Читать книгу Einführung in die Literaturtheorie - Achim Geisenhanslüke - Страница 16
6. Die Kunst als das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit: Martin Heidegger
ОглавлениеKunst und Sein
Wie Freud, so ist auch Heidegger kein genuin ästhetischer Denker. Wie bei Nietzsche aber gewinnt für Heidegger die Ästhetik im Kontext einer umfassenden Kritik der abendländischen Rationalität zunehmend an Bedeutung. Gilt Heideggers Interesse vorrangig der Wiedergewinnung der seit der aristotelischen Ontologie vergessenen Seinsfrage, so erscheint ihm die Kunst als eine bevorzugte Weise, zu der in der Geschichte der Metaphysik verschütteten Frage nach dem Sein einen neuen Zugang zu gewinnen. Den metaphysikkritischen Prämissen seiner Philosophie folgend ist Heideggers Zugang zur Kunst ein ontologischer. An die Kunst stellt Heidegger die Ursprungs- und mit ihr die Wesensfrage: „die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerkes wird zur Frage nach dem Wesen der Kunst“ (Heidegger 1980, 2). Stellt die metaphysische Frage nach Ursprung und Wesen des Kunstwerkes Heidegger zunächst in die philosophische Tradition zurück, so macht sich der ontologische Ansatz seines Denkens vor allem in der Überführung der Wahrheitsfrage auf das Gebiet der Kunst bemerkbar.
Kunst und Wahrheit
„So wäre denn das Wesen der Kunst dieses: das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden“ (Heidegger 1980, 21). Damit wird die Kunst zu einem privilegierten Ort der Wahrheit, wenn auch Heideggers enigmatische Äußerungen offen lassen, welcher Zusammenhang zwischen der Wahrheit des Seienden und der Wahrheit des Seins in der Kunst genau bestehen soll. Die Definition der Kunst als das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit verweist die Ästhetik an eine sie übergreifende philosophische Wahrheitstheorie, die Heideggers Denken insgesamt bestimmt.
Kunst und Dichtung
So wenig selbstverständlich die Übertragung der ontologischen Wahrheitsfrage auf die Kunst ist (vgl. Tugendhat 1970), so wenig selbstverständlich ist die Deutung der Literatur, die Heidegger im Kontext seiner Seinsphilosophie vornimmt. Wie schon Kant und Hegel geht er zunächst von einem Vorrang der Dichtkunst vor den anderen Künsten aus. „Alle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung“ (Heidegger 1980, 58), daher habe „das Sprachwerk, die Dichtung im engeren Sinne, eine ausgezeichnete Stellung im Ganzen der Künste“ (Heidegger 1980, 59). Der Grund für die bevorzugte Stellung der Dichtung im System der Künste liegt in ihrer Sprachlichkeit. In dem Maße, in dem Heidegger die Sprache als einen privilegierten Zugang zum Sein deutet, gewinnt auch die Literatur für ihn an Bedeutung. Dabei sieht Heidegger in der Sprache jene Bewegung am Werk, die er auch dem antiken Wahrheitsmodell unterstellt: die Lichtung des Seins als Stiftung der Wahrheit: „Das Wesen der Kunst ist die Dichtung.
Hölderlin und die Stiftung des Seins
Das Wesen der Dichtung aber ist die Stiftung der Wahrheit“ (Heidegger 1980, 61), formuliert Heidegger im Blick auf Hölderlin, „weil Hölderlins Dichtung von der dichterischen Bestimmung getragen ist, das Wesen der Dichtung eigens zu dichten. Hölderlin ist uns in einem ausgezeichneten Sinne der Dichter des Dichters“ (Heidegger 1996, 34). Anhand der tendenziell mystifizierenden Bestimmung Hölderlins zum Inbegriff des Dichters gesteht Heidegger der Literatur die Stiftung des Seins zu, die der philosophischen Tradition seit der griechischen Antike verwehrt geblieben sei. In ähnlicher Weise wie in Nietzsches Theorie der griechischen Tragödie wird die Dichtung Hölderlins für Heidegger zu dem Ort, an dem sich die Dissoziation der logischen Rationalität durch die Kunst zugleich als Wiedergewinnung einer archaischen Wahrheitsdimension vollzieht. Die Stiftung des Seins geschieht im Rahmen eines dichterischen Sprachmodus, der über jene Souveränität verfügt, die allein der Unverborgenheit des Seins zukommt. Mit dem dunklen Satz „Die Sprache spricht“ (Heidegger 1990, 12) greift Heidegger auf die Idee einer souveränen Selbstermächtigung der Sprache zurück, die im Rahmen der postmodernen Literaturtheorien zugleich als Ausdruck eines selbstreferentiellen Sprachverhältnisses gelesen werden konnte, aus dem jede Form der Subjektivität ausgeschlossen ist.