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5. Literatur und Unbewusstes: Sigmund Freud

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Psychoanalyse und Kunst

Nicht zuletzt aufgrund des lange verborgen gebliebenen Einflusses, den Nietzsche auf das psychoanalytische Denken ausgeübt hat, ist seine Philosophie immer wieder mit der Freuds verglichen worden (vgl. Assoun 1998). Im Unterschied zu Nietzsche ist Freud jedoch kein genuin ästhetischer Denker. Im Mittelpunkt von Freuds Theorie stehen nicht Fragen der Ästhetik, sondern das Problem der menschlichen Psyche im Zeichen des Unbewussten. Bereits die Tatsache, dass Freud mit der für seine Theorie der menschlichen Psyche zentralen Figur des Ödipus auf eine mythische Gestalt der griechischen Tragödie zurückgreift, macht aber deutlich, dass die Psychoanalyse über tiefgehende Affinitäten zu Kunst und Literatur verfügt, die zugleich zu einer spezifisch psychoanalytischen Form der Ästhetik geführt haben, die Freud mit seinen Überlegungen zu Jensen, Leonardo da Vinci, Shakespeare, Goethe und E. T. A. Hoffmann noch selbst initiiert hat (vgl. Starobinski 1973).

Dichtung und Phantasie

Die Gestalt, die die Ästhetik in der Psychoanalyse angenommen hat, ist eine doppelte. Einerseits setzt Freud in der Tradition der ästhetischen Theorien der Einbildungskraft seit Kant die Begriffe des Spiels und der Phantasie an den Ursprung der dichterischen Tätigkeit (vgl. Koppe 1983, 90). „Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d.h. mit großen Affektbeträgen ausstattet, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert“ (Freud 1999, GW VII, 214). Mit dieser Bestimmung lässt sich Freud von der alten Unterscheidung zwischen Phantasie und Wirklichkeit leiten: Parallel zur Erfahrungswelt des Kindes stellt Freud die Arbeit des Dichters in eine Analogie zum Phänomen des Tagtraumes, derzufolge die dichterische Welt Ausdruck verborgener Wunscherfüllungen ist, die sich in der Realität nicht durchsetzen lassen, in der Welt des ästhetischen Scheins jedoch ohne Hindernisse durchgespielt werden können. Begriffe aus der dramatischen Tradition wie Lustspiel, Trauerspiel und Schauspieler dienen Freud als Anhaltspunkte für die These vom spielerischen Charakter der Dichtung. Im Mittelpunkt der dichterischen Welt wie der des Tagtraumes sieht Freud dabei „Seine Majestät das Ich“ (Freud 1999, GW VII, 220): Realer Triebverzicht wird durch eine fiktionale Form der Wunscherfüllung kompensiert. Insbesondere im modernen psychologischen Roman erkennt Freud Tendenzen, die in die Richtung einer verborgenen Form der Wunscherfüllung weisen, in der Verdrängung und Sublimierung Hand in Hand gehen. Die Analogie von Dichtkunst und Tagtraum öffnet zugleich das Feld für eine psychoanalytische Betrachtung der Kunst, die in biografischer Absicht aus dem Leben des Dichters Rückschlüsse über sein Werk und aus seinem Werk Rückschlüsse über sein Leben zu gewinnen versucht (vgl. Altenhofer 1982).

