Читать книгу Das große Glück ist so nah: Lesefutter - Romane und Erzählungen großer Autoren - A. F. Morland - Страница 39
ОглавлениеDer zweite Versuch
„Kommt ihr wirklich allein zurecht?“ Ich zögerte, die Kinder waren zwar selbstständig, aber sie die ganze Woche allein zu lassen, war mir gar nicht recht.
„Mama, wir sind keine Babys mehr.“
„Wenn etwas passiert, ruft ihr sofort an.“
„Ja, Mama.“ Hannah verdrehte die Augen. „Wir können doch notfalls Frau Schröder oder Maria fragen.“
Ich nickte. Nur weil unsere Nachbarin Maria ein Auge auf die Kinder haben würde, wagte ich es überhaupt, doch zu der Weiterbildung zu fahren. Ursprünglich wollte meine Schwester kommen, doch deren Schwiegermutter war mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert worden und jetzt musste sie sich um ihren Schwiegervater kümmern. Ich seufzte. Warum mussten die Elternbetreuung und die Kinderaufzucht auch in denselben Zeitraum fallen.
„Du musst weg, sonst verpasst du den Zug“, ermahnte Daniel mich und hob den Koffer hoch.
Ich folgte ihm. Ich hatte mich für die Bahn entschieden, da die Fahrt entspannter war.
Meine beiden Großen brachten mich zum Bahnhof. Mein Herz wurde mir schwer. Wieder einmal kam ich mir als Rabenmutter vor. Aber irgendwie musste ich schließlich das Geld verdienen. Bernhard zahlte zwar für die Kinder Unterhalt, aber davon konnten wir nicht besonders üppig leben, außerdem benötigte ich natürlich selbst auch Geld.
„Mama, es wird schon klappen. Die Apotheke wird in der Woche nicht Konkurs gehen. Frau Schröder arbeitet seit Jahren für dich, und wir kochen und waschen doch sonst auch und im Notfall fragen wir Maria um Hilfe“, tröstete Daniel mich noch einmal, bevor der Zug nach Süden abfuhr.
In der Bahn holte ich ein Buch hervor und vertiefte mich. Ich wollte mich auf das Thema der Woche einstimmen, um gut auf die Vorträge vorbereitet zu sein und möglichst viel von der Veranstaltung mitzunehmen. Außerdem wäre die Woche dann nicht so anstrengend.
Schneller als gedacht, erreichte ich den Zielbahnhof. Dort nahm ich eine Taxe zu dem Tagungshotel.
Es war schon über fünf Jahre her, dass ich einmal ohne Kinder verreist war. Damals hatte meine Schwester die beiden in ihr Ferienhaus nach Dänemark mitgenommen, und ich hatte mit einer Freundin eine Reise durch Israel gemacht. Ich tröstete mich immer damit, dass die Kinderzeit nur kurz dauern würde, hinterher konnte ich alles nachholen.
Im Hotel standen zwei Frauen in meinem Alter an der Rezeption. „Sind Sie auch eine Teilnehmerin für die Pharmaziefortbildung?“, fragte die eine, während sie auf ihren Schlüssel wartete.
„Ja.“ Ich lächelte sie an.
„Wir wollen heute Abend in den Ort gehen. Es ist ein schöner Spaziergang und der Grieche soll gut sein. Haben Sie Lust, sich uns anzuschließen?“
„Sehr gern.“
Wir verabredeten uns, in einer halben Stunde loszugehen.
Marina und Brigitte waren zwei Schwestern, die zusammen eine Apotheke betrieben.
„Und wer führt jetzt dort die Aufsicht?“, fragte ich.
„Unser Vater, er hilft ab und zu bei uns aus.“
„Das ist ja toll, wenn man so gut unterstützt wird. Aber ich habe auch Glück mit meiner Mitarbeiterin. Sie ist schon seit fünf Jahren bei mir und sehr zuverlässig.“
Wir unterhielten uns über die neueste Gesundheitsreform. Alle hatten Sorgen, dass ihre Existenz gefährdet wäre.
„Vielleicht hätte ich doch in die Industrie gehen sollen, aber ich wollte lieber mit Menschen arbeiten“, erzählte ich.
