Читать книгу Einführung in die Literaturtheorie - Achim Geisenhanslüke - Страница 14
4. Die Entgrenzung des Ästhetischen: Friedrich Nietzsche
ОглавлениеApollinisch – Dionysisch
Wie Hegel, so setzt auch Friedrich Nietzsche bei der historischen Form der griechischen Tragödie an, um aus ihr eine Ästhetik abzuleiten, deren Horizont sich jedoch nicht auf die Antike begrenzt, sondern zugleich die Moderne umfassen soll. Seine Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Jahre 1872 beginnt Nietzsche mit folgender Bemerkung: „Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwicklung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist“ (KSA 1, 25). Bereits mit dem ersten Satz seiner Abhandlung unterstreicht Nietzsche, dass es ihm vor allem um die „Fortentwicklung der Kunst“ geht. Vor diesem Hintergrund stellt er Wagners Musikdrama in die Nachfolge der griechischen Tragödie. Aus der Analyse der historischen Form der Tragödie leitet Nietzsche eine Bestimmung der modernen Kunst ab, die seiner Meinung nach in Wagner ihre künstlerische Vollendung erfährt.
Philologie und Ästhetik bei Nietzsche
Schon die polemische Entgegensetzung der „unmittelbaren Sicherheit der Anschauung“ und der „logischen Einsicht“ verdeutlicht, dass Nietzsche seine Philosophie von Anfang an als eine „aesthetische Wissenschaft“ begreift. Das ist insofern überraschend, als Nietzsche zur Zeit der Abfassung der Geburt der Tragödie in Basel einen Lehrstuhl für Altphilologie, nicht aber für Philosophie besetzte. Über den Gegenstand der griechischen Tragödie hätte man von einem vielversprechenden jungen Altphilologen wohl alles andere als eine ästhetische Abhandlung erwartet, die in spekulativer Weise davon ausgeht, die Entwicklung der Kunst durch die „Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen“ plausibel zu machen. Vor diesem Hintergrund lässt sich Nietzsches Ästhetik zunächst als eine Abwendung von der Philologie verstehen. „Wie Sie ersehen werden, suche ich auf eine völlig neue Weise die griechische Tragödie zu erklären, indem ich einstweilen von jeder philologischen Behandlung der Frage völlig absehe und nur das aesthetische Problem im Auge behalte“ (KSB 3, 194), teilt Nietzsche seinem Verleger Engelmann mit, um seinen Abstand von rein philologischen Fragen zu markieren. Zwar befinde er sich noch „im Netz der Dame Philologie“ (KSB 2, 248), aber insgeheim „betrachte ich Philologie als Mißgeburt der Göttin Philosophie, erzeugt mit einem Idioten oder Cretin“ (KSB 2, 329), schreibt der Baseler Altphilologe, der dabei zu einer äußerst realistischen Einschätzung der Rezeptionserwartung seines Buches kommt: „Ich fürchte immer, daß die Philologen es der Musik wegen, die Musiker der Philologie, die Philosophen der Musik und der Philologie wegen nicht lesen wollen“ (KSB 3, 248).
Kritik der Rationalität
Nietzsches keineswegs eindeutige Entscheidung gegen die Philologie und für die philosophische Ästhetik ist mehr als eine biografische Anekdote, und es ist nicht nur die Einführung der Begriffe des Apollinischen und Dionysischen, die Nietzsches Abhandlung bis heute zu einer der bedeutendsten Theorien der Ästhetik macht (vgl. Barck 2000). Es sind vor allem zwei Momente, die für den enormen Einfluss verantwortlich sind, den die Geburt der Tragödie ausgeübt hat. Das erste ist die Entgrenzung des Ästhetischen, das bei Nietzsche zu einem die Religion ablösenden Welterklärungsmodell heranreift. Das zweite ist die damit eng verbundene kritische Infragestellung der gesamten Geschichte der abendländischen Rationalität. Dass Nietzsche in seinen Überlegungen auf die historische Form der Tragödie zurückgreift, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ganz andere Ziele verfolgt als etwa Hegel oder Schelling. Im Rückgang auf die griechische Antike entfacht er einen neuen Streit zwischen Tragödie und Philosophie, in dem es darum geht, die Entwicklung der abendländischen Vernunftgeschichte durch die ästhetische Erfahrung des Tragischen in Frage zu stellen. Gegen die platonische Tradition der Metaphysik, aber auch gegen die poetologische Autorität des Aristoteles, dessen Bestimmung der Tragödie durch den Vorrang des ethos er durch einen neuen Begriff des pathos zu ersetzen versucht, stellt Nietzsche mit dem Nachweis des Zusammenhangs zwischen dem Tragischen und dem Dionysischen die beunruhigende Vorstellung einer ästhetischen Theodizee in Aussicht, in deren Mittelpunkt nicht mehr das Subjekt, sondern die Kunst selbst stehen soll:
Denn dies muss uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich sein, dass die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind: wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde haben – denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: – während freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung kaum ein andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben (KSA 1, 47).
