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I. Einleitung 1. Literatur – Wissenschaft – Theorie

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Was ist Literatur?

Die meisten Leser haben ein bestimmtes Vorverständnis von dem, was Literatur ist. Sie lassen sich von der Vorstellung leiten, Literatur habe es vor allem mit Phantasie und Kreativität zu tun, sie sei Ausdruck einer Schaffenskraft, die sich in einigen wenigen Autoren der Vergangenheit exemplarisch offenbart habe. Der Name Goethes etwa steht in der Geschichte der deutschen Literatur stellvertretend für die Idee einer schier unerschöpflichen Schaffenskraft ein, die Gelebtes unmittelbar in Literatur umsetzt. Mit dem Begriff „Literatur“ verbindet der Leser daher meist einen bestimmten Kanon von klassischen Texten, die der weiteren Überlieferung wert sind, weil sie die Geschichte bisher überdauert haben. Der Rückblick auf die Geschichte der Literatur als einer kontinuierlichen Folge von genialen Künstlersubjekten, die sich im Laufe der Zeit durchsetzen konnten, geht dabei meist mit der nostalgischen Klage einher, dass solche Formen des Gelingens heute nicht mehr möglich seien, dass das goldene Zeitalter der deutschen Literatur endgültig vorbei sei (vgl. Schlaffer 2002).

Der Gegenstandsbereich der Literaturtheorie

Eine solche Auffassung von Literatur ist sicherlich nicht ganz falsch: Ohne ein gewisses Quantum an Imaginationskraft könnte kaum ein literarisches Werk entstehen. Wissenschaftlich aber ist sie nicht. Denn die Aufgabe der Literaturwissenschaft besteht nicht etwa darin, den genialen Autor Goethe vermittelt durch die Lektüre seiner Werke zu verstehen oder gar zu erfühlen. Wie anderen sogenannten „geisteswissenschaftlichen“ Fächern, z.B. der Philosophie, der Soziologie oder der Geschichte, geht es der Literaturwissenschaft zweifellos darum, Erkenntnisse zu gewinnen. Die Form der Erkenntnis, die die Literaturwissenschaft von ihrem Gegenstand gewinnen kann, ist jedoch von besonderer Natur (vgl. Culler 2002, 11). Im Unterschied etwa zur Philosophie, die es meist mit logischen Sachzusammenhängen zu tun hat, sind literaturwissenschaftliche Urteile schwer begründbar, weil sich der spezifische Gegenstand der Literaturwissenschaft, die Literatur, logischen Begründungszusammenhängen tendenziell entzieht. Das liegt nicht nur daran, dass die Literatur, selbst die der Gegenwart, immer auch ein historischer Gegenstand ist und sich wie alles Geschichtliche der logischen Definition widersetzt: „definierbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“ (KSA 5, 317), lautet ein bekanntes Wort Nietzsches. Als geschichtlicher Gegenstand entzieht sich die Literatur der Wissenschaft, weil sie selbst keine strenge Form des Wissens sein will: Von ihrem Selbstverständnis her geht es der Literatur ja nicht um wissenschaftlich nachprüfbare Erkenntnisse und Letztbegründungen, sondern um etwas schwer benennbares „Anderes“, das sich kaum unter dem Stichwort „Wissen“ zusammenfassen lässt. Von daher kann der englische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton seine Einführung in die Literaturtheorie zwar mit der Bemerkung beginnen: „Wenn es so etwas wie Literaturtheorie gibt, dann muß es offensichtlich wohl auch etwas namens Literatur geben, womit sich diese Theorie beschäftigt“ (Eagleton 1994a, 1). Aber Eagleton hütet sich zugleich davor, eine Antwort auf das zu geben, was Literatur ist. Vielmehr zeigt er in seiner Abhandlung die unterschiedlichen Vorschläge auf, die in der Geschichte der Literaturtheorie vorliegen, um das Wesen des Literarischen zu bestimmen.

