Читать книгу Einführung in die Literaturtheorie - Achim Geisenhanslüke - Страница 10
4. Aufbau und Ziel der Arbeit
ОглавлениеHermeneutik und neue Literaturtheorien
Sokrates’ Bestimmung des Wissens von der Literatur als Verständigung über den Sinn des vom Dichter Gesagten hat der Theorie der Literatur lange Zeit als unhinterfragter Imperativ gedient. Zwar hat die rhetorische Tradition mit der Frage nach der „erschütternden Kraft“ (Longinus 1988, 7) der dichterischen Sprache schon von jeher als ein Gegengewicht zum hermeneutischen Verstehensakt fungiert. Erst im 20. Jahrhundert bricht die hermeneutische Selbstverständlichkeit, derzufolge die Literaturtheorie auf einer Lehre des Verstehens ruht, jedoch zugunsten neuer Herausforderungen auf (vgl. Bogdal 1999, 11f.). Einen ersten Schritt in Richtung eines neuen Literaturverständnisses vollzieht die moderne Linguistik mit der Einsicht in die Formbeschaffenheit der Sprache (vgl. Saussure 1967, 146). Im Rahmen formalistischer Ansätze ist es nicht mehr die durch die philosophische Instanz des Sinnes vermittelte Substanz der Sprache, die im Mittelpunkt des Interesses steht, sondern die Frage nach der Natur des sprachlichen Zeichens und der Besonderheit der poetischen Funktion der Sprache (Jakobson 1979, 92). In dem Maße, in dem der Strukturalismus die poetische Funktion der Sprache mit der Einstellung auf die sprachliche Botschaft als solcher (Jakobson 1979, 94) gleichsetzt und die besondere Bedeutung von Metapher und Metonymie in der Dichtung hervorhebt, vollzieht er zugleich einen Schritt, der auf die antike Rhetorik zurückweist (vgl. Barthes 1988, 15–102).
Kritik der Hermeneutik
Vor diesem Hintergrund konnte die rhetorische Aufwertung der sprachlichen Form vor dem hermeneutischen Substanzdenken von poststrukturalistischen Ansätzen aufgenommen und kritisch weitergeführt werden. Während Jacques Derrida die philosophische Tradition der Dekonstruktion als eine neue (Anti-)Wissenschaft von der sprachlichen Differenz im Zeichen der Schrift begründete (vgl. Derrida 1983), formulierte der amerikanische Theoretiker Paul de Man eine entschiedene Revision der traditionellen Ästhetik und Hermeneutik, indem er die rhetorische Funktion der Sprache mit der Literatur gleichsetzte (vgl. de Man 1988, 40). Im Zeichen der Rhetorik entwickelte sich die poststrukturalistische Theorie der Literatur zu einem Widerstand gegen hermeneutische Bedeutungsmodelle, der auch der französische Theoretiker und Begründer der Diskursanalyse Michel Foucault verpflichtet blieb. Erscheint die Literatur bei Foucault einerseits als keineswegs privilegierter Teil eines umfassenden epistemologischen Feldes, dessen Rahmenbedingungen die Diskursanalyse in der Form einer kritischen Archäologie der Humanwissenschaften zu beschreiben versucht, so kommt ihr als „Gegendiskurs“ (Foucault 1974, 76) andererseits die Aufgabe zu, sprachliche Repräsentationsmodelle zugunsten eines „Anders-Werden der Sprache“ (Deleuze 2000, 16) außer Kraft zu setzen. Sowohl in der dekonstruktiven als auch in der diskursanalytischen Ausprägung erscheint das poststrukturalistische Denken als eine Subversion der Identitätspostulate von Ästhetik und Hermeneutik im Zeichen einer Differenzerfahrung, die sich gerade im literarischen Text als dem Anderen der Wissenschaft manifestiere.
