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II. Ästhetik 1. Ästhetik und Poetik im 18. Jahrhundert

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Ästhetik und Literaturtheorie

In dem Maße, in dem die Literatur ein Teilgebiet der Kunst ist, scheint es zunächst evident zu sein, dass die Ästhetik, die seit Hegel im allgemeinen Sinne als die Wissenschaft der Kunst (Hegel 1986a, 13) verstanden wird, auch für die Literatur zuständig ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Ästhetik auf die Literatur zugreift, verdankt sich jedoch einer historischen Entwicklung, die der Erläuterung bedarf (vgl. Plumpe 1993, Eagleton 1994, Schneider 1996). Denn bisher war nicht die Ästhetik, die sich erst im 18. Jahrhundert als eine eigenständige Disziplin herauszukristallisieren beginnt, für Fragen der Literatur zuständig, sondern die Rhetorik. Von Kant und Hegel über Nietzsche, Freud und Heidegger bis zu Lukács, Benjamin und Adorno reichen die unterschiedlichen Versuche innerhalb der philosophischen Moderne, einen spezifisch ästhetischen Zugang zur Literatur zu gewinnen (vgl. Jung 1995). Die gemeinsame historische Voraussetzung der miteinander im Widerstreit liegenden modernen Ästhetiken ist der Bruch mit dem antiken System von Rhetorik und Poetik im 18. Jahrhundert und die damit verbundene Anstrengung, eine Form der Autonomie geltend zu machen, in deren Horizont auch die Literatur eingebettet werden kann. Dass die Gewinnung der Autonomie des Ästhetischen seit Kant nicht ohne Widersprüche gelingt, schreibt der ästhetischen Reflexion über Literatur jedoch zugleich Grenzen ein, die auf das scheinbar überwundene System von Rhetorik und Poetik zurückverweisen.

Geschichte der Ästhetik

Dabei ist nicht zu vergessen, dass die Ästhetik in ihrer Geschichte zahlreichen Wandlungen unterworfen war. Baumgarten und Kant ging es noch um die grundsätzliche Legitimation ästhetischen Denkens im Unterschied zur Erkenntnistheorie und Moral. Insbesondere auf dem von Kant gelegten Grund konnte Hegel ein vollständiges System der Ästhetik vorlegen, das sowohl die geschichtliche als auch die gattungspoetische Seite der Kunst berücksichtigt. Der Zerfall des Hegelschen Systems der Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutete in diesem Zusammenhang zugleich eine Revision der Ästhetik des deutschen Idealismus. Am konsequentesten durchgeführt wurde sie von Nietzsche, der am Beispiel der griechischen Tragödie die Umrisse einer ästhetischen Theodizee des Daseins skizzierte, die zugleich zu einer folgenreichen Entgrenzung des Ästhetischen führte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfuhr die Ästhetik eine erneute Wendung: Für Denker wie Lukács, Benjamin und Adorno tritt der Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft in den Mittelpunkt der ästhetischen Reflexion. Kann insbesondere Adornos Ästhetik in diesem Zusammenhang als der letzte Versuch zu einer klassischen Begründung ästhetischen Denkens im Sinne Baumgartens und Kants gelten, so vollzieht das poststrukturalistische Denken mit den Arbeiten Lyotards und Deleuzes eine Überschreitung der Ästhetik, die zugleich in die Richtung einer neuen Bewertung der sinnlichen Gründe der Erkenntnis weist.

Bedeutung der Ästhetik

Vor dem Hintergrund dieser komplexen Entwicklung mag auf den ersten Blick nicht deutlich sein, was für einen zentralen Stellenwert die Ästhetik in ihrer Geschichte für die Theorie der Literatur eingenommen hat. Nicht nur geht jede Literaturtheorie letztlich auf eine bestimmte Form ästhetischen Denkens zurück, handle es sich nun um die Bedeutung Kants und Hegels für die moderne Hermeneutik oder um die Nietzsches und Heideggers für den Poststrukturalismus. Darüber hinaus impliziert die philosophische Ästhetik bereits von sich aus immer auch Aussagen über das Wesen der Literatur, sei es, dass das Phänomen des Literarischen in einen Begriff der Fiktionalität eingebunden wird oder in eine Theorie der Wahrheit, die in der Kunst paradigmatisch zur Erscheinung kommt. Seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert sind die Ästhetik und die Literaturtheorie eine enge Verbindung eingegangen, die auch im 20. Jahrhundert nicht abgerissen ist.

Grenzen der Ästhetik

Allerdings sieht sich die Ästhetik im 20. Jahrhundert mit Problemen konfrontiert, die es nicht für gesichert erscheinen lassen, dass sie noch länger wesentliche Beiträge für die Theorie der Literatur liefern kann. Der Grund dafür liegt nicht allein in der von Beginn an problematischen Überformung literarischer Fragen durch die philosophische Reflexion. Im Rahmen der umfassenden Entgrenzung des Ästhetischen, derzufolge sich das Attribut des Ästhetischen von spezifischen Fragen der Kunst auf beinahe alle Lebensbereiche ausgeweitet hat, konstatiert Karlheinz Barck in einem zusammenfassenden Rückblick auf die Geschichte der Ästhetik „Spuren der Diffusion eines Begriffs“ (Barck 2000, 394). Er stellt daher die kritische Ausgangsfrage: „Ein Trend zur Pan-Ästhetik oder Pan-Ästhetisierung ist an die Stelle eines philosophischen Alleinvertretungsanspruches getreten. Gibt es überhaupt noch einen hinreichend eindeutigen Begriff von Ästhetik?“ (Barck 2000, 308) Die Antwort fällt zwiespältig aus. Denn einerseits gewinnt die Ästhetik durch ihre Entgrenzung auf alle Lebensbereiche an Umfang, andererseits ist sie gerade durch die Tendenz zu einer Entgrenzung ihres eigenen Gegenstandes nicht länger sicher (vgl. Geisenhanslüke 2001a, 137). Geht der Ästhetik in der Erweiterung ihrer Grenzen aber der eigene Gegenstand verloren, so ist auch nicht länger sicher, inwiefern sie noch einen Beitrag zur Frage nach dem Status und der Struktur der Literatur liefern kann. Hatte die Ästhetik die literaturtheoretische Diskussion bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bestimmt, so muss sie ihre zentrale Funktion heute zunehmend an andere Disziplinen wie die Medientheorie, die Kulturwissenschaft oder die Rhetorik abgeben. Um so wichtiger ist es, einen geschichtlichen Überblick über die vielfältigen Angebote zu gewinnen, die die Theorie der Literatur von seiten der philosophischen Ästhetik erfahren hat.

Einführung in die Literaturtheorie

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