Читать книгу Roman Koffer 10 Arztromane zum Jahresende 2021 - A. F. Morland - Страница 11
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ОглавлениеMehr als dreißig Leute (wie das so schnell die Runde machen konnte, war Sören Härtling ein Rätsel) wollten an diesem Vormittag Gloria Sandrini sehen. Freunde, Kollegen, die Polizei - und zwei pfiffige Reporter, die sich eine heiße Story erhofften - stürmten die Paracelsus-Klinik, doch Dr. Härtling ließ vorläufig niemanden zu seiner berühmten Patientin.
Die Schauspielerin brauche absolute Ruhe und dürfe sich nicht aufregen, ließ er alle wissen. Die meisten ließen sich damit abspeisen und fuhren wieder nach Hause. Die Reporter nicht. Die blieben und warteten auf ihre Chance, eine gute Story zu ergattern.
Als der Klinikchef nach Gloria sah, schlief sie. Er wollte das Krankenzimmer so leise verlassen, wie er es betreten hatte, da sprach sie ihn an: „Dr. Härtling.“
Sören wandte sich ihr zu.
„Ich habe Sie geweckt. Das tut mir leid.“
„Ich habe nicht richtig geschlafen, nur gedöst.“
„Wie geht es Ihnen?“
Die attraktive Schauspielerin lächelte.
„Was möchten Sie hören?“
„Wie wär’s mit der Wahrheit?“
„Wenn ich Ihnen die Wahrheit sage, müssen Sie mich nach Hause schicken. Es geht mir nämlich gut.“
„Keine Kopfschmerzen?“ Fragend sah der Klinikchef sie an.
„Kaum der Rede wert.“
„Also doch.“
„In einer Föhnstadt wie München hat man immer wieder mal Kopfweh“, sagte die schöne Patientin.
„Sie haben es aber nicht vom Föhn, und deshalb gehen Sie erst nach Hause, wenn Sie mir ehrlichen Gewissens sagen können, dass Ihnen der Kopf nicht mehr wehtut.“
Die Schauspielerin betrachtete den Klinikchef eine Weile schweigend. Sie hatte langes aschblondes Haar und das ebenmäßigste Gesicht, das Sören je gesehen hatte. In zahlreichen Filmen hatte sie bereits ihre ungeheure Wandlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Sie konnte ebenso ergreifend tragisch wie hinreißend komisch sein, vermochte dem Zuschauer mit sparsamsten Mitteln jedes Gefühl, das sie in einer bestimmten Sequenz laut Drehbuch zu empfinden hatte, vermitteln, hatte eine große erotische Ausstrahlung und verfügte über eine schier unglaubliche Attraktivität. Sie war mit einem Wort ein ,Star‘!
„Verrückte Sache, die mir da passiert ist, was?“, sagte sie lächelnd.
Sören Härtling nickte.
„Kann man wohl sagen.“
„Verrückt auch, wie ich mich verhalten habe.“
„Sie waren sehr mutig.“
„Ich war sehr dumm“, erwiderte Gloria Sandrini objektiv. „Keine Ahnung, woher ich die Courage genommen habe, den Mann anzugreifen. Ich wachte auf, sah, wie dieser Kerl sich über mich beugte, hörte das Zischen des Betäubungsgases und schlug und trat wie von Sinnen um mich.“ „Kein Mensch kann wissen, wie er in einer solchen Situation reagiert“, meinte Dr. Härtling.
„Ich glaube, jede andere Frau wäre vor Schreck gelähmt gewesen.“
„Sie verfügen wahrscheinlich über hervorragende Reflexe.“
„Anstatt ihn fliehen zu lassen, springe ich ihn an wie eine Löwin und versuche ihm die Maske vom Kopf zu reißen.“ Gloria Sandrini schien selbst nicht glauben zu können, was sie getan hatte.
„Ach, der Mann war maskiert?“
Die Schauspielerin nickte. „Ja.“
„Ist Ihnen irgendeine Besonderheit an ihm aufgefallen?“
Gloria schüttelte bedauernd den Kopf.
„Ich werde der Polizei keine große Hilfe sein.“
„Vielleicht finden sich Fingerabdrücke auf der Spraydose.“
„Der Mann trug Handschuhe.“
„Hat er irgendetwas gesagt?“
Gloria Sandrini schüttelte abermals den Kopf.
„Nur geschrien, als ich ihn in die Schulter gebissen habe.“
„Kam Ihnen seine Stimme bekannt vor?“, erkundigte sich Dr. Härtling.
„Nein.“
Der Arzt zögerte, dann stellte er die Frage, die ihm durch den Sinn ging, doch, auch wenn es indiskret war: „Haben Sie einen Safe in Ihrem Schlafzimmer?“
Gloria nickte.
„Ja.“
„Was bewahren Sie darin auf? Darf ich das wissen?“
„Ach, alles Mögliche. Wertpapiere, Schmuck, etwas Geld.“
„Hätte es sich gelohnt, den Safe zu knacken?“, fragte der Chefarzt der Paracelsus-Klinik.
„Das auf jeden Fall.“
„Sie haben Ihr Eigentum wacker verteidigt.“
Gloria Sandrini lächelte schief.
