Читать книгу Einführung in die Literaturtheorie - Achim Geisenhanslüke - Страница 17
7. Zwischen Realismus und Moderne: Georg Lukács
ОглавлениеMarxistische Ansätze in der Ästhetik
So unterschiedlich die philosophischen Ansätze von Nietzsche, Freud und Heidegger im einzelnen auch sein mögen, so sehr schreiben sie sich in die Geschichte der Anstrengungen ein, in dem von Hegel diagnostizierten Vernunftzusammenhang der Moderne eine Kraft sichtbar zu machen, die sich der Rationalisierung entzieht und darin auf ein archaisches Ursprungsmoment zurückverweist. Nach der problematischen Vollendung der idealistischen Ästhetik durch Hegel wurde für Autoren wie Lukács, Bloch, Benjamin und Adorno jedoch ein ganz anderer Denker wichtiger als Nietzsche, Freud oder Heidegger: Karl Marx. Mit Marx klagen Lukács und Adorno den dialektischen Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft gegen die Autonomieästhetiken des 18. und 19. Jahrhunderts ein. Zu den grundsätzlichen Ansprüchen ihrer Ästhetik zählt der Versuch, die Einsicht in den partikularen Charakter der modernen Kunst nach Hegel mit dem Gedanken der ästhetischen Autonomie seit Kant zu vereinbaren. Dass der Versuch einer Vermittlung von Kunst und Gesellschaft, von Autonomie und Partikularität der Kunst, bei Lukács, Benjamin und Adorno unterschiedlich ausgefallen ist, beweist zugleich, dass sich hinter dem scheinbar einheitlichen Bild einer kritischen Ästhetik der Moderne eine Vielzahl von widerstreitenden Positionen verbirgt, die sich nicht einfach miteinander vereinbaren lassen (vgl. Wiggershaus 1988, Jay 1991).
Lukács zwischen Nietzsche und Marx
In ähnlicher Weise wie für Walter Benjamin war für Georg Lukács Marx nicht von Beginn an der wesentliche Ansprechpartner. Lukács’ Werk ist vielmehr von der Spannung zwischen einer rein ästhetisch bestimmten Frühphase und einer marxistisch bestimmten Haupt- und Spätphase gekennzeichnet (vgl. Jung 1989). In der Frühschrift Die Seele und die Formen (1911) bestimmt der junge Lukács die Kunst in der Tradition Nietzsches lebensphilosophisch. Wie er im Hinweis auf Kierkegaard, George u.a. erläutert, liegt die Funktion der Kunst vor allem in der Bewältigung des Lebens: In der Geschlossenheit der ästhetischen Form erreicht das Dasein eine Stufe der Vervollkommnung, die ihm sonst versagt bleibt. In der Theorie des Romans (1916/1920) reflektiert Lukács darüber hinaus in einem geschichtsphilosophischen Versuch auf die Differenz zwischen dem antiken Epos und dem modernen Roman. In der Wiederholung der Kategorien, die Hegel in Anschlag gebracht hatte, um den heroischen Geist der Antike von der Prosa der Moderne abzusetzen, bestimmt Lukács die Antike als ein Zeitalter der ganzheitlichen Geschlossenheit, die Moderne hingegen als eine Zeit der Zerrissenheit, die von der Kunst reflektiert werde: „Der Kreis, in dem die Griechen metaphysisch leben, ist kleiner als der unsrige: darum können wir uns niemals in ihn lebendig hineinversetzen: besser gesagt: der Kreis, dessen Geschlossenheit die transzendentale Wesensart ihres Lebens ausmacht, ist für uns gesprengt; wir können in einer geschlossenen Welt nicht mehr atmen“ (Lukács 1989, 25). Damit stellt Lukács den modernen Roman in die Spannung von realem Lebensverlust und utopischem Ganzheitsstreben: „Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat“ (Lukács 1989, 47).
Epos und Roman
Als Ausdruck einer „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Lukács 1989, 32) müsse der Versuch einer utopischen Epik in der Moderne jedoch scheitern, weil er die Form der Prosa entweder ins Dramatische oder ins Lyrische transzendiere. Am Beispiel von Cervantes, Goethe, Flaubert und Tolstoi diskutiert Lukács die Ausgangsvoraussetzungen moderner Prosa im Zeichen der Spannung zwischen ästhetischer Autonomie und zeitlich bedingter Partikularität. Darin bleibt er weit mehr der Lebensphilosophie Bergsons und Diltheys als der dialektischen Philosophie von Marx verpflichtet.
Kunst und Gesellschaft
Das ändert sich jedoch in den zwanziger Jahren. Zwar hält Lukács weiterhin an der geschichtsphilosophisch bestimmbaren mimetischen Funktion der Kunst fest. Er deutet die Kunst nun aber nicht mehr lebensphilosophisch als den artistischen Versuch zur Bewältigung der Zerrissenheit der Moderne, sondern er überträgt in einem nunmehr materialistisch gewendeten Ansatz Marx’ Begriff der Verdinglichung auf die Kunst als Ausdruck gesellschaftlicher Produktionszusammenhänge. Dem Zusammenhang von Gesellschaft, Geschichte und Mimesis entsprechend ist Lukács’ Auffassung der Kunst vor allem an der realistischen Kunst und insbesondere der Prosa des 19. Jahrhunderts ausgerichtet, in der er eine adäquate Spiegelung der Zeit in der Form der Kunst erkennt. Diese Bevorzugung des realistischen Romans und des mimetischen Charakters der Kunst hat Lukács immer wieder den nicht ganz unberechtigten Vorwurf eingetragen, er vertrete letztlich eine antimoderne Theorie der Kunst. Trotz dieser grundsätzlichen Einschränkungen kann Lukács jedoch unbestritten „als einer der bedeutendsten Theoretiker dieses Jahrhunderts gelten […], dem noch im Widerspruch andere Konzeptionen und Systeme sehr viele Anregungen und Impulse verdanken“ (Schneider 1996, 166).