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9. Kunst und Gesellschaft: Theodor W. Adorno

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Autonomie der Kunst und fait social

Bestimmt der Versuch einer Vermittlung zwischen der Autonomie der Kunst und ihrer gesellschaftlichen Funktion schon das Denken von Lukács und Benjamin, so kann Adornos posthum erschienene Ästhetische Theorie als der letzte Versuch zu einer Begründung der Ästhetik in der Tradition Kants und Hegels gelten. Ausgangspunkt von Adornos Überlegungen ist der „Doppelcharakter der Kunst als autonom und als fait social“ (Adorno 1973, 16). Dabei geht Adornos dialektisches Denken von einer doppelten Bestimmung ästhetischer Autonomie aus: Autonom sei das Kunstwerk in der ihm zugrundeliegenden Negation empirischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit, als Negation des Empirischen sei Kunst aber zugleich vom Wirklichen bestimmt. Entsprechend prekär sei der Status moderner Kunst zwischen dem eigenen Anspruch auf Souveränität und der Partikularität des Ganzen: „Denn die absolute Freiheit in der Kunst, stets noch einem Partikularem, gerät in Widerspruch zum perennierenden Stande von Unfreiheit im Ganzen. In diesem ist der Ort der Kunst ungewiß geworden“ (Adorno 1973, 9). In diesem ungewissen Status verbindet sich für Adorno mit der Kunst ein utopischer Anspruch: der, im falschen Ganzen das Wahre als Negation des Bestehenden zu retten. „Die Wahrheit der Kunstwerke haftet daran, ob es ihnen gelingt, das mit dem Begriff nicht Identische, nach dessen Maß Zufällige in ihrer immanenten Notwendigkeit zu absorbieren“ (Adorno 1973, 155).

Wahrheit und Schein

Rettung von Wahrheit sind Kunstwerke, wie Adorno im Anschluss an Benjamin emphatisch formuliert, aufgrund ihres Scheincharakters, der dem gesellschaftlichen Sein ein unbestimmtes Anderes entgegenhält: „Darum wäre das Zentrum von Ästhetik die Rettung des Scheins“ (Adorno 1973, 164), hält Adorno fest, um mit dem für seine Theorie zentralen Begriff des Scheins die Negation des Wirklichen zur Grundlage der Kunst zu erheben: „Schein sind die Kunstwerke dadurch, daß sie dem, was sie selbst nicht sein können, zu einer Art von zweitem, modifiziertem Dasein verhelfen; Erscheinung, weil jenes Nichtseiende an ihnen, um dessentwillen sie existieren, vermöge der ästhetischen Realisierung zu einem wie immer auch gebrochenen Dasein gelangt“ (Adorno 1973, 167). Im Lichte dieser Utopie, die gerade in der gebrochenen Autonomie des Kunstwerks ihr Recht erkennt, begreift Adorno Kunst als Korrektur am philosophischen Begriff und an der Trennung von Subjekt und Objekt, die der Geschichte der Philosophie zugrundeliege. Im Rahmen von Adornos ästhetischer Theorie wird die Kunst zum Statthalter des Absoluten, wenn man unter diesem eine Form des Wirklichen verstehen will, das von gesellschaftlichen Zwängen frei wäre.

Lyrik und Gesellschaft

Literaturtheoretisch hat Adorno seine prinzipiellen Überlegungen zum Doppelcharakter der Kunst zwischen Autonomie und fait social eindringlich am Status moderner Dichtung dargelegt. In seiner Rede über Lyrik und Gesellschaft aus dem Jahr 1957 geht er dem Versuch einer Vermittlung von absoluter und engagierter Dichtung nach, indem er bei der Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung auch des scheinbar von allen Fremdbestimmungen reinen artistischen Gedichts in der Tradition Mallarmés ansetzt. Er folgt dabei einer Prämisse, die an modernen Gedichten keineswegs selbstverständlich ist: dass „ihre Beziehung auf Gesellschaftliches an ihnen selber etwas Wesentliches, etwas vom Grund ihrer Qualität aufdeckt“ (Adorno 1981, 49). Adornos Bestimmung des Zusammenhangs von Lyrik und Gesellschaft steht im Kontext eines umfassenden dialektischen Modells, demzufolge das Gedicht als Partikulares immer schon mit dem Allgemeinen vermittelt ist. Definiert Adorno das Allgemeine dabei als das Gesellschaftliche, so arbeitet er am Gedicht ein paradoxes Verhältnis von Individuellem und Allgemeinem, von Subjektivität und Objektivität heraus: „Die spezifische Paradoxie des lyrischen Gebildes, die in Objektivität umschlagende Subjektivität, ist gebunden an jenen Vorrang der Sprachgestalt in der Lyrik, von dem der Primat der Sprache in der Dichtung überhaupt, bis zur Form von Prosa, herstammt“ (Adorno 1981, 56). Durchaus in der Tradition avantgardistischer Kunsttheorien ist es der Vorrang der sprachlichen Ausdrucksform vor jeder inhaltlichen Bestimmung, den Adorno dem dialektischen Verhältnis von Lyrik und Gesellschaft zugrundelegt:

Die höchsten lyrischen Gebilde sind darum die, in denen das Subjekt, ohne Rest von bloßem Stoff, in der Sprache tönt, bis die Sprache selber laut wird. Die Selbstvergessenheit des Subjekts, das der Sprache als einem Objektiven sich anheimgibt, und die Unmittelbarkeit und Unwillkürlichkeit seines Ausdrucks sind dasselbe: so vermittelt die Sprache Lyrik und Gesellschaft im Innersten. Darum zeigt Lyrik dort sich am tiefsten gesellschaftlich verbürgt, wo sie nicht der Gesellschaft nach dem Munde redet, wo sie nichts mitteilt, sondern wo das Subjekt, dem der Ausdruck glückt, zum Einstand mit der Sprache selber kommt, dem, wohin diese von sich aus möchte (Adorno 1981, 56).

