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„Da ist es!“, sagte Rudi und streckte die Hand aus.

Wir hatten uns sehr beeilt.

Es war später Nachmittag, als Rudi und ich den Fun Park westlich von Berlin erreichten. Er lag auf dem Gelände eines ehemaligen Einkaufzentrums, das sich gegen die harte Konkurrenz nicht hatte durchsetzen können. Ob dies bei den Fahrgeschäften, die jetzt auf dem Gelände um Kunden warben, anders sein würde, war höchst zweifelhaft. Als Disneyland für Arme hatten die lokalen Medien den Park schon verspottet.

Dass sich jemand von außerhalb hier her verirrte, war kaum anzunehmen. Dazu waren die Riesenräder und Achterbahnen, mit denen man sich hier vergnügen konnte, einfach technisch gesehen nicht innovativ genug.

Mein Kollege Rudi Meier und ich mussten den Dienstwagen, den uns die Fahrbereitschaft des BKA zur Verfügung stellte, in einer Seitenstraße abstellen und die letzten fünf Minuten zum Tatort zu Fuß gehen. Es herrschte ein unbeschreibliches Chaos. Sämtliche Zuwege des Parkgeländes waren hoffnungslos verstopft.

„Die letzten Meter sind mal wieder die Schlimmsten“, meinte ich.

„Da heißt es, sich durchkämpfen, Harry!“, gab mein Kollege Rudi Meier zurück.

Kollegen des Schutzpolizei versuchten, das Durcheinander aus in Panik geratenen Passanten, die das Gelände so schnell wie möglich verlassen wollten und den Einsatzfahrzeugen der Polizei und des Rettungsdienstes so gut es ging zu koordinieren.

Worum es im Groben ging, darüber hatte man uns bereits informiert.

Jimmy Talabani, ein Unterboss des Al-Khalili-Syndikats, war mit fast einem halben Dutzend Leibwächtern ermordet worden und wir hatten Grund zu der Annahme, dass dies Teil einer größeren Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gruppen des organisierten Verbrechens war. Geldwäsche, Drogen und Waffen – das waren Gebiete auf denen sich die Al-Khalili-Familie unseren Erkenntnissen nach geschäftlich betätigte. Und das mit großem Erfolg, denn Al-Khalili hatte sich in der Hierarchie der Berliner Unterwelt schnell nach oben geboxt.

Aber die Konkurrenz schlief nicht.

Insgesamt drei weitere Unterbosse des Al-Khalili-Syndikats waren innerhalb der letzten Monate umgebracht worden. Da konnte wirklich niemand mehr an einen Zufall glauben, zumal in allen drei Fällen dieselbe Waffe benutzt worden war.

Es sah ganz so aus, als wäre Jimmy Talabani die Nummer vier auf der Liste dieses unbekannten Killers, der in der Berliner Szene aufräumte.

Fragte sich nur, für wen er das tat. Das Ganze war vermutlich als Teil einer sehr viel umfassenderen Auseinandersetzung verschiedener krimineller Banden aufzufassen, die sich kompromisslos und bis aufs Blut bekämpften, um die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen.

Die Kollegen der Schutzpolizei hatten den eigentlichen Tatort weiträumig abgesperrt. Rudi und ich wurden gestoppt.

Ich zog meine Marke und hielt sie dem Kollegen entgegen.

„Kommissar Harry Kubinke, BKA“, stellte ich mich vor. „Dies ist mein Kollege Rudi Meier. Man hat uns angefordert.“

„Schön, dass Sie da sind. Sie werden schon sehnsüchtig erwartet“, sagte der Beamte.

„Wir haben es leider nicht früher geschafft!“

„Kann ich mir denken. Um diese Zeit ist auf den Straßen Berlins der Teufel los.“

„Das kann man wohl laut sagen!“

Der Beamte deutete mit dem Arm und sagte: „Gehen Sie an dem Hot Dog Stand links bis zur Geisterbahn. Da ist es passiert.“

Ich nickte. „Danke.“

Wenig später hatten wir den eigentlichen Tatort erreicht. Außer den uniformierten Kollegen waren dort noch die Ermittler des Erkennungsdienstes anwesend.

Zwei Vans der Gerichtsmedizin hatten es irgendwie geschafft, bis hier zu gelangen. Wahrscheinlich würde noch ein dritter Wagen gerufen werden müssen, um alle Leichen abtransportieren zu können.

Uns bot sich ein Bild des Grauens.

Die Toten waren zwar bereits in Leichensäcke eingepackt und zum Transport in die Gerichtsmedizin fertig gemacht worden, aber überall auf dem Asphalt ließen Spuren getrockneten Blutes erkennen, dass hier etwas Furchtbares geschehen war. Kreidemarkierungen zeigten uns, wo sie gelegen hatten.

Polizeiobermeister Hoffmann war ein rothaariger, etwas korpulenter Mann. Ich kannte ihn flüchtig.

