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3. Historische Voraussetzungen

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Anfänge der Hermeneutik bei Platon

Die Frage nach dem Wesen der Literatur und den Möglichkeitsbedingungen ihres Verstehens ist so alt wie die Literatur selbst. Sie führt bis zu Homer und Platon zurück. In dem Dialog Ion fragt Sokrates den gleichnamigen erfolgreichen Rhapsoden nach dem Geheimnis seiner Kunst. Die Ausgangsvoraussetzung der sokratischen Frage nach dem Verhältnis des Rhapsoden Ion zum Dichter Homer lautet, dass es darum gehe, „seinen Sinn zu verstehen, nicht seine Worte nur […]. Denn es kann doch keiner ein Rhapsode sein, wenn er nicht versteht, was der Dichter meint; da ja der Rhapsode den Zuhörern den Sinn des Dichters überbringen soll, und dies gehörig zu verrichten, ohne einzusehen, was der Dichter meint, ist unmöglich“ (Platon 1957, Ion 530c). Damit formuliert Sokrates eine Prämisse, die für die Geschichte der Verstehenslehren der Literatur eine kaum zu überschätzende Bedeutung erlangen sollte: dass es dem Interpreten in einem hermeneutischen Akt der Übersetzung darum gehe, nicht das Wort, sondern den „Sinn“ der Rede zu verstehen.

Enthusiasmus und Vernunftlosigkeit des Dichters

Auf die kritische Frage, welche Form des Wissens den Rhapsoden zu seiner Auslegungskunst überhaupt erst befähige, hält Sokrates allerdings eine überraschende Antwort bereit. Es geschehe durch „eine göttliche Kraft, welche dich bewegt“ (Platon 1957, Ion 533d), jedenfalls nicht durch rationale Einsicht und Wissen. In der Argumentation des Sokrates, der die Kraft des Rhapsoden mit der eines Magneten vergleicht, die sich konzentrisch auf die Zuhörer ausbreite, erscheint Ions Redekunst als der Schlusspunkt eines komplexen Übertragungsprozesses, an dessen Ursprung die göttliche Beseelung des Dichters steht: „Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt“ (Platon 1957, Ion 534b). Dass Platon den Dichter in Vorwegnahme des modernen Geniegedankens als einen von Gott Besessenen darstellt, ist nur die eine Seite der Medaille. Ihre Kehrseite liegt in der Annahme von der Vernunftlosigkeit des Dichters. Beruht die künstlerische Leistung des Dichters auf der Übersetzung der göttlichen Kraft, die ihn bewegt, so geschehe dies auf eine Weise, die das Bewusstsein außer Kraft setze und die Vernunft übersteige. In Platons kritischer Darstellung erscheint die Dichtung zwar als eine Kunst, aber als eine solche, die über das eigene Tun keine Rechenschaft abzulegen vermag und sich dem Anspruch des philosophischen Wissens daher versagen muss.

Hermeneutik und Verstehen

Vor diesem Hintergrund kann der Dialog zwischen Ion und Sokrates gleich in doppelter Hinsicht als eine Ursprungsszene der modernen Hermeneutik begriffen werden. Die grundsätzliche Bedeutung der sokratischen Bestimmung der Hermeneutik hat Uwe Japp hervorgehoben. Sie liegt in der Definition der Hermeneutik als einer Form der Übersetzung begründet, die sich dem Vorrang des Sinns und Verstehens verschreibt. Im Blick auf den Ion formuliert Japp: „Dieser Beschreibung zufolge kommt es darauf an, nicht nur die Worte, sondern den Sinn eines Textes zu verstehen. Im Grunde gibt es kein anderes Problem der Hermeneutik“ (Japp 1977, 583). So plausibel diese Erklärung auch auf den ersten Blick erscheinen mag, so sehr verbirgt sich hinter ihr ein zweites, kritisches Argument. Denn indem Sokrates zeigt, dass Ion über den Sinn der Worte, die er an den Zuhörer weitergibt, selbst keine Rechenschaft abzulegen vermag, unterstreicht er zunächst nur, dass der hermeneutische Verstehensakt der rhetorischen Kunst Ions gegenüber fremd bleibt. In der kritischen Distanz zwischen der Literatur und dem Wissen von ihr, die sich in dem Streitgespräch zwischen Ion und Sokrates öffnet, liegt ein Problem beschlossen, das die hermeneutischen Positionen von Platon bis zu Gadamer betrifft: die Zentrierung der Hermeneutik auf den Zusammenhang von Sinn und Verstehen. Denn offenkundig geht es Ion, der Sokrates so gut es geht Rede und Antwort steht, gar nicht um eine Weise des sinnvollen Verstehens des Dichters, sondern um eine rhetorisch vermittelte Form der Erschütterung, die er an seine Hörer weiterzugeben versucht.

Der Streit zwischen Rhetorik und Hermeneutik

Die Tatsache, dass auch der performativen Rhetorik des Ion eine Form des Wissens zugrundeliegt, die sich mit der Kategorie des Verstehens nicht erfassen lässt, weist schon bei Platons Vorgriff auf die moderne Hermeneutik auf ihre Grenzen hin. Als Ursprungsszene der Hermeneutik steht Platons Dialog Ion zugleich an der Schnittstelle, an der der philosophische Logos und die rhetorische Macht des Wortes auseinandertreten. Hält die Literatur zwischen ihnen die Mitte, so allein deshalb, weil sie in einer Berührung mit der Philosophie und der Rhetorik steht, ohne doch in einer von ihnen aufzugehen. Mit dem Ion öffnet sich eine Kluft zwischen dem Wort der Dichtung und dem Wissen der Philosophie wie der Rhetorik, die zu überbrücken der Literaturtheorie bis heute aufgegeben ist.

Einführung in die Literaturtheorie

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