„Dr. Münch ist leider krank geworden. Hoffentlich ist sein Vertreter genauso gut. Wir haben schon ein paar Mal Vorträge von Dr. Münch gehört.“
Ich musste zugeben, dass ich meistens nicht dazu kam, Vorträge und Kurse zu besuchen. „Ich habe noch zwei Kinder und niemanden, der sie betreuen kann.“
Nach dem Essen rief ich Daniel und Hannah an. Ich musste mehrmals klingeln lassen, bevor Hannah den Hörer abnahm. „Es ist alles in Ordnung, Mama. Wir haben gegessen und die Hausaufgaben sind auch alle erledigt.“ Natürlich sprach ich noch mit Daniel. Die beiden hatten ferngesehen und darüber das Klingeln nicht gehört. Ich versprach, jeden Abend anzurufen.
„Geht jetzt ins Bett, damit ihr morgen früh nicht verschlaft.“
„Maria wird uns schon wecken“, meinte Daniel flapsig.
Ich biss mir auf die Lippen. Ich musste mich bremsen, um ihn nicht gleich wieder zu ermahnen.
Am nächsten Morgen saß ich erwartungsvoll neben Marina, als ein drahtiger Mann mit dunklen, graumelierten Haaren, den Raum betrat.
Mein Herz schlug schneller. Bernhard hatte sich überhaupt nicht verändert. Er sah noch immer so unverschämt gut aus wie früher.
Hätte ich damals doch mit nach England gehen sollen?
In der Pause unterhielt ich mich mit Brigitte. Bernhard hörte einer jungen attraktiven Frau lächelnd zu. Es gab mir einen Stich. Dabei war es schon so lange her. Ich hatte ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, da er in Großbritannien und Südafrika gelebt hatte. Selten telefonierten wir wegen der Kinder miteinander. Da er so weit weg wohnte, sah er auch Daniel und Hannah nur sehr selten. Vor zwei Jahren hatten sie sich gemeinsam bei seinen Eltern getroffen. Ich hatte die beiden in die Bahn gesetzt und mein Ex-Schwiegervater hatte sie in Köln abgeholt.
„Karo, ich wusste nicht, dass du unter den Teilnehmern bist“, Bernhard hatte es endlich geschafft, bis zu mir vorzudringen.
„Und ich wusste nicht, dass du der Dozent bist.“
„Ich bin für Peter eingesprungen, jetzt bin ich froh darüber. Essen wir heute Abend zusammen?“
„Ich habe mich schon mit meinen zwei Kolleginnen verabredet“, erwiderte ich, froh, eine Ausrede zu haben.
„Dann lass uns doch wenigstens vorher einen Spaziergang machen.“
Ich zögerte unentschlossen, doch dann gab ich mir einen Stoß und nickte. Es gab einiges, was ich wegen der Kinder gern mit ihm besprechen wollte. Gemeinsam betraten wir den Vortragsraum, Bernhard ging nach vorne zu seinem Laptop, ich setzte mich wieder neben Marina.
„Du kennst Dr. Linke?“, fragte Marina.
„Er ist mein Ex“, wisperte ich, denn Bernhard hatte schon angefangen zu sprechen. Hoffentlich war sein Skript gut, denn meine Konzentration war durch sein Auftauchen gestört.
Endlich war es sechs Uhr und alle standen auf.
„Bis nachher“, sagte ich und wandte mich dem Foyer zu. Es war voll, die Apothekerinnen standen in Grüppchen zusammen. Ich trat hinaus und wartete auf einer Bank auf Bernhard.
„Vater sagte mir schon, dass du wieder als Apothekerin arbeitest.“ Bernhard lief mit großen Schritten neben mir her.
„Irgendwie muss ich ja meinen Unterhalt verdienen. Erst habe ich als Angestellte drei Tage die Woche gearbeitet und als Hannah zur Schule kam, fragte mich meine Chefin, ob ich ihre Apotheke übernehmen würde, da sie aus Altersgründen aufhören wollte.“
„Und da hast du dich in das große Abenteuer Selbstständigkeit getraut?“ Bernhard wunderte sich offenkundig.
„Die Apotheke lief gut, so eine Chance hätte ich kein zweites Mal erhalten. Ich habe einen guten Kredit bekommen und unsere Tagesmutter war auch sehr nett und bereit, mehr zu arbeiten.“
„Ich hätte die Kinder gern öfter gesehen.“
„Ich konnte sie doch mit fünf Jahren nicht allein nach London oder später nach Johannesburg schicken.“
„Du hättest mitkommen sollen“, sagte er leise.
