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2. Die Textüberlieferung in den historischen Sprachperioden

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Die Sprachgeschichtsschreibung sowie die grammatische und lexikalische Beschreibung der historischen Sprachstufen des Deutschen beruhen auf Texten, d.h. auf in lateinischer Alphabetschrift fixierten sprachlichen Formulierungen. Dem Umfang nach kann es sich um Kleinsttexte handeln, die nur aus einem Satz bestehen, oder auch um Großtexte und Textsammlungen (Bücher, Codices). In der Art und Weise der Überlieferung der Texte seit dem frühen Mittelalter bis in die Jetztzeit spiegelt sich auch die Entwicklung der Schriftmedien wider. Obwohl „Inschriften“ auf Stein, Holz, Gebäuden usw. angebracht wurden und noch werden, sind für die deutsche Textgeschichte als Schriftträger Pergament, Papier und letztlich computerbasierte Speichermedien die wichtigsten Träger der Textüberlieferung.

Im frühen Mittelalter wurden die Texte in den Skriptorien der Klöster durch Abschreiben hergestellt. Geschrieben haben anfangs vornehmlich Mönche. Die volkssprachliche (deutsche) Textüberlieferung beginnt im späten 8. und frühen 9. Jh. mit Glossierungen lateinischer Texte (anfänglich durch ahd. Einzelwörter), mit Übersetzungen pastoraler Kleinliteratur (z.B. die ahd. Übersetzungen des Vaterunsers) und weitet sich aus auf die Bibeldichtung (z.B. das Evangelienbuch Otfrids von WeißenburgOtfrid von Weißenburg) und die zum Zweck der Schullektüre verfassten Schriften NotkersNotker III. von St. Gallen oder auch auf heldenepische Texte (z.B. das HildebrandsliedHildebrandslied). Zu den historischen Rahmenbedingungen für die Übersetzung lateinischer religiöser Texte bis hin zu den Dichtungen des (ahd.) Evangelienbuchs und des (altsächsischenAltsächsisch) Heliands durch die Kirchen- und Bildungsreform Karls des Großen vgl. den Überblick über die deutsche Sprachgeschichte (Kapitel A.1.1).

Im späten Mittelalter änderte sich zwar die „Technik“ des Schreibens; das Texteschreiben war jetzt arbeitsteilig organisiert: Der „Autor war für die Erzeugung des Textes verantwortlich, der Schreiber für die Herstellung des Manuskriptes“.1 Die Kunst des Schreibens blieb aber noch immer auf den Klerus beschränkt. Schon im 13. Jh. wurden in den Kanzleien Urkunden nicht mehr nur in lateinischer, sondern auch in deutscher Sprache abgefasst. Vom 14. Jh. an üben sich auch Laien (Ritter und ansehnliche Bürger) in der Kunst des Schreibens, hauptsächlich um geschäftliche und private Briefe zu schreiben. Wichtige Sammelhandschriften sind die am Ende des 12. Jh. im Augustiner Chorherrenstift Vorau (Steiermark) geschriebene Vorauer Handschrift und der Codex Manesse, die bedeutendste deutsche Liederhandschrift des Mittelalters, die veranlasst durch die Zürcher Patrizierfamilie Manesse in der ersten Hälfte des 14. Jh. auf der Grundlage der Sammlung der Manesse vermutlich durch Nonnen des Klosters Oetenbach in Zürich hergestellt wurde. Nicht nur durch das zeitgleiche (oder spätere) und fehleranfällige Abschreiben (Kopieren) von Handschriften erscheint der mittelalterliche Text als ein dynamisches Gefüge. Es war auch üblich, Texte zeitlich und räumlich, dialektal und inhaltlich zu aktualisieren. Nicht jede mittelalterliche Handschrift setzt Verse ab; die Handschriften kennen keine Interpunktion im modernen Sinn und keine diakritischen Zeichen wie z.B. den Balken über Vokalen, um die Länge des Vokals zu markieren. Dies alles stammt von den Herausgebern der Neuzeit, die mit der Interpunktion das Textverständnis der modernen Rezipienten erleichtern, aber auch steuern wollten. Die Edition mittelalterlicher Texte hat erhebliche Auswirkungen auf die historische Syntax und die interpretative Satzabgrenzung.

An die Stelle des teuren und für schnelles Schreiben ungeeigneten Pergaments trat das glattere und billigere Papier als Schreibunterlage. Im 14. Jh. verbreitete sich Papier als Beschreibstoff und verdrängte im 15. Jh. das Pergament. Die erste deutsche Papiermacherwerkstatt wurde 1390 in Nürnberg in Betrieb genommen. Papier war eigenhändig leicht zu beschreiben und ermöglichte einen durchgängigen Schreibfluss. Diesem diente auch die – anstelle der aufwendigen Buchschrift vor allem in Handel und Verwaltung verwendete – Kursivschrift, wo große Schriftmengen (Akten, Rechnungen) zu bewältigen waren. Auch ganze Bücher wurden im 14. Jh. in Kursive geschrieben.

