Читать книгу Sammelband 7 Schicksalsromane: Von ihren Tränen wusste niemand und andere Romane - A. F. Morland - Страница 42
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Der medizinische Check-up in der Seeberg-Klinik nahm drei Tage in Anspruch. Am zweiten Tag erschien Dr. Kayser im Büro des Klinikleiters, mit dem ihn eine jahrelange Freundschaft verband, und fragte: „Wie geht’s den Kindern, Uli?“
Dr. Ulrich Seeberg nickte zufrieden. „Babs macht zurzeit das Medizinstudium großen Spaß, und Kai ist im siebten Himmel, seit er die Tiere des Zirkus Haberkorn mit betreuen darf.“
„Wie lange bleibt der Zirkus in München?“, erkundigte sich der Grünwalder Arzt.
„Sechs bis acht Wochen“, antwortete Dr. Seeberg. „Mit Tigern, Bären, Löwen, Elefanten, Seehunden, Pferden, Affen, Schweinen, Hunden, Papageien und was weiß ich noch alles.“
Sven Kayser schmunzelte. „Ein Eldorado für einen Jungen, dessen Tierfimmel so ausgeprägt ist.“
Der Klinikchef lachte. „Du sagst es.“ Ute Morell, die Chefsekretärin, brachte zwei Tassen Kaffee und ließ die Freunde gleich wieder allein. Nachdem Dr. Seeberg seinen Kaffee getrunken hatte, fragte er: „Besuchst du nachher Frau Albrecht?“
„Das habe ich vor.“
„Sie hat die besten Werte, die man sich nur wünschen kann“, berichtete Dr. Ulrich Seeberg. „Wenn sie nicht mit dem Auto verunglückt oder mit dem Flugzeug abstürzt, kann sie hundert Jahre alt werden. Wie kommt sie nur auf die Idee, sie hätte nur noch vier Jahre zu leben?“
„Hat sie es dir nicht erzählt?“
„Die Geschichte mit ihrer Mutter?“, fragte der Klinikchef.
Sven nickte.
„Das ist doch hirnrissig“, sagte Ulrich Seeberg.
Sven nickte bedächtig. „Es wird nicht einfach sein, ihr das klarzumachen. Sie hat sich in diese Idee verrannt.“
„Sie ist doch eine vernünftige, intelligente Frau.“
„An und für sich schon“, gab Dr. Kayser zu. Er trank den letzten Schluck Kaffee, der köstlich wie immer geschmeckt hatte. Ute Morell musste irgendein Spezialrezept dafür haben, das sie nicht preisgab. „Aber wenn es um ihre Lebenserwartung geht, hakt ihr Verstand aus“, fuhr Sven fort. „Und ebenso unzugänglich ist sie, wenn es sich um das Wohlergehen ihrer Tochter Marina handelt.“ Der Grünwalder Arzt sprach über Renate Albrechts Pläne.
Ulrich Seebergs Augen weiteten sich. „Das kann sie doch nicht machen!“
„Wie soll man sie daran hindern?“
„Man muss ihr ins Gewissen reden“, sagte der Klinikchef. „Mein Gott, wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Heute darf eine junge Frau sich den Mann selbst aussuchen, mit dem sie verheiratet sein möchte.“
„Nicht, wenn sie eine Mutter wie Renate Albrecht hat.“
„Ist Marina Albrecht denn so schwach, dass sie sich gegen ihre Mutter nicht durchsetzen kann?“
„Ich glaube nicht, dass sie schwach ist“, gab Sven Kayser zurück. „Es ist vielmehr so, dass ihre Mutter zu stark ist, wenn es darum geht, vom Leben das Beste für ihr Kind zu fordern. Frau Albrecht ist keine schlechte Mutter. Sie meint es gut ...“
„Aber sie schießt dabei viel zu weit über das Ziel hinaus“, fiel Ulrich Seeberg dem Freund ins Wort.
Auf dem Flur traf Dr. Kayser dann Marina Albrecht und Gabriel Keller. Die beiden hatten Renate Albrecht besucht. Als Sven sie so nebeneinander und Hand in Hand stehen sah, dachte er bei sich: Ich weiß nicht, was die Frau gegen diesen sympathischen jungen Mann hat. Marina und Gabriel sind doch ein ideales Paar. Kein anderer Mann könnte besser zu Marina passen.
„All die Tests, die man mit ihr macht, könnte man sich schenken“, sagte Marina.
