Читать книгу Sammelband 7 Schicksalsromane: Von ihren Tränen wusste niemand und andere Romane - A. F. Morland - Страница 36

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„Sie sollten abnehmen, Herr Kalvoda“, sagte Dr. Sven Kayser zu dem wohlbeleibten Mann Mitte fünfzig, der vor ihm auf dem Patientenstuhl saß.

Ferdy Kalvoda strich sich mit dem Zeigefinger über den dünnen Oberlippenbart und sah den Grünwalder Arzt unglücklich an. „Abnehmen. Damit machen Sie mir aber keine Freude, Herr Doktor.“

„Sie gehören zu den etwa vierhunderttausend Menschen in unserem Land, die im Schlaf an Atemnot leiden.“

„Und daran ist mein Übergewicht schuld?“, fragte der Patient ungläubig.

Dr. Kayser nickte. „Auf jeden Fall.“ Er beugte sich etwas vor. „Ich möchte Ihnen keine Angst machen, aber wenn Ihre Atmung während des Schlafes immer wieder aussetzt, weil das Gaumensegel sich vor die Luftröhre legt, ist das nicht ungefährlich. Die Folgen dieses Schlafapnoesyndroms, wie wir Mediziner es nennen, sind heftige Kopfschmerzen am Morgen und häufige unüberwindliche Müdigkeit während des Tages. Wird dieses Leiden nicht behandelt, kann es zum Verfall der geistigen Leistung, ja, sogar zu Impotenz kommen. Zudem ist das Risiko eines plötzlichen Herztodes erhöht, weil durch die aussetzende Atmung der Herzrhythmus gestört werden kann.“

Ferdy Kalvoda lächelte schief. „Sie sagen, Sie möchten mir keine Angst machen, haben es aber soeben getan.“

„Ich halte es für meine ärztliche Pflicht, Sie auf die Risiken, die Ihr Übergewicht mit sich bringt, hinzuweisen“, verteidigte sich Sven Kayser. „Viele Schlafapnoepatienten konnten sich praktisch selbst heilen, indem sie ihr Gewicht reduzierten,“

Kalvoda seufzte. „Dann werde ich wohl oder übel in den sauren Apfel beißen müssen.“

„Schwester Gudrun wird Ihnen einen Gewichtsreduktionsplan geben“, sagte der Grünwalder Arzt, der nicht nur Allgemeinmediziner, sondern auch Geburtshelfer war. „Wenn Sie sich strikt daran halten, werden Sie in einigen Wochen beschwerdefrei sein.“

Gudrun Giesecke, eine gebürtige Berlinerin, hatte auch etliche Pfunde zu viel an den Rippen, war jedoch bis zum heutigen Tage nicht dazu zu bewegen gewesen, abzuspecken.

„Ick fühl mir wohl“, pflegte sie zu sagen, wenn vom Abnehmen die Rede war. „Wenn ick fasten müsste, würde ick unleidlich werden, und damit wäre keenem jedient - weder Ihnen, Chef, noch den Patienten.“ Womit sie nicht ganz unrecht hatte.

Der Patient bekam von ihr den Gewichtsreduktionsplan, und sie wünschte ihm fürs Abnehmen „jutes Jelingen“. Dann begab sich die korpulente Arzthelferin in Dr. Kaysers Sprechzimmer und kündigte eine neue Patientin an.

„Irene Trömer heeßt se“, informierte sie Sven Kayser. „Hat bis vor kurzem in Kayserfurt am Main jelebt. Wohnt jetzt in Jrünwald. Is ne Freundin von Frau Albrecht."

Frau Renate Albrecht und deren Töchter Marina und Margot waren langjährige Patientinnen des Grünwalder Arztes.

Dr. Kayser nickte. „Schicken Sie Frau Trömer herein, Icke.“

Inge Trömer war eine vollschlanke, sommersprossige Frau von zweiundfünfzig Jahren. Dr. Kayser erhob sich, um sie zu begrüßen. Er gab ihr die Hand und forderte sie auf, Platz zu nehmen.

„Ich sagte es Schwester Gudrun bereits“, begann Frau Trömer, „ich bin eine Freundin von Renate Albrecht. Wir kennen einander schon seit einer Ewigkeit. Selbst als ich vor fünfzehn Jahren nach Kayserfurt ging, riss der Kontakt nicht ab.“

„Welche Umstände haben Sie nach Kayserfurt verschlagen?“, erkundigte sich Dr. Kayser.

„Ich war mit einem Banker verheiratet“, gab Irene Trömer zur Antwort.

„Sie waren?“

„Die Ehe hat nicht gehalten.“

„Das tut mir leid.“

„Mir nicht.“ Frau Trömer rümpfte die Nase. „Es war keine gute Ehe. Sie wurde vor drei Monaten geschieden - und nun lebe ich wieder hier.“

„Haben Sie Kinder, Frau Trömer?“, erkundigte sich der Grünwalder Arzt.

