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2. Kant und die Begründung der modernen Ästhetik

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Entstehung der Ästhetik im 18. Jahrhundert

Das 18. Jahrhundert markiert nicht nur einen Höhepunkt in der Geschichte der deutschen Literatur, sondern zugleich einen radikalen Neubeginn für die Theorie der Literatur. Parallel zum Aufschwung der deutschen Nationalliteratur seit Lessing entsteht mit Baumgarten die Ästhetik als eine neue Disziplin des philosophischen Wissens, die sich mit dessen sinnlichen Anfangsgründen auseinandersetzt. Für die Literatur bedeutet die Entstehung der modernen Ästhetik einen voraussetzungsreichen Einschnitt, den Werner Jung festgehalten hat: „Der Bruch, der im späten 18. Jahrhundert entsteht und als Umstellung von der Regel (Vorschrift, Norm) auf die Willkür (Autonomie, Genie) interpretiert werden muß, ist der folgenschwerste für die Poetikgeschichte insgesamt“ (Jung 1997, S. 10). Von einem Bruch spricht Jung, da die Regelpoetik im 18. Jahrhundert von der philosophischen Ästhetik abgelöst wird. Vor dem Hintergrund des historischen Einschnittes, den die Entstehung der Ästhetik seit Baumgarten bedeutet, entstehen zugleich neue Kräfteverhältnisse zwischen den unterschiedlichen Disziplinen der Rhetorik, der Philosophie und der Literatur. Während die Poetik bisher sowohl das theoretische als auch das praktische Wissen von der Literatur umfasste (vgl. Szondi 1974, 13), bedeutet die Entstehung der Ästhetik eine Trennung zwischen dem praktischen Wissen, der Dichtkunst, und dem theoretischen Wissen, der Ästhetik. Als theoretische Reflexion, die sich im Idealfall bis zur Wissenschaft der Kunst vollendet, bleibt die Ästhetik zwar auf die Literatur bezogen, von Fragen der literarischen Produktion aber getrennt. So verkörpern die Herausbildung der philosophischen Ästhetik und die Entstehung der deutschen Nationalliteratur im Zeichen der Autonomie des genialen Künstlersubjekts zum Ausgang des 18. Jahrhunderts ein wechselseitig aufeinander verwiesenes Doppel, das den seit der Antike im Begriff der Poetik etablierten Bund zwischen Theorie und Praxis der Dichtkunst auflöst.

Subjektivierung der Ästhetik durch Kant

Für den Einschnitt, den die Entstehung der Ästhetik im 18. Jahrhundert bedeutet, steht vor allem Kants Kritik der Urteilskraft ein (vgl. Marquard 1981). Hatte Baumgarten den Grund der Ästhetik in einer sinnlichen Form der Erkenntnis erkannt, die bisher der philosophischen Reflexion nicht würdig schien, so verlegt Kant die Begründung der Ästhetik mit dem Prinzip der Urteilskraft in den Bereich der Subjektivität. Eine subjektive Wendung vollzieht Kant, indem er am Leitfaden einer Theorie des Schönen das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand ins Zentrum der Ästhetik stellt. Das Ziel seiner Untersuchung ist der Nachweis, dass es einen Bereich des Ästhetischen gibt, der sich neben moralischen und erkenntnistheoretischen Urteilen autonom behaupten kann.

Kritik der Rhetorik

Der Bruch, den die Kantische Ästhetik im Zusammenhang mit der Begründung des transzendentalen Prinzips der Urteilskraft für die Tradition der Regelpoetik bedeutet, vollzieht sich im Rahmen einer scharfen Kritik der Beredsamkeit, die den traditionellen Bund von Rhetorik, Poetik und Literatur auflöst. Während Baumgartens Ästhetik noch zu großen Teilen der rhetorischen Tradition verpflichtet war (vgl. Baumgarten 1988, Bornscheuer 1989, Bender 1980), verbindet Kants Kritik der Urteilskraft die Begründung der philosophischen Ästhetik mit einer folgenreichen Schelte der Beredsamkeit:

Die redenden Künste sind Beredsamkeit und Dichtkunst. Beredsamkeit ist die Kunst, ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft zu betreiben; Dichtkunst, ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes auszuführen (Kant 1974, 258).

