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1.1Assyrische Deportation und babylonisches Exil
ОглавлениеIm 9. Jh. v. Chr. gelang es dem Volk der Assyrer, welches im mittleren und nördlichen Mesopotamien lebte, ein Großreich zu etablieren, dessen Zentren die Städte Aššur, Nimrud und Ninive bildeten und welches zeitweise auch Babylon und Ägypten beherrschte. Im Jahr 733 v. Chr. deportierte das Assyrische Reich Tausende Einwohner aus dem Nordreich Israel, im Jahr 722 v. Chr. ebenso aus dem durch die innerjüdische Spaltung hervorgegangenen Staat Samaria. Im Jahr 614 v. Chr. eroberten die Vasallenstaaten Babylon und Medien die assyrische Hochburg Nimrud, im Jahr 612 v. Chr. nach dreimonatiger Belagerung Ninive und drei Jahre später die westlich gelegene Stadt Harran. Mit der Thronübernahme Nebukadnezars II. (640 v. Chr.–562 v. Chr.) im Jahr 605 war die Unterwerfung der einstigen Großmacht besiegelt. Das neubabylonische Reich schickte sich sogleich an, Syrien und die Levante tributpflichtig zu machen. Aufstände in denjenigen Staaten, die sich gegen ihre Unterwerfung zur Wehr setzten, wurden mit Gewalt niedergeschlagen. Im Jahr 597 v. Chr. eroberte Nebukadnezar II. Jerusalem und verbannte den König Jojachin (616 v. Chr.–560 v. Chr.) sowie Tausende Juden ins ferne Babylon. Einen Aufstand des nachfolgenden Königs Zedekia (618 v. Chr.–586 v. Chr.) ließ der babylonische Herrscher ebenso niederschlagen und im Jahr 586 v. Chr. den Ersten Tempel in Jerusalem zerstören. Zedekia sowie das ihn umgebende Establishment wurde gleichfalls nach Babylon deportiert.
Sowohl die assyrische als auch die babylonische Politik gegenüber den Juden ist insofern nicht als antisemitisch zu werten, als es sich bei den Deportationen nicht um gewaltförmige Praxen auf rassistischer Grundlage handelte. Die Exilierung der Führungseliten wurde auch bei anderen Völkern praktiziert, die sich tributpflichtigen Unterwerfungen widersetzten, um die verbliebene Bevölkerung gefügig zu machen. Rassifizierende Diskurse, welche die Juden in kollektivierender wie antagonisierender Weise mittels eines oder mehrerer Differenzkriterien zur Fremdgruppe konstruierten bzw. die rassistisches Wissen zwecks Legitimierung etwa der Tempelzerstörung produzierten, sind nicht auszumachen, gleichwohl bedacht werden muss, dass die Quellenlage weniger fundiert ist als zu späteren Zeiten. Obgleich Antisemitismus keinesfalls auf Einstellungen oder auf Ideologeme verkürzt werden darf, stellt die antisemitische Ideologie einen notwenigen Bestandteil des sozialen Sachverhalts dar; dieser ist in der assyrischen wie babylonischen Zeit noch nicht auszumachen.
Einwenden ließe sich, dass im Buch Daniel der hebräischen Bibel von Antisemitismus unter Nebukadnezar berichtet wird. Es heißt hier:
»König Nebukadnezar ließ ein goldenes Standbild anfertigen, dreißig Meter hoch und drei Meter breit, und ließ es in der Ebene Dura in der Provinz Babylon aufstellen. Dann berief er sämtliche hohen Beamten seines Reiches zu einer Versammlung ein, die Provinzstatthalter, Militärbefehlshaber und Unterstatthalter, die Ratgeber, Schatzmeister, Richter, Polizeigewaltigen und alle hohen Beamten der Provinzen. Sie sollten an der Einweihung des Standbildes teilnehmen, das er errichtet hatte. Sie alle kamen zu der Einweihung und stellten sich vor dem Standbild auf. […] Einige Babylonier aber ergriffen die Gelegenheit, die Juden anzuzeigen. […] Da sind aber einige Juden, denen du die Verwaltung der Provinz Babylon anvertraut hast. Diese Männer haben deinen Befehl missachtet. Sie erweisen deinem Gott keine Ehre und beten das goldene Standbild, das du errichten ließest, nicht an.« (Daniel 3:1)
Der Nebukadnezar der Sage aus dem Buch Daniel gerät daraufhin außer sich und lässt die beschuldigten Juden in einen siebenmal so stark wie sonst geheizten Ofen werfen. Doch es ist eine Sage, welche die Rückprojektion eines aktuellen Konflikts in die assyrische Zeit darstellt. Das Buch Daniel entstand zwischen 167–164 v. Chr., als das Judentum schwersten Repressalien unter dem seleukidischen Herrscher Antiochos IV. Epiphanes (215–164 v. Chr.) ausgesetzt war, der einen Vernichtungskampf gegen ihren Kultus führte und im Jahr 169 v. Chr. den Jerusalemer Tempel entweihte. In dieser Auseinandersetzung soll das Buch Daniel den Juden durch eine Legende aus vergangener Zeit Mut machen, insofern die Juden aus dem glühenden Ofen unbeschadet herauskommen.