„Nein. Mein Ex-Mann wollte sich nicht mit Kindern belasten - so drückte er sich jedenfalls aus.“

„Was machen Sie beruflich?“

„Ich bin Restauratorin.“

„Und was führt Sie heute zu mir?“, wollte Sven Kayser wissen. Die Frau war ihm sympathisch. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Ehe durch ihre Schuld kaputtgegangen war.

„Ich brauche eine Cortisonspritze gegen meinen Heuschnupfen“, sagte Irene Trömer.

„Eine Cortisonspritze.“ Dr. Kaysers Stirn kräuselte sich.

„Ich weiß, die wird nicht gerne gegeben“, sagte die Patientin, „aber ich bekam sie in Kayserfurt von meinem Hausarzt jahrelang, damit ich in der von Pollen belasteten Zeit nicht so leide. Sie haben doch Cortison hier, oder?“

„Darf ich zunächst erfahren, wie sich das Leiden bei Ihnen in den vergangenen Jahren ausgewirkt hat, Frau Trömer?“

„Als ich vor fünfzehn Jahren nach Kayserfurt übersiedelte, hatte ich irgendwann mit Beginn der Weidenblüte ein schlimmes Jucken und Kratzen im Hals. Im Laufe der Jahre wurden die Beschwerden zu diesem Zeitpunkt immer ärger. Ich musste fortwährend niesen, hatte eine verstopfte Nase, die Augen tränten, und ich bekam manchmal sogar Fieber. Mein Arzt meinte, das wäre eindeutig Heuschnupfen und gab mir eine Spritze, die mir sofort half. Inzwischen ist das Leiden so stark geworden, dass ich pro Jahr vier Injektionen brauche.“

Dr. Kayser stand, wie viele seiner Kollegen, dem leichtfertigen Gebrauch von Cortison sehr kritisch gegenüber, denn das Präparat hatte einige gefährliche Nebenwirkungen.

Er fragte: „Haben Sie sich schon mal desensibilisieren lassen, Frau Trömer?“

Die Patientin nickte. „Hat nichts gebracht.“ Sie sah Sven Kayser fragend an. „Wie kommt es eigentlich, dass Blütenpollen bei manchen Menschen so peinigende Symptome verursachen?“

„Pollen sind nur zwischen zwanzig- und vierzigtausendstel Millimeter groß, deshalb können sie problemlos in die Schleimhäute der Atmungsorgane eindringen.“

Irene Trömers Miene verfinsterte sich. „Diese lästigen Störenfriede.“

„Ein gesunder Mensch baut sie sofort ab.“

„Und warum können Allergiker das nicht?“, wollte die Patientin wissen.

„Bei denen bilden sich sogenannte Komplexe zwischen den Pollen und jenen Eiweißstoffen, die für die Abwehr im Körper verantwortlich sind“, erklärte Dr. Kayser, „und diese werden auf den Oberflächen der Mastzellen festgehalten.“

„Was sind Mastzellen?“, fragte Irene Trömer.

„Sie sitzen in den tieferen Schichten der Schleimhäute“, antwortete Dr. Kayser. „In ihnen befinden sich kleine histaminhaltige Körnchen, und sobald diese mit den Eiweißpollenkomplexen in Berührung kommen, entleeren sie ihren gesamten Histaminvorrat.“

„Und dadurch wird der Krankheitsprozess in Gang gesetzt?“

„So ist es.“ Dr. Kayser nickte. „Und deshalb sollte man das Leiden nicht mit Cortison, sondern mit einem Antihistamin behandeln. Haben Sie sich in den vergangenen Jahren mal was gebrochen, Frau Trömer?“

„Wieso fragen Sie mich das?“ Die sommersprossige Patientin musterte den Grünwalder Arzt irritiert. „Was hat ein Knochenbruch mit meinem Heuschnupfen zu tun?“

„Es ist leider nur wenigen Menschen bekannt, dass regelmäßige Injektionen eines lang wirkenden Cortisonpräparats die Knochen entkalken und schädigen“, erklärte der Arzt.

„Vor zwei Jahren bin ich in der Küche ausgerutscht und habe mir das Handgelenk gebrochen“, gestand Irene Trömer. „Führen Sie das auf die Cortisonspritzen zurück, die ich bekommen habe? Hätte ich mir das Handgelenk nicht gebrochen, wenn mein Arzt mir etwas anderes gegen meinen Heuschnupfen gegeben hätte?“

„Es kommt natürlich in erster Linie auf die Schwere des Sturzes an“, sagte Sven Kayser, „aber es ist eine Tatsache, dass cortisongeschädigte Knochen wesentlich leichter brechen.“

Die Patientin sah Dr. Kayser unglücklich an. „Ich muss doch von nun an nicht wieder die Qualen des Heuschnupfens ertragen, oder?“