Beredsamkeit und Dichtung

Kant unterscheidet Beredsamkeit und Dichtkunst als zwei Formen der redenden Künste, um sie zugleich in ein Gegensatzverhältnis zueinander zu setzen: Die Beredsamkeit sei die Kunst, ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft darzustellen, die Dichtkunst hingegen die, ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes darzustellen. Damit erfüllt allein die Dichtkunst noch die Forderungen, die die Kritik der Urteilskraft an ihren Gegenstand, das Naturschöne, stellt. Kant spricht der Dichtung daher auch einen Vorrang vor allen anderen Formen der Kunst zu:

Unter allen behauptet die Dichtkunst (die fast gänzlich dem Genie ihren Ursprung verdankt, und am wenigsten durch Vorschrift, oder durch Beispiele geleitet sein will) den obersten Rang. Sie erweitert das Gemüt dadurch, daß sie die Einbildungskraft in Freiheit setzt und innerhalb den Schranken eines gegebenen Begriffs, unter der unbegrenzten Mannigfaltigkeit möglicher damit zusammenstimmender Formen, diejenige darbietet, welche die Darstellung desselben mit einer Gedankenfülle verknüpft, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist, und sich also ästhetisch zu Ideen erhebt (Kant 1974, 265).

Sprache und Ideen

Der Vorrang der Dichtkunst, der in engem Zusammenhang mit Kants Begriff des Genies steht (vgl. Bezzola 1993, 26), gründet in ihrer Fähigkeit, die Einbildungskraft innerhalb der Schranken des Verstandes in Freiheit zu setzen. Das Resultat dieser Operation bezeichnet Kant als eine „Gedankenfülle“, die er, obwohl er die Dichtung als eine Form der redenden Kunst eingeführt hat, aus dem Bereich der Sprache verbannt: Der Gedankenfülle sei „kein Sprachausdruck völlig adäquat“, ihre Ausnahmestellung unter den Künsten rechtfertige sie vielmehr allein dadurch, dass sie „sich also ästhetisch zu Ideen erhebt“. Nicht die Sprache, die Ideen sind für Kant der eigentliche Grund der Dichtkunst. Das Lob der Dichtkunst, das Kant in der Kritik der Urteilskraft anstimmt, verweist diese an das unendliche Reich der Ideen als eine Instanz, die die endlichen Mittel der Sprache zu transzendieren vermag und zugleich in der Aufwärtsbewegung einer ästhetischen Erhebung den Vorrang der Dichtkunst vor den anderen Formen der Kunst begründet.

Rhetorisches Spiel und dichterischer Ernst

Die Kritik der Beredsamkeit verläuft zum Lob der Dichtkunst spiegelverkehrt. In einer polemisch zugespitzten Definition legt Kant nahe, dass die Beredsamkeit die Freiheit der Einbildungskraft nur zum Schein gebrauche, um mit ihrer Hilfe ein verstandesmäßig wohl berechnetes Ziel durchzusetzen. Das Skandalon der Rhetorik bestehe darin, dass sie sich im Unterschied zur Dichtung nicht zu den Ideen erhebe, sondern bloß mit ihnen spiele. Das Lob der Dichtkunst geht in der Kritik der Urteilskraft ganz auf Kosten der Rhetorik:

Der Redner gibt also zwar etwas, was er nicht verspricht, nämlich ein unterhaltendes Spiel der Einbildungskraft; aber er bricht auch dem etwas ab, was er verspricht, und was doch sein angekündigtes Geschäft ist, nämlich den Verstand zweckmäßig zu beschäftigen. Der Dichter dagegen verspricht wenig und kündigt ein bloßes Spiel mit Ideen an, leistet aber etwas, was eines Geschäftes würdig ist, nämlich dem Verstande spielend Nahrung zu verschaffen, und seinen Begriffen durch Einbildungskraft Leben zu geben: mithin jener im Grunde weniger, dieser mehr, als er verspricht (Kant 1974, 259).