Mystifizierungen des Literarischen

Die Unsicherheit gegenüber einer jeden Definition, die vorgibt, um das Wesen der Literatur zu wissen, hat dabei auf der einen Seite immer wieder zu Mystifizierungen der Funktion des Literarischen geführt. Eine Spielart dieser Mystifikationen, die auf die Hermeneutik Wilhelm Diltheys zurückgeht, ist die oben angeführte Idee eines genialen Autorsubjekts, das aus seiner eigenen Kraft heraus unsterbliche Werke schafft, in die sich der verständnisvolle Leser einzufühlen habe. Eine andere, für die der strukturalistische Sprachwissenschaftler Roman Jakobson verantwortlich ist, besteht in der Rede von einer spezifisch poetischen Funktion der Sprache, die sich von anderen Funktionen der Sprache unterscheiden lasse und die darin bestehe, dass in der Literatur Sprache sich selbst zum Gegenstand werde. Beide Antworten kommen darin überein, das Wesen des Literarischen in einer Form der Autonomie zu erkennen, die sich in den Texten der Vergangenheit paradigmatisch erfülle: einmal im souveränen Subjekt der Dichtung, dem genialen Autor, das andere Mal in der Souveränität der Sprache selbst.

Differenzen zwischen Literatur und Wissenschaft

Auf der anderen Seite aber hat erst die Unsicherheit der Literaturwissenschaft gegenüber ihrem eigenen Gegenstand zu so etwas wie der literaturtheoretischen Reflexion geführt. Denn die Differenz zwischen dem, was Literatur ist, und dem, was die Literaturwissenschaft mit ihr anstellt, bedeutet keineswegs, dass sich die Literaturwissenschaft jedes Wissen um ihren Gegenstand versagen muss. Die Konsequenz, die aus dem definitorisch prekären Status der Literatur zu ziehen ist, wäre eher eine umgekehrte: Als Wissenschaft geht es der Literaturwissenschaft selbstverständlich um ein bestimmtes Wissen von der Literatur. Allein deswegen kann sie sich als Wissenschaft rechtfertigen. Aber ihr Wissen ist zugleich von anderer Natur als das der Literatur selbst. Zwischen der Wissenschaft und der Literatur liegt eine Differenz, die nicht allein auf historische Ursachen zurückgeht, sondern die systematische Gründe hat.

Literaturtheorie als Reflexion von Differenz

Die systematische Reflexion der Differenz zwischen literarischen Texten und der Wissenschaft von der Literatur schreibt der Literaturtheorie ihren Gegenstandsbereich vor. Erst die Tatsache, dass sich die Literaturwissenschaft zu einem Gegenstand verhält, der sich von ihr als ihr ähnliches Anderes unterscheidet, macht es notwendig, über die Verfahren nachzudenken, die überhaupt denkbar sind, um sich der Literatur auf sinnvolle Weise zu nähern. Die Literaturtheorie trifft daher zunächst Aussagen über die Literatur, zugleich aber solche, die begründen sollen, was Literaturwissenschaft ist und wie sie sich im Unterschied zu anderen Formen des Wissens legitimieren kann. Ihre Aufgabe liegt vor allem darin, die letztlich nicht aufhebbare Differenz zwischen Literatur und Wissen zu reflektieren. Letztbegründungen über das Wesen der Literatur kann es daher nicht geben.

Die Auseinandersetzung mit der Literaturtheorie impliziert einen Abschied von lange geglaubten Selbstverständlichkeiten über das Wesen der Literatur, ohne dass gleich eine substantielle neue Auffassung über die Literatur an ihre Stelle treten müsste. Von daher verfügt die Literaturtheorie über ein heikles Selbstverständnis, das zwischen Melancholie und Ironie schwankt: Sie ist Trauer um den Verlust des Wesens des Literarischen und zugleich die ironische Distanzierung der wissenschaftlichen Definitionsversuche der Literatur.