Dr. Kayser schüttelte beruhigend den Kopf. „Dank des Fortschritts der medizinischen Forschung gibt es inzwischen schon sehr gut wirkende Antihistaminpräparate.“

„Machen die nicht schrecklich müde?“

„Das war bei früheren Mitteln der Fall“, erklärte der Grünwalder Arzt. „Heute sind sie gut verträglich, und wenn Sie sie während der ganzen Zeit des Pollenfluges nehmen, sind Sie auch ohne Cortison weitgehend beschwerdefrei.“

„Ich habe mich schon oft gefragt, ob es mir in pollenarmen Gebieten besser gehen würde. Zum Beispiel im Hochgebirge. Oder auf Helgoland.“

Dr. Kayser lächelte bedauernd. „Da muss ich Sie leider enttäuschen, Frau Trömer. Reisen in solche Gegenden bewirken nur sehr wenig.“

„Wieso?“

„Pollen fliegen bis zu fünfhundert Kilometer weit - und bis zu fünftausend Meter hoch“, erklärte Sven Kayser. „Da gibt es kaum ein Entrinnen.“

Irene Trömer atmete schwer aus. „Immer wieder lässt sich die Natur eine neue Geißel für uns Menschen einfallen.“

„Zum Glück verfügen wir über ausreichende Mittel, um uns wirksam davor zu schützen“, meinte Dr. Kayser und stellte für die Patientin ein Rezept aus. „Ich hoffe, Frau Albrecht und ihren Töchtern geht es gut“, sagte er und legte den Kugelschreiber beiseite.

„Nun ja ...“ Irene Trömer wiegte den Kopf.

Dr. Kayser hob die Augenbrauen. „Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“

„Ich nehme an, Sie wissen von Renates fixer Idee“, sagte die Patientin.

„Dass sie nicht älter wird als ihre Mutter“, sagte Sven Kayser.

Frau Trömer nickte. „Ihre Mutter starb mit fünfundfünfzig Jahren, und Renate ist jetzt einundfünfzig.“

„Frau Albrecht ist eine gesunde Frau.“

Irene Trömer lächelte schmal. „Das sagen Sie. Aber glaubt sie Ihnen das auch?“

„Ich hoffe, dass sie das tut“, gab der Grünwalder Arzt schmunzelnd zurück.

„Sie richtet sich seelisch auf das bevorstehende Ende ein, möchte alles in Ordnung hinterlassen und ihre beiden Töchter so gut wie möglich versorgt wissen. Dazu gehört ein Plan, von dem Marina, ihre jüngere Tochter, noch nichts weiß.“

„Um was für einen Plan handelt es sich?“, erkundigte sich Dr. Kayser.

„Renate möchte Marina mit Ingolf Stumph, dem reichen Nachbarn, verheiraten.“

„Soviel ich weiß, hat Marina seit Längerem einen festen Freund.“

Irene Trömer nickte. „Gabriel Keller, einen Gemüsehändler. Ein hübscher, anständiger, netter junger Mann, aber er ist Renate nicht gut genug für ihre Tochter.“ Sie schüttelte den Kopf. „Arme Marina! Immer muss ihre Mutter Schicksal spielen! Sie wird nichts unversucht lassen, um die jungen Leute auseinanderzubringen. Margot, Marinas ältere Schwester, hat gut daran getan, sich nach Frankreich abzusetzen. Dort kann sie tun, was sie will, ohne dass es ihre Mutter mitbekommt oder beeinflussen kann.“

„Margot Albrecht ist in Frankreich?“

„Seit drei Monaten.“

Das war für Dr. Kayser neu. Margot Albrecht war keine besonders begabte Schauspielerin, deshalb war ihr auch der Durchbruch noch nicht gelungen.

Sie spielte am Theater und hin und wieder im Fernsehen unbedeutende Rollen und träumte davon, eines Tages ein Star zu sein - was sie wohl nie schaffen würde.

Sven erfuhr von Irene Trömer, dass Margot in Paris mit einem erfolgreichen Filmproduzenten zusammenlebte. Ob sie sich von dieser Liaison einen Karriereschub erhoffte? Sie war berechnend und bei Weitem nicht so sympathisch wie Marina. Für den Arzt Dr. Kayser waren alle Patienten gleich. Aber der Mensch Sven Kayser war Marina Albrecht mehr zugetan.

Irene Trömer nahm von ihm das Rezept in Empfang und erhob sich. Dr. Kayser stand ebenfalls auf und gab ihr die Hand. „Auf Wiedersehen, Frau Trömer.“

„Auf Wiedersehen, Herr Doktor. Wenn ich von nun an wirklich keine Cortisonspritzen mehr brauche, haben Sie mir sehr geholfen.“

„Bestellen Sie Frau Albrecht einen schönen Gruß von mir, wenn Sie sie sehen.“

„Mach ich“, erwiderte die neue Patientin und verließ das Sprechzimmer.

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