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8. Walter Benjamin und die Aufgabe der Kritik

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Nietzsche und Benjamin

Neben Nietzsche sind wohl von kaum einem ästhetischen Denker der Moderne so viele Anregungen für die Theorie der Literatur ausgegangen wie von Walter Benjamin. Die herausragende Stellung Benjamins in der Geschichte der Ästhetik liegt vor allem in der Vielfältigkeit seines Ansatzes begründet, der philologische, philosophische und medientheoretische Probleme miteinander zu verbinden sucht.

Der Begriff der Kritik

Der leitende Begriff von Benjamins Arbeiten ist der der Kritik (vgl. Opitz/Wizisla 2000, 479–523). Schon der Titel seiner Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik weist auf die zentrale Bedeutung des Begriffes der Kritik für Benjamin hin. An der frühromantischen Ästhetik, insbesondere an Novalis und Schlegel, arbeitet Benjamin in einer problemgeschichtlichen Untersuchung die Bedeutung der Kunstkritik als Grund der ästhetischen Erkenntnis heraus. In dem Maße, in dem Benjamin Kritik als Erkenntnis des Kunstwerks gilt, begreift er in Übereinstimmung mit der Frühromantik Kritik nicht als „die Beurteilung eines Werkes“, sondern vielmehr „als die Methode seiner Vollendung“ (Benjamin 1980, I 69). Wie Friedrich Schlegel tendiert Benjamin dazu, die Differenz zwischen Literatur und Theorie aufzuheben: In einem genuin poeto logischen Ansatz verschmelzen bei ihm die praktische und die theoretische Dimension der Literatur wieder zu einer Einheit. Vor diesem Hintergrund weist Benjamin am Beispiel der frühromantischen Ästhetik die Momente der Reflexion, der Form und der Ironie als zentrale Kategorien moderner Ästhetik nach. Im Unterschied zu Hegel deutet Benjamin die romantische Ironie nicht als Zeichen leerer Subjektivität, sondern als Ausdruck einer absoluten poetischen Reflexion, die sich in der Kritik entfalte und in der Form erfülle. Seinen problemgeschichtlichen Ansatz führt Benjamin an einer Studie zu Goethes Wahlverwandtschaften weiter aus, an denen er die Verwobenheit von mythischer Schicksalsordnung und geschichtlichem Erlösungszusammenhang aufzeigt. Die Aufgabe der Kritik deutet Benjamin dort einleitend als die Erkenntnis des Wahrheitsgehalts eines Kunstwerks, der er den Kommentar als Gewinnung des Sachgehalts entgegenstellt (vgl. Benjamin 1980, I 125–127).

Barock und Moderne

Dass es der Zusammenhang von Kritik und Wahrheit ist, der Benjamins Werk leitet (vgl. Geisenhanslüke 2001b), beweist vor allem sein Trauerspielbuch. In seiner abgelehnten Habilitationsschrift aus dem Jahre 1928 über den Ursprung des deutschen Trauerspiels entwirft Benjamin eine Kritik der klassischen deutschen Ästhetik, der er das von zahlreichen Spannungen geprägte Bild des Barock entgegenstellt. So konstatiert das Trauerspielbuch einleitend die „Aktualität des Barock nach dem Zusammenbruch der deutschen klassizistischen Kultur“ (Benjamin 1980, I 235). Vom Zusammenbruch des Klassizismus spricht Benjamin vor allem im Kontext von Tendenzen moderner Kunst wie dem Expressionismus. Die neue Aktualität des Barock und die avantgardistische Moderne dienen ihm als doppelter Anhaltspunkt für die geschichtsphilosophische Diagnose, dass sich der Geist des Klassischen erschöpft habe. Vor diesem Hintergrund entfaltet das Trauerspielbuch eine grundlegende Revision des Klassizismus im Zeichen von barocker Allegorie und Melancholie. Der wesentliche Ansatzpunkt von Benjamins kunsttheoretischen Überlegungen im Trauerspielbuch ist die Kritik des Symbols:

Seit mehr als hundert Jahren lastet auf der Philosophie der Kunst die Herrschaft eines Usurpators, der in den Wirren der Romantik zur Macht gelangt ist. Das Buhlen der romantischen Ästhetiker um glänzende und letztlich unverbindliche Erkenntnis eines Absoluten hat in den simpelsten kunsttheoretischen Debatten einen Symbolbegriff heimisch gemacht, der mit dem echten außer der Bezeichnung nichts gemein hat (Benjamin 1980, I 336).