Das letzte Mal war jetzt ungefähr ein Dreivierteljahr her.

„Hallo Harry!“, sagte er und begrüßte auch Rudi. „Nachdem wir die Identität eines der Opfers anhand seiner Papiere festgestellt hatten, war uns gleich klar, dass das ein Fall für euch ist.“

„So?“

„Schließlich gehört Talabani doch zum Al-Khalili-Syndikat und da liegt ein Zusammenhang dieses Mordfalls mit dem organisierten Verbrechen mehr als nahe.“

Ich nickte. „Jemand scheint systematisch Abdullah Al-Khalilis Unterbosse einen nach dem anderen ausschalten zu wollen“, stellte ich fest.

Er nickte. „Krieg im Kiez. Davon reden alle zurzeit.“

„Ja – und wahrscheinlich sogar erst der Anfang“, mischte sich Rudi ein.

„Die Umstände der Tat sprechen für einen Profi-Killer“, meinte Hoffmann. „Er muss von irgendeinem erhöhten Ort aus in rascher Schussfolge punktgenau getroffen haben. Keiner der Leibwächter konnte sich noch in Sicherheit bringen. Bis wir das Kaliber herausgefunden haben, müsst ihr euch noch ein bisschen gedulden.“

„Ich wette, das Ergebnis deckt sich mit den Fakten, die wir aus den anderen Fällen dieser Serie kennen“, glaubte Rudi.

Hoffmann kratzte sich an den kurz geschorenen roten Haaren seines Hinterkopfs. „Ich nehme an, ihr habt da so etwas wie die Ouvertüre zu einem ausgewachsenen Blutbad am laufen.“

„Das einzige was mich dabei wundert, ist, dass Al-Khalilis Reaktion bislang sehr ruhig ausgefallen ist“, gab mein Freund und Kollege Rudi Meier zurück. „Jedenfalls ist uns von einer vergleichbaren Todesrate unter den Mitgliedern der Konkurrenz-Syndikate nichts bekannt.“

Hoffmann grinste schief.

„Al-Khalili mag darauf aus sein, sein Image als sauberer Geschäftsmann zu pflegen und nicht mit diesem blutigen Sumpf in Verbindung gebracht zu werden – aber irgendwann kommt der Punkt, an dem er zurückschlagen muss, wenn er die Autorität in den eigenen Reihen behalten will.“

„Von wo aus wurde geschossen?“, fragte ich. Einen Moment lang wunderte ich mich darüber, wie gut Hoffmann über Al-Khalili Bescheid wusste. Das meiste von dem, was bisher über Al-Khalilis Organisation bekannt war, konnte über das Datenverbundsystem von alle Polizeirevieren abgerufen werden. Schließlich nützte eine noch so gute Bekämpfung des organisierten Verbrechens nichts, wenn diejenigen, die als erste am Tatort waren, den Zusammenhang nicht erkannten, den ein Tötungsdelikt zu bestimmten Bereichen der organisierten Kriminalität hatte. Wiederholt hatten wir vom BKA wertvolle Zeit verloren, weil die Brisanz einer Tat vor Ort nicht schnell genug erkannt worden war.

Hoffmann konnte man in dieser Hinsicht nun wirklich nicht das Geringste vorwerfen.

Er war mehr als wachsam gewesen und hatte sich erstaunlich gut über die Hintergründe informiert.

Hoffmann streckte den Arm aus und deutete zu einem zwanzigstöckigen Gebäude hinüber, von dem der Rohbau fertig gestellt war und unmittelbar an das Gelände des Fun Parks angrenzte. „Wir nehmen an, dass aus diesem Gebäude da vorne geschossen wurde. Jedenfalls muss es diese Richtung sein.“

Ich warf einen Blick hinüber und kniff die Augen zusammen.

„Muss aber ein guter Schütze gewesen sein – aus der Entfernung!“, stellte ich fest.

„Das sind schätzungsweise vierhundert Meter – falls von einem der höheren Etagen aus gefeuert worden ist - sogar noch mehr“, gab Rudi zu bedenken.

„Falls der Kerl ein Scharfschützengewehr verwendet hat, ist das eine ganz normale Distanz“, meinte Hoffmann. „Und der Killer muss ein Scharfschütze gewesen sein. Die Schüsse folgten sehr schnell aufeinander, das er nur sehr wenig Zeit hatte, um zu zielen. Der Täter brauchte jeweils nur einen Schuss, um Talabani und seine Männer zu töten.“

„Das passt ins Muster“, stellte ich fest und wechselte dabei einen Blick mit Rudi.

