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Thorsten Wiegands Antiquitätengeschäft in der Sonnenstraße war zwar für eine Woche geschlossen, aber für besondere Kunden galt das natürlich nicht.

Zu diesen Spezialkunden gehörte ein schwerreicher Großindustrieller aus Hannover, der jedes Mal bei Thorsten reinschaute, wenn er geschäftlich in München zu tun hatte.

Er besaß Thorstens Privatnummer und die ließ er seine Sekretärin anrufen, damit sie für ihn einen Termin mit dem Antiquitätenhändler vereinbarte.

Als Thorsten sein Haus verließ, um sich mit dem betuchten Kunden zu treffen, hatte Alexandra ihren ersten Nachtdienst hinter sich.

Sie hatte lang geschlafen, wollte nun den Nachmittag mit ihrer Schwiegermutter verbringen und die Gelegenheit nutzen, die Mutter ihres Ehemannes etwas besser kennenzulernen.

„Ich habe mich entschlossen, meinem Übergewicht wieder einmal den Kampf anzusagen“, verriet Rosanna Wiegand ihrer Schwiegertochter.

„Das finde ich sehr vernünftig“, sagte Alexandra.

Die beiden Frauen befanden sich im großen Wohnzimmer. Sie saßen einander vor dem offenen Kamin gegenüber.

Frau Wiegand seufzte geplagt. „Warum ist es bloß so schwer, die Pfunde runter zu kriegen? Oben hat man sie im Nu. Und es macht obendrein auch noch großen Spaß, gut zu essen und zu trinken.“

Alexandra lächelte. „Wie heißt es doch so treffend? Es ist im Leben hässlich eingerichtet, dass neben den Rosen gleich die Dornen stehen.“

„Ein weiser Spruch.“

„Von Goethe.“

Rosanna Wiegand sah ihre Schwiegertochter bewundernd an. „Du kennst Goethes Werke?“

„Nicht alle, aber viele.“

„Ich würde gerne mehr von dir wissen.“

„Und ich von dir“, gab Alexandra zurück.

„Bist du in München geboren?“

„Ja.“

„Hast du Geschwister?“

„Leider nein.“

„Thorsten ist auch ein Einzelkind. Ich meine er war es“, sagte Rosanna Wiegand. „Leben deine Eltern noch?“ Alexandra schüttelte den Kopf. „Sie kamen vor acht Jahren bei einem Busunglück in den Pyrenäen ums Leben.“

„Das tut mir leid.“

„Ich habe danach bei einer entfernten Verwandten gewohnt. Sie lebt inzwischen auch nicht mehr.“

„Dr. Härtling hält sehr viel von dir“, verriet Rosanna Wiegand ihrer schönen Schwiegertochter.

„Das freut mich.“

„Thorsten scheint tatsächlich eine sehr gute Wahl getroffen zu haben.“

Alexandra senkte den Blick und schwieg.

„Wo habt ihr euch kennengelernt?“, wollte Rosanna Wiegand wissen.

„Auf dem Parkplatz eines Supermarkts. Thorsten hatte seinen Wagen so knapp neben meinem geparkt, dass ich nicht einsteigen konnte. Ich musste zehn Minuten auf ihn warten. Zum Dank dafür, dass ich ihm keine Szene gemacht hatte, lud er mich zum Kaffee ein und von diesem Augenblick an kamen wir nicht mehr voneinander los.“

Rosanna Wiegand schien irgend etwas zu bedrücken. Sie setzte mehrmals an, bevor es ihr über die Lippen kam: „Es war, so scheint mir, gut für ihn, dich zu finden, nach allem, was war...“ Sie brach ab und biss sich auf die Unterlippe, als hätte sie etwas gesagt, das sie besser für sich behalten hätte.

Alexandra legte die Hand sanft auf den Arm ihrer Schwiegermutter. „Ich weiß Bescheid.“

„Tatsächlich?“, staunte Frau Wiegand.

„Thorsten hat mir alles erzählt.“

Rosanna Wiegand sah ihre Schwiegertochter an, als könne sie ihr nicht glauben. „Alles?“

„Er wollte ohne Geheimnisse in die Ehe gehen.“

Rosanna Wiegand stand auf und ging nervös hin und her. Alexandra sah ihr verwundert nach. Sie konnte die Erregung der Schwiegermutter nicht ganz verstehen. Was ging in der Frau vor?

„Was ist los, Rosanna?“, fragte Alexandra. „Was hast du denn?“

„Ist ziemlich warm hier drinnen.“

„Finde ich nicht.“

„Ich muss ein bisschen an die frische Luft. Bitte entschuldige mich einen Augenblick.“ Rosanna Wiegand verließ den Raum.

Alexandra folgte ihr. „Würdest du mir bitte erklären...“

„Bring mir bitte ein Glas Wasser!“, keuchte Rosanna Wiegand. Ihr Gesicht war kreideweiß und Schweiß bedeckte ihre Stirn.

Alexandra erschrak. „Um Himmels willen, Rosanna!“

„Mir ist auf einmal so...“ Die ältere Frau wankte.

Alexandra eilte zu ihr. Die schwere Frau sank ihr in die Arme. Alexandra hatte Mühe, sie festzuhalten. Ächzend schleppte sie die Schwiegermutter zu einem Rattansessel und setzte sie hinein. Frau Wiegand verlor innerhalb kürzester Zeit das Bewusstsein. Sie röchelte, ihr Kopf fiel nach hinten, die Arme sanken seitlich herab. Alexandra fühlte den Puls der Frau. Er war schwach und beschleunigt. Das sah nach einem Herzinfarkt aus. Alexandra hatte Mühe, nicht in Panik zu geraten.

„O mein Gott!“, stieß sie aufgewühlt hervor.

In der Paracelsus-Klinik hatte sie tagtäglich mit kranken Menschen zu tun, aber das hier war eine völlig andere Situation. Rosanna Wiegand war Thorstens Mutter! Alexandra kannte zwar so manchen Patienten besser als diese Frau, dennoch ging ihr Rosannas Schicksal verständlicherweise viel näher. Und deshalb war sie so konfus.

Sie zerrte die Ohnmächtige aus dem Sessel, legte sie auf den Boden, öffnete die beengende Kleidung, rannte ins Wohnzimmer und rief einen Krankenwagen.

Dann kehrte sie zu Rosanna zurück und leistete ihr mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage so lange Erste Hilfe, bis der Krankenwagen eintraf.

„Ich bin Nachtschwester in der Paracelsus-Klinik“, informierte sie die Sanitäter. „Ich möchte, dass Sie meine Schwiegermutter da hinbringen.“

Augenblicke später war die Ambulanz zur Paracelsus-Klinik unterwegs und Alexandra saß neben der Bewusstlosen und bangte um deren Leben.

8 Arztromane: Engel in Weiß und ein Arzt aus Leidenschaft - Sammelband

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