Freud und Goethe

Ein Beispiel für eine psychoanalytische Deutung der Literatur hat Freud 1917 in einer Untersuchung über eine Kindheitserinnerung aus Goethes Dichtung und Wahrheit gegeben. Eine relativ beiläufige Passage aus Goethes Autobiografie, derzufolge Goethe im Alter von drei oder vier Jahren eine große Menge Geschirr aus dem Fenster auf die Straße geworfen und dadurch zerbrochen hat, dient Freud als Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung mit Goethe. Freud, der sich den Sinn der Handlung zunächst nicht recht erklären kann, deutet das Zerbrechen des Geschirrs mit Hilfe einer Rekonstruktion von Goethes Familiengeschichte anhand der Geburten seiner meist früh verstorbenen Geschwister als eine Abwehr der Geburt des Bruders Hermann Jakob und zugleich als einen späten Triumph des Überlebenden: „Wenn wir nun zur Kindheitserinnerung Goethes zurückkehren und an ihrer Stelle in ‚Dichtung und Wahrheit‘ einsetzen, was wir aus der Beobachtung anderer Kinder erraten zu haben glauben, so stellt sich ein tadelloser Zusammenhang her, den wir sonst nicht entdeckt hätten. Es heißt dann: Ich bin ein Glückskind gewesen; das Schicksal hat mich am Leben erhalten, obwohl ich für tot zur Welt gekommen bin. Meinen Bruder aber hat es beseitigt, so daß ich die Liebe der Mutter nicht mit ihm zu teilen brauchte“ (Freud 1999, GW XII, 26). Aus psychoanalytischer Sicht gelingt es Freud damit, in Übereinstimmung mit den Gesetzen der traditionellen Hermeneutik eine zunächst sinnlos erscheinende Textpassage aus Goethes Autobiografie plausibel zu machen. Gleichwohl zeigt Freuds Interpretation, dass der psychoanalytische Zugriff auf literarische Phänomene einerseits zu sehr der vollständigen Entzifferung des zunächst Unverständlichen vertraut und andererseits gefährlich in die Nähe biografischer Deutungen rückt.

Dichtung und Traumarbeit

Die Analogie von Dichtung und Traum reicht aber weiter, als es die psychoanalytische Biografik und Neurosenlehre als neues Genre der Literaturgeschichtsschreibung vermuten lässt. In der Traumdeutung hatte Freud die zentrale Kategorie der „Traumarbeit“ durch die Momente der Verdichtung, der Verschiebung und der Rücksicht auf Darstellbarkeit zu erklären versucht und den Traum insgesamt als eine Form der Entstellung begriffen, die auf den Unterschied von manifestem und latentem Trauminhalt zurückgeht: Freud zufolge drückt der Traum auf der manifesten Ebene einen verborgenen Wunsch aus, der nur in einer durch die Zensur bedingten Form der indirekten Darstellung sichtbar werden kann. Indem er die Momente der Verdichtung, der Verschiebung und der Rücksicht auf Darstellbarkeit ins Zentrum der Traumarbeit stellt, etabliert Freud eine Analogie zwischen Traumarbeit und literarischer Praxis, die sich nicht auf die biografische Ebene beschränkt: So wie die komplementären Momente der Verdichtung und der Verschiebung, die der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan auf die rhetorischen Momente von Metapher und Metonymie zurückgeführt hat (vgl. Lacan 1991b), als Bestandteile einer komplexen Übersetzungsleistung des Traumes erscheinen, so wäre auch der literarische Text im psychoanalytischen Sinne als eine indirekte und tendenziell überdeterminierte Form der Sprache zu begreifen, die über eine latente und eine manifeste Ebene verfügt:

Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennen lernen sollen. Die Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind (Freud 1999, GW II/III, 283f.).

Hermeneutik und Dekonstruktion bei Freud

Was Freud am Traum aufzeigt, gilt ebenso für den literarischen Text: dass dieser zwei Ebenen kennt, von denen die eine die unbewusste Umschrift der anderen ist. Traumdeutung und Literaturwissenschaft finden ihr Gemeinsames in der Frage nach dem Unbewussten, das in dem Geträumten und Geschriebenen regiert. Freud hat damit nicht nur ein faszinierendes Modell des Traumes erstellt, das sich auch für die Struktur literarischer Texte als aussagekräftig erwiesen hat. Mit dem Begriff der Traumarbeit hat er Anstöße sowohl für die moderne Hermeneutik als auch für die dekonstruktive Theorie der Literatur gegeben, denen zufolge der literarische Text über eine verborgene Tiefendimension verfügt, die auf einen ursprünglichen Sinn (vgl. Ricœur 1974) zurückführt oder aber ein Moment der sprachlich bestimmten Differenz (vgl. Derrida 1972) zutagefördert, das die Bilderschrift des Trauminhaltes als den ständigen Entzug des manifest werdenden Sinnes plausibel zu machen versucht. In ähnlicher Weise wie Nietzsche kann Freud damit für sich beanspruchen, einer der entscheidenden Vordenker moderner Literaturtheorien zu sein.

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