„Mein verrückter Mut hätte mich das Leben kosten können.“
„Sie hatten keine Zeit, sich die Folgen zu überlegen.“
„Aber jetzt habe ich Zeit, darüber nachzudenken, und mir läuft es dabei eiskalt den Rücken hinunter.“ Die Schauspielerin sah den Klinikchef ernst an. „Ich weiß nicht, ob Sie meine Lebensgeschichte kennen. Meine Familie war sehr arm. Mein Vater war ein Ruhrpott-Kumpel. Mit sechsundvierzig konnte er nicht mehr arbeiten. Staublunge. Mit neunundvierzig ist er gestorben. Meine Mutter zog mit meinen drei Brüdern und mir zu Verwandten nach Augsburg und hat sich da für uns im wahrsten Sinne des Wortes tot geschuftet. Sie hat unseren Vater nur fünf Jahre überlebt. Ich war gerade neunzehn, als sie starb, und hieß noch Schneiderbanger.“
„Schneiderbanger“, wiederholte Dr. Härtling den ungewöhnlichen Namen.
Gloria lächelte.
„Kein Name für eine Künstlerin, deshalb heiße ich heute Sandrini.“
„Sie haben drei Brüder?“, sagte Sören Härtling.
„Ich hatte drei Brüder: Art, Tom und Uwe. Sie haben mich nicht besonders gut behandelt. Ich bin durch eine harte Schule gegangen, war die Sklavin meiner Brüder, musste für sie waschen, kochen und ihren Dreck wegräumen, und wenn ich mal nicht so spurte, wie sie wollten, gab es Ohrfeigen - von Art und Tom. Uwe hat mich nie angerührt. Er war mein Lieblingsbruder.“
„Was ist aus Art und Tom geworden?“, wollte der Klinikchef wissen.
„Sie sind beim Drachenfliegen verunglückt.“
Dr. Härtling horchte überrascht auf.
„Beide?“
„Sie stießen in der Luft zusammen und stürzten ab. Ich kam lange nicht darüber hinweg, brauchte psychiatrische Hilfe, um damit fertigzuwerden, weil ich ihnen nämlich die Fluggeräte gekauft hatte. Ich lebte damals bereits in München, verdiente als Fotomodell gutes Geld und nahm nebenbei Schauspielunterricht.“
„Dadurch, dass Sie Art und Tom die Fluggeräte gekauft hatten, fühlten Sie sich mit schuldig an ihrem Tod.“
Gloria Sandrini nickte ernst. „So ist es.“
„Und Uwe?“
„Den gibt es noch“, sagte die Schauspielerin.
„Lebt er hier in München?“
„Ich habe ihm eine kleine Wohnung gekauft, aber er benutzt sie nicht sehr oft.“
„Wo wohnt er?“, erkundigte sich Dr. Härtling.
„Bei diversen Damen. Mal hier, mal da“, antwortete Gloria schulterzuckend. „Mal mehrere Monate auf einer griechischen Insel. Er liebt die Griechen und ihre Mentalität.“
„Und wovon lebt er? Unterstützen Sie ihn?“
„Nein“, sagte die Schauspielerin.
„Er ist ein Lebenskünstler, kommt immer irgendwie zu Geld. Mal halten ihn die Damen aus, mal arbeitet er als Dressman. Er sieht fantastisch aus, hat keine Schwierigkeiten, einen Job zu bekommen, und wenn er genug verdient hat, steigt er in den nächsten Flieger und verschwindet wieder für eine Weile nach Griechenland.“
„Sie sehen ihn wohl nicht sehr oft.“
„Ich habe immer viel zu tun“, erwiderte Dr. Härtlings berühmte Patientin, „und wenn ich mal Zeit habe, ist Uwe zumeist irgendwo.“
„Lieben Sie ihn?“
„Er ist mein Bruder.“
„Und wie steht er zu Ihnen?“, fragte der Klinikchef.
Gloria Sandrini lächelte dünn.
„Er ist ein wenig sauer auf mich.“
„Weshalb?“
„Er möchte ebenfalls Schauspieler werden.“
„Erwartet er von Ihnen, dass Sie ihm das ermöglichen?“, fragte Sören Härtling.
„Er hat mich darum gebeten.“
„Bei Ihren Beziehungen müsste es doch leicht sein, ihm eine Rolle zu verschaffen“, sagte Dr. Härtling.
„Das wäre sicher kein Problem für mich“, gab Gloria Sandrini ihm recht.
„Aber?“
„Ich würde Uwe damit keinen Gefallen tun.“
„Wieso nicht?“, fragte der Chefarzt der Paracelsus-Klinik.
„Weil er absolut kein Talent hat. Er sieht umwerfend aus, kommt als Dressman gut an, aber er ist als Schauspieler völlig ungeeignet.“
„Haben Sie ihm das gesagt?“
Gloria Sandrini sah den Klinikchef offen an.
„Ich muss zu meinem Bruder doch ehrlich sein.“
„Wie hat er Ihre Ehrlichkeit aufgenommen?“
„Wie jemand, der Kritik nur sehr schlecht verträgt.“
„Und nun ist er böse auf Sie“, stellte Dr. Härtling fest.
„Nicht direkt böse, aber es ist nicht mehr so wie früher zwischen uns. Uwe lässt sich immer seltener blicken, und wenn wir miteinander telefonieren ...“ Die Schauspielerin seufzte. „Nun ja, es ist eben nicht mehr so wie früher. Uwe will einfach nicht begreifen, dass ich ihm nur eine Blamage ersparen möchte. Er denkt, was ich kann, kann er auch. Dem ist aber nicht so.“
„Hält er sich zur Zeit in München auf?“, erkundigte sich Sören Härtling.
„Ja.“
„Möchten Sie, dass ich ihn anrufe?“, erbot sich der Klinikchef.
„Das ist nicht nötig. Man hat ihm sicher schon berichtet, was passiert ist.“
„Wird er Sie besuchen kommen?“
Die Schauspielerin nickte.
„Ganz bestimmt.“
„Möchten Sie ihn sehen?“
„Selbstverständlich möchte ich ihn sehen“, gab Gloria Sandrini zurück. „Er ist und bleibt schließlich mein Bruder.“