Von der Hermeneutik zur Kulturwissenschaft
In dem Maße, in dem die Diskursanalyse die Frage nach den historischen Kontexten des Wissens in das Zentrum ihrer Überlegungen stellt, bereitete sie zugleich den Schritt zur Begründung einer neuen Kulturwissenschaft vor, der es nicht mehr um den literarischen Text als solchen geht, sondern um Literatur als kulturelle Praxis und Ausdruck sozialer Energien (vgl. Greenblatt 1990 14f.). Dabei ist es insbesondere die Frage nach der medialen Bedingtheit der Literatur, die in den letzten Jahren in den Vordergrund getreten ist: In der Form einer Medientheorie erhebt die Kulturwissenschaft den Anspruch auf eine Durchdringung des literarischen Gegenstandes, die nicht mehr dessen Eigengesetzlichkeit beachtet, sondern die Funktion der poetischen Sprache auf kommunikative Kodes festlegt, die sich zu wesentlichen Teilen medialen Einschreibeprozessen verdanken (vgl. Kittler 1987).
Methodenpluralismus und Geschichte der Literaturtheorie
Der geschichtliche Gang der Literaturtheorie von der Hermeneutik bis zur Medienwissenschaft ist vor diesem Hintergrund allerdings keineswegs als ein teleologischer Prozess mit einem klar bestimmbaren Anfang und einem absehbaren Ende zu werten. Die Geschichte der Literaturtheorie ist begleitet von zahllosen Brüchen, von Rivalitäten, Revolutionen und Revisionen. Dabei können die neuen Literaturtheorien zwar als Einschränkungen der traditionellen Hermeneutik gelten, nicht aber als deren endgültige Widerlegung. Noch immer bilden die literarische Hermeneutik, das poststrukturalistische Denken und die neuen Kulturwissenschaften ein Gefüge von Spannungen, die sich nicht einfach durch den Hinweis auf die disziplinäre Einheit des akademischen Faches Literaturwissenschaft beiseite räumen lassen. Dass es nicht mehr die eine Theorie der Literatur, sondern vielfältige miteinander rivalisierende Ansätze gibt, kann zwar einerseits als ein Verlust von Eindeutigkeit beklagt, andererseits aber auch als Ausdruck einer Komplexitätsgewinnung begrüßt werden, die die Möglichkeiten der Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten enorm erweitert hat. Die Aktualität der Literaturtheorie bleibt darin ungebrochen. Die Legitimation der Problemstellung, die die Literaturtheorie von ihren hermeneutischen Anfängen bis zu ihrer kulturwissenschaftlichen Ausprägung begleitet, besteht darin, dass die Frage nach den Möglichkeits- und Wirklichkeitsbedingungen dichterischer Sprache ein Moment offenbart, das sich nur im Rahmen der theoretischen Reflexion zeigt: die unaufhebbare Spannung, die die Literatur zwischen dem Anspruch auf Selbstbestimmung und der kulturellen Teilhabe am Wissen ihrer Zeit kennzeichnet. Vor diesem Hintergrund versteht sich die vorliegende Arbeit als eine Einführung in die wesentlichen unterschiedlichen Positionen der Literaturtheorie, in denen die Spannung zwischen literarischer Autonomie, philosophischer Erkenntnis und diskursiver Praxis immer wieder neu ausgetragen wird.
Von der Ästhetik zu den neuen Literaturtheorien
Die Untersuchung nimmt ihren Ausgang bei dem im 18. Jahrhundert entstandenen Doppel von philosophischer Ästhetik und literarischer Hermeneutik, um vor diesem Hintergrund die Entwicklung des Strukturalismus im 20. Jahrhundert und darauf aufbauend die unterschiedlichen Positionen poststrukturalistischen Denkens bis hin zur Frage nach der Begründung einer neuen Kultur- und Medienwissenschaft zu skizzieren. Die Frage nach der aktuellen Bedeutung der Literaturtheorie steht am Schluss der Arbeit, deren Ziel nicht allein darin besteht, einen summarischen Überblick über die unterschiedlichen Richtungen der Literaturtheorie zu geben. Ihr Leitfaden ist vielmehr die kritische Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der alten wie der neuen Literaturtheorie im Rahmen der Perspektivenöffnung, die die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bedeutet haben.