Verzicht auf Letztbegründungen

Allerdings wäre die Literaturtheorie nur einseitig bestimmt, wollte man sie etwa im Sinne der Psychoanalyse als die durchgearbeitete Trauer um den Verlust dessen bezeichnen, was einmal für Literatur gehalten wurde. Dass die Literaturtheorie keine letztgültigen Erkenntnisse über ihren Gegenstand geben kann, kann ihr sicherlich als Schwäche angerechnet werden. Die Schwierigkeiten der Literaturtheorie, ihren eigenen Gegenstand zu bestimmen, führt daher immer wieder zu Klagen über ihre Haltlosigkeit. Gerade darin aber liegt ihre Stärke: Die Literaturtheorie entdeckt in ihrer Reflexion der Literatur, dass diese sich Letztbegründungen verweigert, weil das „Wesen“ der Literatur nicht existiert: „So etwas wie ein ‚Wesen‘ der Literatur gibt es schlichtweg nicht“ (Eagleton 1994a, 10). An die Stelle der lange vorherrschenden Idee, Wissenschaft habe es allein mit Letztbegründungen zu tun und die Literatur gehe auf ein geheimnisvolles Wesen des Literarischen zurück, tritt eine neue Form der Erkenntnis, die nicht das Wesen, sondern die Funktion der Literatur im Diskurs ihrer Zeit zu bestimmen versucht. Auch die neuen Ansätze zu einer Theorie der Literatur können sich allerdings nicht in der Vorstellung erschöpfen, Literatur sei nichts anderes als die Subversion aller systematischen Formen des Wissens. Zwar ist die Dekonstruktion diesen Weg gegangen, um einer „Fröhlichen Wissenschaft“ den Weg zu ebnen, der es nicht mehr um wissenschaftliche Sinnzusammenhänge geht, sondern um ein scheinbar von allen Zwängen freies Spiel zwischen Literatur und Theorie. Aber auch die de konstruktive Auffassung der Literatur als einer Form der Anti-Wissenschaft begnügt sich letztlich mit der bequemen Rückkehr zur Ausgangsthese, dass die Funktion der Literatur wissenschaftlicher Erkenntnis zuwiderlaufe und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr daher allein im Nachvollzug ihres Widerstandes gegen die Theorie (vgl. de Man 1987) bestehen kann. Die Erkenntnis, die die Literaturtheorie von ihrem Gegenstand gewinnen kann, ist zwar negativer Natur, wenn man unter Erkenntnis eine systematische Form des Wissens versteht. Im Rahmen eines erweiterten Erkenntnisbegriffes aber wäre die Leistung der Literaturtheorie wiederum von besonderer Natur: Es geht ihr zunächst nicht um die wissenschaftlich einholbare Eigengesetzlichkeit der Literatur, sondern um das Verstehen von Literatur als einem historischen und zugleich gegenwärtigen Phänomen.

Literatur und Geschichte

Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi sah daher noch 1962 „die unverminderte Gegenwärtigkeit auch noch der ältesten Texte“ (Szondi 1978a, 265) im Rahmen der Frage nach den Gesetzen philologischer Erkenntnis als Unterscheidungsmerkmal der Literaturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft an. Allerdings kann auch der Hinweis auf die Gegenwärtigkeit des Vergangenen, der die Literatur insbesondere im Kontext der Moderne auszeichne, an dieser Stelle nicht entscheidend weiterhelfen. Denn die Gegenwärtigkeit des Literarischen, von der Szondi ausgeht, wird durch die Geschichte nicht bestätigt, sondern vielmehr gebrochen. Die Geschichte der Literatur ist kein kontinuierlicher Fluss von Überlieferungen und Autorsubjekten, sie ist vielmehr der Ausdruck eines zwar geschichtlich differenzierten, dabei aber heterogenen und diskontinuierlichen Machtgefüges, in dem sich verschiedene historische Kräfte und Diskurse neutralisieren, ausschließen und gegenseitig hervorbringen. Der Literaturwissenschaft ist ein dynamisches Moment eigen (vgl. Szondi 1978a, 265), nicht bloß weil sie es mit einem in der Geschichte ständig sich verändernden Gegenstand zu tun hat, sondern weil die Literatur selbst ein dynamisches Gefüge von Kräften ist, die sich als solche nicht erklären, sondern nur als heterogenes Ganzes rekonstruieren lassen. Zwar ist der Gegenstand der Literaturtheorie, die Literatur, immer auf die Geschichte verwiesen, aber auf die Geschichte als einer kontingenten und letztlich nicht rational einholbaren Macht. Von daher stellt sich die Frage, wie sich die Literatur zur diskontinuierlichen Macht der Geschichte verhält, als eine der zentralen Aufgaben der Literaturtheorie.

