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1.10Das Neue Testament als Quelle

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Paulus von Tarsus (gest. um 65 n. Chr.) ist als maßgeblicher Wegbereiter der christlichen Judenfeindschaft zu bezeichnen. Die Verankerung des Antisemitismus als essenzieller Teil frühchristlicher Identitätskonstruktion durch Paulus bewirkte, dass die weltweite Verbreitung des Christentums mit einer globalen Expansion der Judenfeindschaft einherging. Bereits im ersten Brief des Apostels an die Gemeinde in Thessaloniki wird das antijüdische Pejorativum vom Gottesmord beschworen, wenn es heißt:

»Denn, Brüder, ihr seid Nachkommen der Gemeinden Gottes geworden, die in Judäa sind in Christus Jesus, weil auch ihr dasselbe von den eigenen Landsleuten erlitten habt, wie auch sie von den Juden, die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben und Gott nicht gefallen und allen Menschen feindlich sind, indem sie – um ihr Sündenmaß stets voll zu machen – uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit die errettet werden; aber der Zorn ist endgültig über sie gekommen.« (1. Thessalonicher 2,13)

Die Anklage in Form einer Kollektivschuldaussage („die Juden“) verknüpft das Narrativ des Jesusmordes mit dem Stereotyp des Menschenhasses, das sich bereits bei Tacitus findet. Neben dem zentralen Vorwurf des Gottesmordes spielte im Zusammenhang des sich verschärfenden Gegensatzes zwischen dem Frühchristentum und dem Judentum der Diskurs über die Beschneidung eine zentrale Rolle. Nach dem Tod des Jesus von Nazareth waren die Verbindungen des Urchristentums zum Judentum noch eng, de facto stellten die Urchristen eine Art Sondergruppe innerhalb des Judentums dar. Die enge Verbindung der Jerusalemer Urgemeinde zum Judentum kam nicht nur darin zum Ausdruck, dass die Kaschrut, die jüdischen Speisegesetze, eingehalten wurden, sondern ebenso darin, dass Neugetaufte beschnitten wurden. Die sich ausdehnende Missionierung führte indes recht rasch zur Unterscheidung zwischen sog. „Judenchristen“ und „Heidenchristen“. Erst Paulus, der sich auf die Mission von Nichtjuden konzentrierte, erlaubte den „Heidenchristen“ nach vollzogener Taufe die Freistellung von der Beschneidung sowie von weiteren Geboten des Judentums. Paulus bewirkte auf diese Weise bewusst die Separation der Christen von den Juden und leitete so die Spaltung in Christentum und Judentum ein. Da zunächst jedoch die Verbindungen zum Judentum eng blieben, imitierten viele Heidenchristen weiterhin jüdische Bräuche, wie u. a. die Zirkumzision, die Paulus schließlich als unvereinbar mit der christlichen Botschaft geißelte. Anstelle der Beschneidung als „Bundeszeichen“ trat die christliche Taufe als Bund mit Gott und als einziger Weg zum ewigen Heil.

Der Antisemitismus des Neuen Testaments findet sich nicht nur in den Briefen des Apostels Paulus an die noch jungen christlichen Gemeinden außerhalb Palästinas, sondern ebenso in den Evangelien. Fünf zentrale antisemitische Motive lassen sich hier ermitteln. Erstens die Kollektivierung, welche den Terminus „die Juden“ verwendet. Die Kollektivierung ist im Johannesevangelium besonders stark ausgeprägt und dem historischen Sachverhalt der Trennung der kleinasiatischen Gemeinden vom Judentum geschuldet. Der Ablösungsprozess vollzog sich als Prozess der Eigendefinition, die das „nicht mehr jüdisch Sein“ mit der Pejorisierung des abgetrennten Selbst in den Mittelpunkt der Selbstfindung stellte. Zweitens die Antagonisierung, welche die Narrative der Verwerfung sowie der Substitution einschließt. Die Antagonisierung stellt das aus dem Ablösungsprozess hervorgegangene Konstrukt von „christlicher Wir-Gruppe“ und „jüdischem Fremdkollektiv“ als unversöhnlich gegenüber. So interpretierten bspw. christliche Kirchenväter des 4. Jh.s das „Gleichnis von den Weingärtnern“, das sich im Evangelium nach Markus wie nach Lukas findet, als Verwerfung des Volkes Israel. Während die Kirchenlehrer die Christenheit als „wahres Israel“ darstellten, kam dem Judentum die Rolle des „verworfenen Volkes“ zu, wodurch ein scharfer, unüberbrückbarer Gegensatz konstruiert wurde. Drittens die Blasphemisierung, die in etlichen Textstellen des Neuen Testaments in der Variante der Kollektivschuldthese auftaucht, die das Volk Israel in seiner Gesamtheit verantwortlich macht für die Ermordung Jesu. Auffallend ist diesbezüglich das Interesse der Evangelisten, den Beitrag der römischen Besatzungsmacht, die einzig und allein über Kapitalstrafen zu befinden hatte, als möglichst gering erscheinen zu lassen, während das Volk Jerusalems als Kollektivtäter wie eigentlicher Promoter des Kreuzigungsgeschehens dargestellt wird. Die Kriminalisierung verbindet den Schuldvorwurf am Tode Jesu häufig mit dem bislang nur innerjüdisch benutzten Motiv des Prophetenmordes. Viertens die Essentialisierung, wodurch das „Mörderische“ bzw. Kriminelle als Charakterzug des „Jüdischseins“ erscheint. Wie stark eine solche Sichtweise gläubige Christen prägte, wird daran ersichtlich, wie häufig Martin Luther in seinen Tischgesprächen den Juden unterstellte, Mordabsichten gegen Christen zu hegen und behauptete, das Wesen der Juden bestehe darin, Christen alles nur erdenklich Schlechte angedeihen lassen zu wollen. Die fünfte Methode schließlich lässt sich als Genetifizierung bezeichnen, sie trägt dazu bei, den im Kontext des Ablösungsprozesses konstruierten Gegensatz zwischen Juden und Christen als generationenübergreifend zu charakterisieren. Die Kollektivschuldthese wird auf diese Weise verewiglicht, wenn es im Evangelium nach Matthäus (21,41) heißt: »Und das ganze Volk antwortete und sprach: ›Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‹« Dieser sog. „Blutfluch“ als Kulminationspunkt des christlichen Antisemitismus wurde von Mel Gibson im Spielfilm The Passion of Christ an herausragender Stelle als quasi biologistisches Konstrukt in Szene gesetzt.

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