Ästhetische Theodizee
In Nietzsches ästhetischer Theodizee des Daseins, die in dem vielzitierten Satz „denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ kulminiert, verbinden sich zwei Momente miteinander: die Kritik des Winckelmannschen Diktums von der „stillen Einfalt“ und „edlen Größe“ der griechischen Kunst, die bei Nietzsche der Schiller und Hölderlin geschuldeten sentimentalischen Einsicht in den pessimistischen Abgrund des Tragischen weicht, und die Kritik an der ästhetischen Subjektivität, die Kants und Hegels Bemühungen um eine moderne Ästhetik geleitet hatte: Wenn Nietzsche deutlich macht, dass der Mensch nicht als Schöpfer der Kunst, sondern allein in der Bedeutung von Kunstwerken seine höchste Würde hat, dann vollzieht er mit den Mitteln der Ästhetik eine Kritik an der ästhetischen Autonomie des Subjekts, die seine Philosophie in einen scharfen Gegensatz zu der des deutschen Idealismus stellt.
Nietzsche und Sokrates
Allerdings wäre Nietzsches paradoxe Kritik ästhetischer Subjektivität durch die Ästhetik missverstanden, wollte man in ihr nur eine Destruktion der Rationalität am Leitfaden des Dionysischen erkennen. Dagegen spricht nicht nur die formschaffende Macht des Apollinischen (vgl. Kaufmann 1982), die dem ekstatisch-rauschhaften Moment des Dionysischen bändigend zur Seite steht, sondern mehr noch der neue Gegensatz zwischen dem Dionysischen und dem Sokratischen. Erblickt Nietzsche in den Gegensätzen von Apollo (Traum) und Dionysos (Rausch) zwei gegensätzliche und doch komplementäre Kräfte, die in der griechischen Tragödie ein einmaliges Gleichgewicht gefunden haben, so stellt er der Welt des Tragischen die sokratische Weisheit zunächst als Feindbild gegenüber: Mit Sokrates habe sich die Vernunft von der Erfahrung des Tragischen gelöst und eine Philosophie etabliert, die in einem fatalen Verkennen der Verfasstheit der menschlichen Existenz die Rationalität des Erkennens in den Mittelpunkt der Philosophie stellt. Mit der Destruktion der durch Sokrates geleisteten Begründung einer rationalen Form der Subjektivität verbindet Nietzsche jedoch keineswegs die Intention einer Destruktion von Subjektivität überhaupt. Vielmehr geht es ihm darum, der einseitigen Bestimmung des Daseins und der Welt durch die Vernunft mit dem Ideal des „musiktreibenden Sokrates“ (KSA 1, 102) ein Korrektiv zur Seite zu stellen, das auf der Vermittlung von wissenschaftlicher Vernunft (Sokrates) und der Kunstform der Musik (Dionysos) beruht. Damit wäre für Nietzsche nicht nur eine Form der Subjektivität erreicht, die der dreifachen Gefahr der apollinischen Erstarrung, der sokratischen Vernünftelei und der dionysischen Raserei enthoben wäre. Auch die von Kant und Hegel etablierte Entzweiung von Kunst und Wissenschaft wäre in dem Ideal des musiktreibenden Sokrates aufgehoben. Die Kritik der Geschichte der abendländischen Vernunft kulminiert bei Nietzsche in dem Versuch, im Zeichen des Ästhetischen eine neue Form der Rationalität zu begründen, die zwischen dem tragischen Affekt und der sokratischen Vernunft das Gleichgewicht hält.
Griechentum und Wagnerkreis
Dass trotz der zentralen Bedeutung Nietzsches für die Geschichte der Ästhetik die schon bald nach dem Erscheinen der Geburt der Tragödie erhobenen Einwände gegen den mangelnden philologischen Charakter der Schrift eine gewisse Berechtigung haben, zeigt allerdings die überraschende Dürftigkeit von Nietzsches Aussagen zu dem eigentlichen Gegenstand seiner Abhandlung, der griechischen Tragödie. Auch Nietzsche gelingt die Verbindung von philosophischer und philologischer Erkenntnis in der Geburt der Tragödie nicht ohne Verkürzungen. Über die griechische Tragödie erfährt der Leser nicht viel mehr, als dass der aischyleische Prometheus und der sophokleische Ödipus sich wie eine „Glorie der Activität“ und eine „Glorie der Passivität“ (KSA 1, 67) zueinander verhalten. Der Grund für diese wenig befriedigenden Aussagen zur griechischen Tragödie, denen lange Exkurse zu Shakespeare, Goethe und Schopenhauer zur Seite stehen, liegt in dem mehrdimensionalen Charakter der Schrift (vgl. von Reibnitz 1992, 3), die den Spagat zwischen dem doppelten Adressatenkreis von Altphilologen und Wagnerianern nicht ohne Verkürzungen zu bewältigen vermochte.
Aktualität Nietzsches
So erklärt sich die bewusste Vernachlässigung philologischer Standards letztlich aus dem dezidiert modernen Charakter der Schrift: Mit der Frage nach der Wiedergeburt des Dionysischen in Wagners Musikdrama wendet Nietzsche die Ästhetik nicht mehr historisch, wie Hegels Diktum vom Ende der Kunst es vorgeführt hatte, vielmehr stellt er sie von vornherein in den Kontext einer tragischen Zeiterfahrung der Moderne, die allein in einer Form der ästhetischen Theodizee noch zu bewältigen sei. Aus der zentralen Funktion, die der Bereich der ästhetischen Erfahrung für Nietzsches Philosophie gewinnt, resultiert zugleich die ungebrochene Aktualität seines Denkens, dessen Einfluss sich bis in die heutige Zeit erstreckt.