Das Versprechen der Rhetorik

Die Rhetorik verspricht viel und gibt wenig, die Dichtkunst verspricht wenig und gibt viel, so lautet die Gleichung, die Kant in der Tradition der platonischen Rhetorikkritik dem Vergleich beider Künste zugrundelegt. Die Kritik der Beredsamkeit leistet bei Kant ein Doppeltes: Sie trennt das Band, das bisher Rhetorik, Poetik und Literatur im System der Künste miteinander verband, und sie bereitet auf dem nun freigeräumten Terrain den Boden für die neue Wissenschaft der Ästhetik. Deren Aufgabe ist nicht länger die kritische Beurteilung literarischer Werke anhand eines Regelkatalogs, sondern die transzendentale Begründung der Urteilskraft, die zugleich das Leitprinzip einer neuen subjektiven Lehre des Geschmacks sein soll (vgl. Guyer 1979). Indem Kant dem Prinzip der Urteilskraft zuspricht, frei von allen gegenständlichen Bezügen die subjektiven Vermögen Einbildungskraft und Verstand (Theorie des Schönen) und Einbildungskraft und Vernunft (Theorie des Erhabenen) in ein Verhältnis zueinander zu setzen, vollzieht er eine für seine und die gesamte Philosophie des deutschen Idealismus charakteristische subjektivistische Wende (vgl. Gadamer 1990, 48f.): Im scheinbar uneingeschränkten Spiel der Einbildungskraft konstituiert sich eine Form der Subjektivität, die frei von den Gesetzen des Verstandes oder der Vernunft ästhetische Autonomie für sich in Anspruch nehmen kann. Autonomie des Subjekts lautet das Motto, dem sich die philosophische Ästhetik seit ihrer Kantischen Begründung verschreibt. Damit verändert sich auch der Status der Literatur. Diese wird nicht länger als Resultat einer regelgeleiteten poetischen Technik begriffen, sondern als eine autonome Setzung des Genies und damit als symbolisches Zeichen für die unbeschränkte Freiheit des Subjekts.

Ästhetik und Poetik

Mit dem Nachweis des transzendentalen Prinzips der Urteilskraft scheint Kant zunächst eine plausible Begründung der Ästhetik geleistet zu haben, innerhalb derer die Dichtkunst einen zentralen Platz einnimmt. Dass die philosophische Begründung der Ästhetik in der Kritik der Urteilskraft aufgrund der ungelösten Spannung zwischen der transzendentalen Lehre des Geschmacks und der Logik des ästhetischen Urteils über das Schöne nicht ohne innere Widersprüche gelingt, ist jedoch nur die eine Seite des grundsätzlichen Problems, mit dem sich Kants Theorie ästhetischer Subjektivität konfrontiert sieht (vgl. Kulenkampff 1978). Die Frage, die sich insbesondere vor dem Hintergrund literaturtheoretischer Probleme an die Kritik der Urteilskraft stellt, ist die nach den Folgen, die die ästhetische Bestimmung der Dichtkunst für die Literatur hat. Denn für die Reflexion über Literatur bedeutet die Neuerung, die Kants Ästhetik in ihrer Zeit darstellte, zugleich einen Verlust. Dieser liegt nicht allein in dem Verdrängen der seit der Antike die Literatur bestimmenden rhetorischen Tradition begründet, sondern mehr noch in der Abwesenheit genuin poetologischer Betrachtungen in Kants Ästhetik. In dem Maße, in dem Kant einzig das Naturschöne zum Gegenstand der Ästhetik erklärt, verliert er die Literatur, die sich im Horizont der poetologischen Veränderungen des 18. Jahrhunderts plausibler als Kunstschönes beschreiben ließe, aus dem Blick. Die Tatsache, dass kein einziges literarisches Werk Eingang in die Kritik der Urteilskraft gefunden hat, beweist mehr als alles andere, dass die Dichtkunst von ihrem neuen Bündnispartner, der Ästhetik, nur wenig zu erwarten hat.

Einführung in die Literaturtheorie

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