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2. Literaturtheorie heute

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Wellek/Warren: Was ist Literaturtheorie?

Der Hinweis auf die Differenz zwischen Literatur und Literaturwissenschaft als Grundlage der Literaturtheorie ist nicht neu. Schon René Wellek und Austen Warren beginnen ihre Theorie der Literatur 1949 mit der Bemerkung: „Man sollte zunächst einmal zwischen Literatur und Literaturwissenschaft unterscheiden. Beide sind verschiedene Betätigungen: die eine ist schöpferisch, also Kunst; die andere ist, wenn auch keine exakte Wissenschaft, so doch eine Art des Wissens oder der Gelehrsamkeit“ (Wellek/Warren 1985, 11). Nichts könnte die Umwälzungen der Literaturtheorie in den letzten Jahrzehnten jedoch besser veranschaulichen als die Einschränkungen, die Welleks und Warrens scheinbar selbstverständliche Behauptung im Laufe der Zeit hat erfahren müssen.

Neue Literaturtheorien

Denn im Kontext der „Neuen Literaturtheorien“ (Bogdal 1997), die sich insbesondere seit Mitte der sechziger Jahre durchgesetzt haben, erscheint Literatur nicht länger nur als Kunst, sondern auch als eine Form des Wissens, Literaturwissenschaft nicht nur als Wissen, sondern auch als eine Form der Kunst. Die Revision der strikten Trennung von Literatur und Theorie der Literatur hat etwas mit der geschichtlichen Veränderung des in Frage stehenden Gegenstandes zu tun: Es ist etwas anderes, wenn man Literatur als eine autonome Kunstschöpfung versteht, die letztlich auf die Genialität ihres Urhebers zurückgehe, wie Wellek und Warren es noch voraussetzen, oder wenn man sie als eine rhetorische oder diskursive Praxis versteht, die sich Bedingungen verdankt, über die die Literatur selbst nicht frei verfügt. Die Methodenvielfalt der Literaturwissenschaft führt zu Differenzen in der Sache, die letztlich in einen Streit münden, der die Frage nach der Berechtigung der unterschiedlichen Methoden selbst betrifft. Geht die Theorie der Literatur einerseits von einem liberalen Pluralitätsprinzip aus, demzufolge es nicht die eine richtige, sondern viele unterschiedliche Bedeutungen und Interpretationen eines Textes gibt, so stellt sich andererseits die Frage nach dem „Königsweg“ zur Literatur nicht notwendig als die nach den Möglichkeiten der Interpretation auf der Suche nach der einen oder den vielen Wahrheiten des Textes. Infrage steht vielmehr der heute überhaupt noch mögliche Zugang zu literarischen Texten – ein Zugang, der sich nicht auf die hermeneutische Erschließung der unterschiedlichen Sinndimensionen des Textes beschränken muss, sondern die Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Missverstehens, die Gewalt der Interpretationen und die Abhängigkeit der Literatur von anderen Diskursen mit einschließen kann.

Streit der Interpretationen

Die unterschiedlichen Auffassungen über das, was Literatur ist und das, was Literaturtheorie zu sein hat, münden mit dem „Streit der Interpretationen“ (Eco 1987) somit letztlich in die Frage, ob die legitime Methode der Literaturtheorie überhaupt noch Interpretation heißen kann – ein Problem, von dem die einen annehmen, es konstituiere erst die Literaturtheorie als eigenständige Disziplin, von dem die anderen aber meinen, es impliziere die Auflösung der Literaturwissenschaft als Wissenschaft. Will das Wort Streit in diesem Kontext ernstgenommen werden, so steht mit dem Streit der Interpretationen die Frage nach der Literatur wie die nach dem möglichen Wissen von Literatur auf dem Spiel: Indem die Theorie nach dem fragt, was Literatur ist, stellt sie zugleich sich selbst und ihr eigenes Wissen zur Disposition. Dass die ständig sich selbst überprüfende Reflexionsbereitschaft der Literaturtheorie fast zwangsläufig zu der Frage führt, ob der Literaturwissenschaft durch die starke Theorieorientierung der letzten Jahrzehnte nicht ihr Gegenstand abhanden komme (vgl. Barner 1998), zeugt weniger von der vielbeschworenen Krise einer scheinbar veralteten akademischen Disziplin als vielmehr von der unaufhörlichen Dringlichkeit ihrer Fragen.

Krise und Aktualität der Literaturtheorie

Die permanente Krise der Literaturwissenschaft lässt sich nicht auf die Selbstvergessenheit der Literaturtheorie zurückführen, die in der narzisstischen Spiegelung ihrer Möglichkeiten zugleich ihres Gegenstandes verlustig gehe, ohne dass durch die Kritik an ihrer Fragestellung die Literaturtheorie in ihren eigenen Möglichkeiten nicht doch bestätigt würde. Denn indem sie nach der Literatur und dem möglichen Wissen von der Literatur fragt, öffnet die Literaturtheorie erst den Horizont, innerhalb dessen von einer Krise der Literaturwissenschaft überhaupt die Rede sein kann. „Keine Leserin und kein Leser kann ‚theoriefrei’ Literatur lesen, geschweige denn interpretieren“ (Köppe/Winko 2008, 1) stellen Tilmann Köppe und Simone Winko fest, und auch Oliver Jahraus beginnt seine Einführung in die Literaturtheorie mit der Forderung: „Im Grunde muss sich jeder, der Literaturwissenschaft studiert, die Doppelfrage stellen, die die Literatur stellt: Was ist Literatur, und was heißt es, sie zu interpretieren?“ (Jahraus 2004, 1) Die Literaturtheorie erweist sich so als Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaftlichkeit in der schwierigen Disziplin der Literaturwissenschaft. Noch die Kritik an der Literaturtheorie bestätigt die Unabweisbarkeit ihrer Fragen und die Notwendigkeit, den theoretischen Anstrengungen nachzugehen, die die letzten Jahrzehnte bestimmt haben.

Einführung in die Literaturtheorie

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