Kritik des Symbolischen

Die Vormachtstellung, die das Symbol in den Ästhetiken des 18. Jahrhunderts erlangt hat, stellt Benjamin als das Ergebnis eines geschichtlichen Missverständnisses dar, das nun korrigiert werden soll. Der Nachweis der Bedeutung der Allegorie für das Barock und für die moderne Kunst, der sich vor allem in Benjamins Studien zur allegorischen Form bei Baudelaire zeigt (vgl. Menninghaus 1980, 134–178), lässt die Herrschaft des Symbolischen als ein mehr als hundert Jahre dauerndes Interregnum erscheinen, dem nun ein Ende gesetzt wird.

Allegorie und Symbol

Benjamin vollzieht im Trauerspielbuch jedoch mehr als eine bloße Umkehrung der Kräfteverhältnisse, die im 18. Jahrhundert zum Verschwinden der Allegorie und zum Erfolg des Symbolischen geführt haben. Zwar betont auch Benjamin, dass der Gegensatz von Allegorie und Symbol sich „eindringlich und formelhaft“ (Benjamin 1980, I 343) darstellen lasse. Der Hinweis auf die Formelhaftigkeit des Gegensatzes deutet jedoch bereits an, dass Benjamin an einer strikten Entgegensetzung von Allegorie und Symbol im Trauerspielbuch nicht interessiert ist. Vielmehr hält er trotz seiner Kritik am kunsttheoretischen Symbolbegriff des 18. und 19. Jahrhunderts an einer grundsätzlichen Bedeutung des Symbolischen fest (vgl. Steinhagen 1979, 674). Auf eine positive Wertung des Symbolischen deutet der Hinweis auf einen „echten“ Symbolbegriff, mit dem der kunsttheoretische „außer der Bezeichnung nichts gemein hat.“ Diesen stellt Benjamin in den Umkreis der Theologie. „Der nämlich, zuständig in dem theologischen Bereiche, vermöchte nie und nimmer in der Philosophie des Schönen jene gemütvolle Dämmerung zu verbreiten, die seit dem Ende der Frühromantik immer dichter geworden ist“ (Benjamin 1980, I 336). Benjamin unterscheidet im Trauerspielbuch zwischen einem kunsttheoretischen und einem theologischen Symbolbegriff. Seiner Metapher des „Usurpators“ zufolge hat das Symbol mit der Kunst nicht nur einen ihm fremden Boden besetzt, es hat mit der Theologie zugleich den ihm angestammten verloren. Benjamins Intention liegt im Trauerspielbuch entsprechend nicht allein in der Kritik der ästhetischen Theorie des Symbols, sondern parallel dazu im Aufweis der Bedeutung des theologischen Symbolbegriffs.

Zerfall der Aura

Steht die Aufwertung der Allegorie, die von der Dekonstruktion auf produktive Weise aufgenommen werden konnte (vgl. Haverkamp 1994, Menke 1991), im Trauerspielbuch in einer unaufgelösten Spannung von philologischen, philosophischen und theologischen Momenten, so beschreitet Benjamin im Zuge einer umstrittenen marxistischen Wende seines Denkens in seiner Schrift über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit neue Wege. Kritisch bleibt Benjamins Philosophie auch in diesem Falle: Der Autonomie des Ästhetischen in der Moderne stellt Benjamin nun den Warencharakter der modernen Kunst entgegen. Die die Ästhetik bisher leitenden Begriffe wie Genie, Schöpfertum und Ewigkeitswert der Kunst weist Benjamin zugunsten der Beobachtung des Zerfalls der Aura der modernen Kunst zurück. „Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura“ (Benjamin 1980, I 438). Mit dem für seine späte Theorie der Literatur zentralen Diktum vom Verlust der Aura bezeichnet Benjamin die neuen mediengeschichtlich bedingten Veränderungen des Kunstwerks in Berufung auf Marx als „Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen“ (Benjamin 1980, I 435), die sich in innovativen künstlerischen Formen wie Fotografie und Film niederschlagen: Benjamins bisweilen fast agitatorisch anmutende Thesen zielen entsprechend auf eine neue Bestimmung moderner Kunst ab, die nicht länger allein der ästhetischen Tradition verpflichtet sein will, sondern die zugleich die Frage nach der technischen Entwicklung der Medien und deren Bedeutung für die Kunst in den Reflexionsprozess miteinbezieht.

Medientheoretische Ansätze bei Benjamin

Damit hat Benjamin die Grundlage für Überlegungen zur Kunst und Literatur gelegt, die den traditionellen Horizont der Ästhetik überschreiten und zugleich in die Richtung einer modernen Medientheorie weisen.

Einführung in die Literaturtheorie

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