Dr. Kayser sah das nicht so. „Sie dienen dazu, Ihre Mutter davon zu überzeugen, dass sie noch ein langes Leben vor sich hat“, bemerkte er.
„Wenn sie anfängt, davon zu reden, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt, wechsle ich immer ganz schnell das Thema.“
„Der frühe Tod ihrer Mutter muss bei ihr ein schweres Trauma ausgelöst haben.“
Marina sah den Grünwalder Arzt ratlos an. „Wird sie nie darüber hinwegkommen?“
„Es wird besser mit ihr werden, je weiter sie über die fünfundfünfzig Jahre hinauskommt“, tröstete Dr. Kayser die junge Frau. Marina und Gabriel verabschiedeten sich, und Sven Kayser betrat das Krankenzimmer, in dem Renate Albrecht lag.
„Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag, Frau Albrecht“, sagte der Allgemeinmediziner.
„Soeben sind meine Tochter und dieser Gemüsehändler gegangen.“ Ihre Stimme klang nüchtern und kühl.
Dr. Kayser nickte. „Ich bin ihnen draußen begegnet. Ein schönes Paar.“
„Schönheit ist genauso vergänglich wie die Liebe“, behauptete die Patientin. „Es gibt beständigere Werte im Leben.“
„Geld. Macht. Besitz.“ Sven sprach aus, was sie meinte.
„Sehr richtig“, gab sie ihm recht. „Und nichts davon hat Gabriel Keller zu bieten. Mir wäre es lieber gewesen, wenn er nicht mitgekommen wäre.“
„Mögen Sie ihn nicht?“
„Er ist mir sogar sehr sympathisch“, gab Marinas Mutter zur Antwort, „aber darum geht es nicht. Er kann nichts dafür, aber er ist bedauerlicherweise nicht der Richtige für meine Tochter. Es wird der Tag kommen, an dem ich ihm das sagen muss.“
„Kann nichts Sie davon abbringen?“, fragte der Grünwalder Arzt.
„Soll ich mich gegen das Glück meines Kindes stellen?“ Die Frage klang beinahe entrüstet.
Dr. Kayser sah auf die Stirn der Frau, hinter der einiges völlig verkehrt lief, und er fragte sich: Wie bringe ich sie bloß dazu, dass sie richtig denkt? Sie glaubt, in vier Jahren sterben zu müssen und will Marina bis dahin mit dem reichen Nachbarn verheiratet wissen. Ich muss den Hebel bei Ersterem ansetzen. Wenn ich sie davon überzeugen kann, dass sie nicht mit fünfundfünfzig Jahren sterben wird, braucht sie sich auch nicht so zu beeilen, zuvor noch alles „unter Dach und Fach“ zu bringen.
„Ich habe mit Dr. Seeberg gesprochen“, erzählte Sven. „Sie haben großartige Werte.“
Renate Albrecht lächelte. „Ich habe nichts anderes erwartet. Ich fühle mich nicht krank. Kritisch wird es für mich erst in vier Jahren.“
„Sie werden in fünf Jahren noch immer unter den Lebenden sein“, behauptete Dr. Kayser überzeugt. „Und in sechs Jahren. Und in sieben Jahren. Und in zehn Jahren auch noch. Sie sind absolut gesund.“
„Ach, Herr Doktor, eine ähnliche Diskussion hatten wir bereits.“ Renate schüttelte langsam den Kopf. „Geben Sie sich keine Mühe, sie können mich von meiner Meinung nicht abbringen.“ Sie richtete den Blick in eine geistige Ferne. „Mir ist, als könnte ich in die Zukunft sehen ...“
„Tatsächlich?“ Sven Kayser musterte die Patientin ungläubig. „Darf ich fragen, was Sie sehen, Frau Albrecht?“ Er musste sich bemühen, seine Stimme nicht ironisch klingen zu lassen.
„Nichts Konkretes. Ich sehe nur, dass da ... etwas ist ... Noch vier Jahre lang ... Und dann dann sehe ich nichts mehr ...“ Renate Albrecht sah den Grünwalder Arzt fragend an. „Was für einen Reim würden Sie sich darauf machen, wenn Sie an meiner Stelle wären?“
Dr. Kayser antwortete trocken: „Ich würde, wenn ich Sie wäre, dieser merkwürdigen Wahrnehmung keinerlei Bedeutung beimessen.“