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2. Probleme bei der Analyse der historischen Valenz

Die folgenden Problembereiche, die bei der Übertragung des gegenwartssprachlichen Valenzmodells auf historische deutsche Texte zu beachten sind, wurden zuerst im Zusammenhang mit der Valenzanalyse der mhd. Lieder Heinrichs von MorungenHeinrich von Morungen dokumentiert (Schütte 1982, 32‒40).

2.1 Allgemeine Probleme

 a) Man muss zwischen (freien) AngabenAngabe und ErgänzungenErgänzung unterscheiden, die nach Helbig/Schenkel (1973, 33ff.) in der „Tiefenstruktur“ begründet sind und durch eine Eliminierungs- und Substitutionsprobe unterscheidbar sein sollen. Die Unterscheidung in obligatorischeobligatorisch und fakultative ErgänzungenErgänzungobligatorische wird dadurch getroffen, dass fakultativefakultativ ErgänzungenErgänzungfakultative weggelassen werden können, ohne dass der Satz ungrammatisch wird oder sich die Verbbedeutung wesentlich ändert.

 b) Es ist nicht angebracht, die GenitivobjekteGenitivobjekt – bei einer Analyse mhd. Texte – als veraltet anzusehen, weil die Genitive im Mhd. eine größere und natürlichere Rolle spielen als im Nhd.

 c) Bei FunktionsverbgefügenFunktionsverbgefüge wird dem Funktionsnomen nicht der Rang eines AktantenAktant zuerkannt. Funktionsverbgefüge sind erwartbar bei semantisch indifferenten Verben wie mhd. tuon ‚tun‘ und hân ‚haben‘ (s.u.).

 d) Die Valenz eines Verbs ist nicht unabhängig vom Genus VerbiGenus Verbi (AktivAktiv oder PassivPassiv). Die Passivierung ist ein Verfahren der ValenzminderungValenzminderung, weil der Erstaktant im Passiv fakultativfakultativ wird.

 e) Die WertigkeitWertigkeit eines Verbs kann durch Reflexivierung erhöht werden, z.B. mhd. vröiwe ich mich ‚…freue ich mich‘ mit zwei referenzidentischen AktantenAktant.

 f) Die Valenz eines Verbs kann auch mit dem Verbinhalt wechseln, z.B. mhd. kommen 1 ‚gehen nach‘ mit PräpG mit in oder einem Dativ; kommen 2 ‚gereichen‘ mit PräpG mit ze.

 g) Es ist sinnvoll, keine nullwertigennullwertig Verben anzusetzen und referierendes mhd. ez von „inhaltsleerem“ ez (z.B. bei Witterungsverben, mhd. dô tagte ez) nicht zu unterscheiden.

2.2 Methodologische Probleme

 a) Da bei der Anwendung der muttersprachlichen Kompetenz auf die Valenzbestimmung historischer Verben die Gefahr intuitiver Fehlschlüsse besteht, sind der Ansatz einer „ErsatzkompetenzErsatzkompetenz“ (siehe Kapitel D.3) und statistische Methoden (z.B. die Häufigkeit bestimmter Syntagmen bei verschiedenen Verben) erforderlich (s.u.).

 b) Linguistische Tests können nur beschränkt angesetzt werden.

 c) Notwendig ist die Übertragung der gegenwartssprachlichen Kompetenz des Deskribenten auf die gewünschte Sprachstufe (siehe Kapitel D.3).

2.3 Grundsätzliche Unsicherheiten

Indem sie sich mit der historischen ValenzsyntaxValenzsyntax generell kritisch auseinandersetzt, führt MECHTHILD HABERMANN sechs „Unsicherheiten“ auf, die bei der Feststellung der historischen Valenz beachtet werden sollten.

 a) Die Unsicherheit bei der Abgrenzung der Sätze: „Uncertainty as to the limits of the clause. Punctuation is often missing as a clause is punctuated according to pauses in speech, hence there are no criteria for identifying the beginning and the end of sentences.“

 b) Die Unsicherheit in Bezug auf den Status der Sätze: „Uncertainty as to the status of the clause. Subordinate clauses are, as such, not unequivocally identified in every case, since the end position of the finite verb first appears as a rule in New High German. In addition, many conjunctions can just as well be read as hypotactic subordinators or coordinating elements. […] To sum up: the difference between parataxis and hypotaxis is nowhere as clear and unequivocal as in Modern German.“

 c) Die Unsicherheit in Bezug auf den Verbstamm: „For a long time, noun compounds and […] verb compounds were not usually written as one word. With regard to the stem and its valency, it is essential to determine whether Middle High German adverbs such as an, auf, durch, or heran, hinauf, herum have the status of phrases or not and whether, as a consequence, they could be complements or adjuncts; or whether we are dealing with verb particles, and thus with verbs which take a particle“ (z.B. ankommen, aufsteigen, durchfahren).

 d) Die Unsicherheit in Bezug auf die morphologische Identifikation der Kasus: „Because of early syncretism of form, especially since Middle High German, certain cases are no longer identifiable. […] It is very risqué to transpose conventional valency schemata of New High German to historical language.“

 e) Die Polyvalenz der Verben: „In contrast to New High German verbs, Old and even Middle High German verbs do not have a stable, or should I say prototypical valency. In New High German the meaning of the verb introduces a valency framework which, although it is slightly modifiable, as for instance in the case of optional complements, is quite stable for this particular meaning of polysemic lexemes. A wider range of structures is often recognisable in historical periods of language, so that prototypes cannot easily be defined. Thus here […] historical valency is greatly influenced by co-textual and contextual factors“ (siehe Kapitel D.12).

 f) Nachwirkung der indoeuropäischen Kasus-Bedeutungen: „It seems that the meanings of the case in Old and Middle High German are still strongly influenced by their ancient Indo-European meanings […] – Basically, the three morphological cases genitive, dative and accusative can appear as adverbial phrases. The disparity and diversity of meanings of genitive and dative render the assignment of semantic roles difficult.“

(Habermann 2007, 86‒88)

Kommentar: Die vor der Analyse zu bedenkenden Unsicherheiten (a) – (c) betreffen nicht nur die historische Valenzanalyse, sondern syntaktische Analysen und Beschreibungen der Sätze in historischen Texten gleich welcher Art. Bei (a) und (b) kommt man um eine syntaktische Interpretation einer Textstelle nicht herum. Entweder übernimmt sie der Deskribent aus der Edition des historischen Textes (und folgt der Interpretation des Herausgebers) oder er interpretiert unter Beachtung von Textgliederungs-Signalen in der Handschrift die Interpretation selbst. (d) entspricht der Warnung, nhd. SatzbaupläneSatzbauplan auf die historischen Texte einfach zu übertragen. (e) betrifft die bekannte Tatsache, dass vor der grammatischen und lexikalischen Regelung der deutschen Standardsprache sich aus den historischen Texten nicht immer ‒ wie im Nhd. ‒ eine stabilestabil, prototypische Valenz ermitteln lässt (siehe Kapitel D.7). (f) zielt auf die Schwierigkeit des Ansatzes der semantischen RollenValenzsemantische generell und auf die „Ableitung“ der semantischen Rollen aus den morphologischen Kasus (siehe Kapitel B.1).

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