Die Sprache und das Nichtidentische

Adorno übersetzt den artistischen Anspruch der modernen Kunst unmittelbar in einen gesellschaftlichen Anspruch. Einer gewagten dialektischen Konstruktion zufolge sollen Gedichte nur dort gelingen, wo sie am reinsten sich zeigen, weil in ihrer sprachlichen Reinheit zugleich ihr Gesellschaftsbezug beschlossen liege: als Einspruch des Partikularen gegen das sich zur Totalität bildende Allgemeine. In seiner Funktion als Statthalter des Nichtidentischen erscheint das moderne Gedicht bei Adorno noch immer als Träger einer Utopie, die allerdings nicht länger die Kunst allein betreffen soll, sondern die sich gerade auch auf den Bereich der Gesellschaft erstreckt.

Adorno und Heidegger über Hölderlin

Hält Adorno damit anders als der vor allem am Realismus des 19. Jahrhunderts orientierte Lukács an den Prämissen der klassischen Moderne fest, die für ihn vor allem mit Namen wie Kafka, Joyce und Beckett verbunden ist (vgl. Adorno 1973, 286, vgl. Lindner 1980), so repräsentiert die Ästhetische Theorie zugleich den letzten Versuch zu einer Begründung der Ästhetik, die die Literatur letztlich der Philosophie überantwortet. In ähnlicher Weise wie bei Heidegger wird das von Adorno postulierte Abhängigkeitsverhältnis von Philosophie und Literatur besonders an seinen Überlegungen zur Dichtung Hölderlins deutlich. „Das Dunkle an den Dichtungen, nicht, was in ihnen gedacht wird, nötigt zur Philosophie“ (Adorno 1981, 450), formuliert Adorno, um damit letztlich die scheinbar selbstverständliche Aufhebung der Kunst in der Philosophie zu rechtfertigen: „Während indessen die Hölderlinsche Dichtung, gleich jeder nachdrücklichen, der Philosophie als des Mediums bedarf, das ihren Wahrheitsgehalt zutage fördert, taugt dazu ebensowenig der Rekurs auf eine wie immer auch ihn beschlagnahmende“ (Adorno 1981, 452). In Anknüpfung an Benjamin geht Adorno von dem Zusammenhang zwischen Kritik und Wahrheitsgehalt aus. Im Unterschied zu Benjamins Poetik aber verweist er die Aufgabe der Kritik ganz in den Bereich der Philosophie: Erst dieser sei es vergönnt, den Wahrheitsgehalt der Dichtung zu erfassen. Vor diesem Hintergrund fördert Adorno in Übereinstimmung mit seiner zusammen mit Horkheimer ausgearbeiteten Dialektik der Aufklärung an Hölderlin eine Auseinandersetzung des modernen Gedichts mit der mythischen Struktur des Denkens zutage, derzufolge Hölderlins parataktische Lyrik die Einsicht in das Unwahre an der Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem verkörpere, die der deutsche Idealismus einseitig proklamiert habe. Unterscheidet sich Adorno auch in wesentlichen Punkten von Heidegger, indem er nicht das unverstellte Sein, sondern die Dialektik von Mythos und Aufklärung an den Ursprung von Hölderlins Dichtung setzt, so verbindet beide Denker doch die Selbstverständlichkeit des philosophischen Zugriffs auf die Dichtung. Hatte Hölderlin in seinen Anmerkungen zur griechischen Tragödie nach einer genuin poetologischen, nach den Regeln der Kunst fragenden Begründung der modernen Literaturtheorie Ausschau gehalten, die die Trennung von Theorie und Praxis der Dichtung aufheben könnte, so erfüllt sich für Adorno wie für Heidegger die Dichtung allein in der philosophischen Reflexion.

Ende der Ästhetik?

Insbesondere im Kontext der neuen Literaturtheorien ist jedoch gerade der lange Zeit fast selbstverständlich erfolgende Zugriff der Philosophie auf die Literatur fragwürdig geworden. „Vom Begriff der philosophischen Ästhetik geht ein Ausdruck des Veralteten aus, ähnlich wie von dem des Systems oder der Moral“ (Adorno 1973, 493), hatte Adorno noch in seiner frühen Einleitung zu seiner Ästhetischen Theorie festgehalten. Nimmt man seine Diagnose ernst, dann steht mit ihr auch der von Kant errichtete Bund zwischen Dichtkunst und philosophischer Ästhetik in Frage. Vor diesem Hintergrund emanzipieren sich die neuen Literaturtheorien im 20. Jahrhundert zunehmend von Fragen der philosophischen Ästhetik, um nach anderen Möglichkeiten des Verständnisses von Literatur zu fragen.

Einführung in die Literaturtheorie

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