Wangen.

Raoul sah aus, als würde er sich gleich auf den Fremden werfen, allerdings war mein Nachbar fast genauso groß wie Raoul, sah aber wesentlich muskulöser aus.

„Darf ich mich vorstellen? Ich bin Fabian Wittig und wohne seit ein paar Tagen über Miriam.“

„Ich habe Fabian neulich beim Möbelaufbauen geholfen, deshalb hat er mich ins Kino eingeladen“, soufflierte ich.

„Wie kommen Sie dazu, meine Verlobte anzumachen?“ Raoul trat drohend einen Schritt vor und stand jetzt direkt vor Fabian. Gleich würde er die Beherrschung verlieren. Ich zitterte vor Angst.

Doch Fabian lächelte ihn nur an. „Auch ihre Verlobte darf frei entscheiden, ob sie mit mir ins Kino will oder nicht. Ich habe sie nicht gezwungen.“ Dann legte er Raoul eine Hand auf die Schulter und drückte so stark zu, dass Raoul einen Schmerzensschrei ausstieß und in die Knie ging. „Sie sollten sich nicht auf Ihre Körperkräfte verlassen. Dafür sind Sie einfach zu untrainiert.“

„Ich zeige Sie an!“ Raoul sah aus, als ob er gleich einen Mord begehen würde.

„Warum? Weil ich eine Frau ins Kino eingeladen habe?“

„Wegen Körperverletzung!“, stieß Raoul zwischen den Zähnen hervor.

Fabian lachte. „Weil ich Ihren Arm freundschaftlich gedrückt habe? Sind Sie so zimperlich? Na gut, dann zeigen Sie mich eben an.“ Er wandte sich mir zu: „Kommst du?“ Ich nickte und folgte ihm in seine Wohnung.

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, entschuldigte er sich: „Ich hatte das Gefühl, dass Sie Hilfe brauchten. Ich habe das Gespräch mitbekommen, weil ich mein Namensschild angeschraubt habe.“

„Danke, Sie haben mich gerettet. Aber wir sollten jetzt wirklich aus dem Haus gehen. Raoul wird uns kontrollieren.“

„Oh, hier im Kino gibt es eine Komödie. Die habe ich noch nicht gesehen. Wollen wir dahin gehen?“

Ich nickte nur.

„Hat Ihr Verlobter einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung?“

Ich schüttelte den Kopf. „Zum Glück nicht mehr. Vor zwei Wochen klemmte das Schloss und ich brauchte ein neues.“

„Ich traue diesem Mann nicht über den Weg. Ich habe schon viel Aggression erlebt, aber nicht solchen unkontrollierten Hass.“

Er zog sich schnell ein neues T-Shirt an. Und gab mir dabei die Gelegenheit, seinen durchtrainierten Oberkörper zu bewundern.

„Bist du Bodybuilder?“

„Ex-Handballer. Aber damit ist es vorbei. Mein Knie ist kaputt. Ich kann nie wieder als Profi spielen.“

Wir gingen zusammen los. Vor dem Kino lud er mich noch in die Pizzeria daneben ein. Nicht gerade das, wohin ich sonst ging. „Sie gehen nur in französische Restaurants?“, fragte er.

Ich errötete.

„Ich fühle mich in den piekfeinen Restaurants nicht wohl. Außerdem werde ich da nicht satt.“

Verlegen schaute ich aus dem Fenster. „Raoul ist anscheinend doch nach Hause gefahren“, sagte ich, um abzulenken.

„Nein, er sitzt drüben im Imbiss und beobachtet uns durch die Scheibe.“ Dann lachte er laut. „Das ist wohl schon eine ziemliche Strafe für sein Verhalten, dass der feine Herr sich in so einem Schuppen aufhalten muss.“ Wir ließen uns Zeit mit dem Essen und ich erzählte Fabian von meiner Arbeit als Anwältin.

„Und Ihr Ex ist Ihr Kollege?“

Ich nickte. „Zum Glück aber nicht in derselben Kanzlei wie ich. Aber wir treffen uns bei Gericht oder Fortbildungsveranstaltungen. Bisher war es schön, die gleichen Interessen zu haben.“

„Und jetzt?“

Ich schwieg eine Weile. „Er fragt nicht mehr, was ich will. Es ist selbstverständlich, dass ich alles mache, was er befiehlt. Er will mit mir renommieren und sieht mich nicht als eigenständige Persönlichkeit.“

„Früher war es anders?“

„Hm, zuerst ja. Sein Verhalten hat sich so langsam verändert, dass ich es erst nicht bemerkt habe. Es läuft schon eine Weile so. Aber neulich hatte mein Neffe Taufe und Raoul hatte gleichzeitig eine Einladung bei seinem Chef angenommen. Er hat mir eine Riesenszene gemacht, weil ich nicht mitgekommen bin, obwohl er doch zugesagt hatte. Dabei stand der Termin für die Taufe schon seit Monaten fest und ich hatte es ihm gesagt.“

„Es interessierte ihn nicht.“

Ich nickte. „Meine Schwester ist Frisörin und mein Schwager nur Schlosser.“

„Oh, und jetzt auch noch ein Ex-Handballer.“ Er lachte so ansteckend, dass ich mitlachte. Natürlich verpassten wir die erste Vorstellung, was Fabian mit einem Blick auf den Imbiss guthieß, also tranken wir Wein, unterhielten uns weiter und gingen erst in die Spätvorstellung.

„Hast du Lust, morgen zum Bundesliga-Handballspiel mitzukommen? Die Stimmung ist immer spitze“, schlug er vor, als wir nach der Vorstellung zurückliefen. Wie selbstverständlich legte er seinen Arm um meine Schulter.

„Gern“, sagte ich, ohne nachzudenken, dabei interessiert mich Sport überhaupt nicht. Aber ich wollte meine Chance bei ihm nicht verderben.

Der Porsche stand nicht mehr vor dem Haus, als wir zurückkamen. Trotzdem wartete Fabian, bis ich die Wohnungstür hinter mir abgeschlossen hatte, bevor er die Treppe zu seiner Wohnung hochlief.

Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren

Подняться наверх