„Die Entscheidung hattest du, ohne mich zu fragen, getroffen. Ich wäre im Ausland immer nur Hausfrau gewesen. Ich wollte doch auch wieder in den Beruf zurück.“
Schweigend gingen wir weiter. Ich dachte voller Wehmut an unsere gemeinsame Zeit. Erst als Studenten, später als Berufsanfänger. Wir hatten wenig Geld gehabt, waren aber glücklich gewesen. So lange, bis Bernhard sein Praktikum geschafft, promoviert hatte und eine Stelle in einer Kleinstadt angeboten bekam, weit weg von größeren Orten. Ich hatte mich zu Hause gelangweilt. Es gab keine Kurse und keine Möglichkeit, in meinem Beruf zu arbeiten. Erst stritten wir uns, weil ich in die Großstadt zurückwollte. Doch dann erhielt Bernhard eine tolle Stelle in London. Diesmal war ich nicht mehr bereit, mitzugehen. Ich wollte endlich wieder arbeiten. Zwei Jahre danach wechselte er nach Zürich, später nach Johannesburg. Er sammelte irgendwelche ausländische Abschlüsse. Nur wir sahen ihn überhaupt nicht mehr.
„Ich war so traurig, dass ihr nicht mitgekommen seid.“ Er wirkte bedrückt.
„Du hast dich bald getröstet.“ Als ich erfuhr, dass er in London mit einer Kollegin ein Verhältnis hatte, hatte ich die Scheidung eingereicht.
„Es hat nicht lange gehalten. Sie ist nach Amerika gegangen und ich in die Schweiz.“
„Es war gut so, sonst hätte ich jetzt die Apotheke nicht. Die Kinder entwickeln sich prächtig und sind noch immer mit ihren Kindergartenkameraden befreundet, statt ständig neue Freundschaften schließen zu müssen.“
Bernhard schwieg eine Weile. Auf dem Rückweg meinte er: „Ich würde gern mit euch in den Sommerferien verreisen.“
„Ich muss arbeiten und die Kinder wollen eine Freizeit vom Sportverein mitmachen. Außerdem haben deine Eltern sie für eine Woche eingeladen“, erwiderte ich schroff. Jahrelang hatte er sich kaum um die Kinder gekümmert und auf einmal zeigte er so ein Interesse.
„Und wann hast du Ferien?“
„Wir fahren im Herbst zwei Wochen weg.“ Frau Schröder würde sich in der Zeit um die Apotheke kümmern. Wir fuhren auch nicht so weit weg, damit ich zwischendurch mal nach dem Rechten schauen konnte. „Wenn du mit den Kindern verreisen willst, musst du sie fragen. Ich kann nicht über sie bestimmen, so klein sind sie nicht mehr“, milderte ich meine Antwort ab und nickte ihm zu, dann eilte ich die Treppe zu meinem Zimmer hoch, um mich vor dem Essen noch frisch zu machen.
Nach dem Abendessen ging ich mit Marina und Brigitte und einigen anderen bowlen.
Am nächsten Tag gelang es mir, konzentrierter zu sein. Bernhard hielt zum Glück nur noch einen Vortrag, dann war seine Aufgabe hier beendet. Er verabschiedete sich von mir.
„Sehen wir uns wieder?“, fragte er.
Ich zuckte mit den Achseln. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Einerseits klopfte mein Herz noch immer, wenn ich ihn sah, andererseits hatte er sich jahrelang weder um mich noch um die Kinder gekümmert.
Die nächsten Tage genoss ich unbeschwert meine Freiheit. Ich musste kein Essen vorbereiten, mich nicht um den Haushalt und die Hausaufgaben kümmern, keinen Streit zwischen den Geschwistern schlichten, sondern konnte mich einfach hinsetzen und zuhören. Abends blätterte ich noch in den Unterlagen oder trank mit den Kollegen ein Glas Wein.
Am Freitagabend fuhr ich mit der Bahn nach Hause. Ich war froh, mit der Bahn zu fahren und mich noch etwas erholen zu können. Natürlich freute ich mich auf die Kinder.
Eine halbe Stunde nach der Abfahrt setzte sich jemand auf die andere Seite des Ganges. Ich bemerkte es, blickte aber nicht vom Buch auf.
„Karo, hast du am Wochenende Zeit?“
Ich zuckte erschrocken zusammen.
Bernhard lächelte mich an. „Ich möchte euch gern wieder öfter sehen. Ich arbeite doch jetzt in Berlin, da kann ich schneller einmal bei euch vorbeikommen.“
Zuerst wollte ich ihn abwehren, doch dann nickte ich. „Vormittags muss ich arbeiten. Aber am Nachmittag können wir zusammen schwimmen gehen. Hannah übt für ihr Schwimmabzeichen.“