Das mühsame (Ab-)Schreiben mit der Hand konnte die steigende Nachfrage nach Lektüre auf Dauer nicht befriedigen. Die Erfindung des Bedruckens von Papier mit beweglichen Metalllettern durch Johannes Gutenberg um 1450 ermöglichte es, Texte zu „setzen“ und beliebig oft mechanisch in identischer Form zu vervielfältigen. Gegen Ende des 15. Jh. existierten in ganz Europa Druckwerkstätten (Offizinen). Die zwischen 1454 und dem 31. Dezember 1500 mit beweglichen Lettern gedruckten Einblattdrucke und Bücher (Inkunabeln, Wiegendrucke) waren in Format, Typografie und Illustration vom Erscheinungsbild mittelalterlicher Handschriften geprägt. Die Produktion auch deutscher Bücher stieg bis 1523 auf 944 Exemplare. Neue Textsorten wie gedruckte Flugblätter und Flugschriften sind Vorformen der Zeitungen und Vorläufer der Massenmedien.

In der zweiten Hälfte des 20. Jh. brachte die Erfindung und weite Verbreitung des Computers eine der Erfindung Gutenbergs vergleichbare mediale Wende auf der Grundlage elektronischer Datenverarbeitung. Mit Hilfe des Computers seit den 1970er-Jahren, des Internets und des World Wide Webs seit den 1980er-Jahren sind die Herstellung, massenhafte Verbreitung und Speicherung von Texten in uneingeschränktem Maß möglich. Neue Textsorten wie E-Mail, Newsletter, Chat (und Chatroom), Tweet u.a.m., die sich von den Texten in den Printmedien erheblich unterscheiden, sind entstanden. Die Digitalisierung ganzer Bücher und mittelalterlicher Handschriften ist in vollem Gang. Die Digitalisate werden online gestellt und sind jederzeit und überall mit Hilfe des Computers aufrufbar. Damit schließt sich der Kreis zum Beginn der Überlieferung deutscher Texte im 8. Jh. – Zur Anwendung der Computer-Technik bei der Erforschung der Historischen Valenz vgl. Kapitel E.4.

Die Textüberlieferung im Wandel der Medien am Beispiel von Otfrids Otfrid von Weißenburg Evangelienbuch Otfrid von Weißenburg

Die als Codex Vindobonensis (V) bezeichnete Handschrift des EvangelienbuchsOtfrid von Weißenburg von Otfrid von WeißenburgOtfrid von Weißenburg wurde zwischen 863 und 871 im Skriptorium des Klosters Weißenburg unter der Aufsicht und mit eigenhändigen Korrekturen Otfrids hergestellt. V diente im dritten Viertel des 9. Jh. als Vorlage für die zweite – ebenfalls in Weißenburg hergestellte – Handschrift, den Codex Palatinus (P). In Freising entstand am Anfang des 10. Jh. die dritte Handschrift (F) und in Fulda in der zweiten Hälfte des 10. Jh. die nur fragmentarisch erhaltene Handschrift (D), beide kopiert von V. Der Codex Vindobonensis gilt als Haupthandschrift. Sie ist bis 1480 als Teil der Weißenburger Klosterbibliothek nachgewiesen, wurde aber, nachdem sie zwischenzeitlich in das Kloster St. Martin in Sponheim verbracht worden war, 1576 als Handschrift der Wiener Hofbibliothek geführt. 1560 fertigte Achill Pirmin Gasser in Augsburg eine Abschrift der Handschrift P an, nachdem P an Ulrich Fugger verkauft worden war. Als Druck erschien 1571 in Basel eine von Matthias Flacius Illyricus veranlasste Gesamtausgabe des Evangelienbuchs. Im 19. Jh. entstanden mehrere kritische (gedruckte) Textausgaben des Evangelienbuchs, zuerst die von Eberhard Gottlieb Graff unter dem Titel „Krist“ 1831 herausgegebene („mit einem Facsimile ieder der drei Handschriften“), dann die von Johann Kelle (1856‒1881) und Oskar Erdmann (1882), auf der Grundlage von V, und Paul Piper (1882) auf der Grundlage von P. Die Handschrift F wurde erst im Jahr 2000 durch Karin Pivernetz ediert. Eine Faksimile-Ausgabe der Wiener Handschrift wurde unter Mitwirkung von Hans Butzmann im Vierfarbendruck 1972 in Graz gedruckt. Eine nach den Handschriften V, P und D getrennte Neuedition des Evangelienbuchs gab Wolfgang Kleiber (2004 und 2006) im Druck heraus. Die Neuedition wird mit Mängeln der älteren Editionen, Neufunden zur Handschrift D und Konsequenzen aus der Autopsie der Wiener Handschrift begründet. Wichtiges Editionsprinzip ist die Vermeidung von Normalisierungen, moderner Zeichensetzung, Lesehilfen usw. zugunsten einer originalnahen, handschriftgetreuen Textwiedergabe. Das Ende der Textgeschichte des Evangelienbuchs ist vorläufig erreicht, seit die in der Universitätsbibliothek Heidelberg lagernde Handschrift P als digitale Kopie2 und die Handschrift F als Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek3 verfügbar sind.

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