Literatur als Gegendiskurs

Wenn es nicht die Gegenwärtigkeit des Vergangenen allein ist, die den Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Erkenntnis bestimmt, dann kann eine andere Bestimmung weiterhelfen: die von Literatur als einem historisch bestimmten „Gegendiskurs“ (Foucault 1974, 76). Mit „Gegendiskurs“ ist keineswegs gemeint, dass die Literatur eine „Subversion des Wissens“ (Foucault 1987) darstellt. Auch diese Auffassung vom Wesen der Literatur, die sich in zahlreichen poststrukturalistischen Ansätzen wiederfinden lässt, unterliegt letztlich einer Mystifizierung, etwa in dem Sinne, als könne die Literatur als eine ernsthafte Form der Widerlegung philosophischen oder historischen Wissens gelten. Die Rede vom Gegendiskurs der Literatur meint vielmehr, dass sich die Literatur in ihrer historischen Gebundenheit an eine Zeit, über deren Regeln sie nicht allein bestimmt, so verhält, dass sich ihre Existenz nicht allein aus den Regeln ergibt oder erklärt, die der Diskurs der Zeit ihr vorgibt. Das dynamische Moment der Literatur, das oft mit einer ihr geheimnisvoll innewohnenden Phantasietätigkeit verwechselt wird, ist daher nicht allein historisch, sondern zugleich systematisch bedingt: Es besteht in der Differenz, die die Literatur zum Diskurs ihrer Zeit einnimmt, einer Differenz, die sich nach Walter Benjamin historisch entfaltet, indem der Sachgehalt und der Wahrheitsgehalt eines Werkes in der Geschichte auseinandertreten (vgl. Benjamin 1980, I 125). Wenn der Begriff der philologischen Erkenntnis in der Literaturwissenschaft überhaupt noch einen Sinn haben kann, dann allein in der Form einer Anerkennung der Distanz, die die Literatur zu der in ihr dargestellten geschichtlichen Wahrheit einnimmt.

Aufgaben der Literaturtheorie

Vor diesem Hintergrund ist es evident, dass es keine systematische Definition der Literatur geben kann. Die Aufgabe der Literaturtheorie erschöpft sich weder in der Bestimmung des Wesens der Literatur noch in einer Darstellung der Vielzahl erlernbarer Methoden, die sich auf die Literatur anwenden ließen. Die Theorie der Literatur findet ihren Gegenstand nicht einfach vor und sie erfindet ihn nicht einfach neu. Was sie entdeckt, ist die Literatur als eine bestimmte historische Diskursform, die in Differenz zu anderen Diskursen tritt. Was die Literaturtheorie darüber hinaus entdeckt, ist die ihr eigene Form der Wissenschaftlichkeit, die sich in den traditionellen Formen des historischen und systematischen Wissens nicht erschöpfen kann, weil ihr Gegenstand in historischen und systematischen Bestimmungen letztlich nicht aufgeht. Der Literaturtheorie geht es um das Ganze der Literatur, aber um die Literatur als ein offenes Ganzes. Mit der Literatur ist auch die Literaturtheorie neu zu entdecken.

Einführung in die Literaturtheorie

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