Bei den vorangegangenen Morden an Mitgliedern des Al-Khalili-Syndikats war immer dieselbe Waffe verwendet worden. Ein Spezialgewehr vom Typ MK 32, das nur in relativ kleiner Stückzahl hergestellt worden war. Die SEK-Kommandos setzten diese Waffe zum Teil ein. Außerdem hatte man kurzzeitig erwogen, die MK-23 für Scharfschützen in Spezialeinheiten der Bundeswehr anzuschaffen. Böse Zungen behaupteten, dass dies an den besseren Beziehungen der Konkurrenz zum Verteidigungsministerium gescheitert war.

Jedenfalls ging ich jede Wette ein, dass auch dieser Mord mit derselben MK-23 verübt wurde, mit der auch die vorherigen Morde an Unterführern des Al-Khalili-Syndikats begangen worden war.

Eine Bestätigung konnten wir dafür natürlich erst nach Abschluss der ballistischen Untersuchungen erwarten.

„Jimmy Talabani befand sich übrigens in Begleitung einer jungen Frau, wie mehrere Zeugen übereinstimmend ausgesagt haben“, berichtete Hoffmann. „Blond und großbusig. Eine Art fleischgewordener Männertraum. Wir haben ein Phantombild angefertigt.“ Hoffmann seufzte hörbar, bevor er fort fuhr. „Sie ist verschwunden.“

„Mal sehen, wie schnell wir sie finden, wenn wir sie in die Fahndung geben“, meinte ich.

Hoffmanns Handy klingelte in diesem Augenblick. Er sagte mehrfach „ja“ und beendete das Gespräch schließlich wieder. Anschließend wandte er sich Rudi und mir zu.

„Das war Polizeimeister Großmann. Er glaubt, den Standort des Schützen gefunden zu haben.“

„Dann sehen wir uns das doch mal an“, schlug ich vor.

Hoffmann wies einen seiner Beamten an, ihn kurzzeitig zu vertreten. Dann folgten wir ihm quer durch den Fun Park und erreichten schließlich das angrenzende Gelände, auf den der Rohbau des zwanzigstöckigen Gebäudes stand. Das Gelände war mit einem mannshohen Bretterverschlag abgegrenzt, der mit Plakaten überklebt war. Darunter auch ein Hinweis, dass hier ein Bürohaus errichtet wurde, dessen Mieten im Vergleich zu den Preisen in Berlin Mitte geradezu lächerlich waren.

Die Kollegen der City Police hatten den vernagelten Zugang zum Gelände aufgebrochen. Offenbar wurde hier schon seit einiger Zeit nicht mehr gearbeitet.

„Wusstet ihr, dass Jimmy Talabani sowohl am Fun Park als auch an diesem Büroturm finanziell beteiligt war?“, fragte Hoffmann fast beiläufig.

„Man könnte meinen, du wärst diesem Talabani seit Jahren auf der Spur“, meinte ich mit einer Mischung aus Anerkennung und Verwunderung. „Du fährst nicht zufälligerweise Doppelschichten und arbeitest nebenbei noch für das LKA oder das BKA?“

Hoffmann grinste schief. „Dies ist mein Bezirk, Harry, vergiss das nicht.“

„Verstehe.“

„Und in meinem Revier weiß ich einfach gerne Bescheid. Das ist nun mal so!“

„Ich wusste nicht, dass Talabani so viel Kleingeld übrig hatte, um sich Projekte dieser Größenordnung leisten zu können“, gestand ich zu.

„Er wird als Strohmann für Al-Khalili tätig gewesen sein“, glaubte Hoffmann. „Zumindest dieser Fun Park kann unmöglich Gewinne abwerfen, das sieht ein Blinder, Harry. Die Riesenräder und Autoscooter, die man hier sehen kann, gehören doch ins Museum.“

Etwas in der Art hatte ich mir schon gedacht.

„Also ein Geldwäsche-Projekt!“, schloss ich.

„Worauf du Gift nehmen kannst!“ Er seufzte hörbar und fuhr dann fort: „Ich habe es nicht gern gesehen, dass dieser Talabani sich hier breit gemacht hat und ich hatte gleich das Gefühl, dass es Ärger geben würde...“

„Na, zumindest Talabani selbst ist dazu jetzt nicht mehr in der Lage“, warf Rudi ein.

„Warten wir es ab“, knurrte Hoffmann. „Vielleicht ist ein toter Talabani sogar noch schlimmer als ein lebender.“

„Mal den Teufel nicht an die Wand!“, meinte Rudi.

Ich konnte mir denken, worauf Hoffmann hinaus wollte.

Schließlich war anzunehmen, dass Talabanis Ermordung nur Teil einer viel größeren Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Gangstergruppen war, die wohl ihre jeweiligen Einflusssphären und Märkte neu unter sich aufteilten und dabei offenbar ihre Meinungsverschiedenheiten hatten.

Hoffmann führte uns in den siebten Stock des Rohbaus. Ein paar in weiße Schutzoveralls gekleidete Kollegen des Erkennungsdienstes begegneten uns. Zementgeruch hing in der Luft. Frischer Staub bedeckte den Boden.

Einer der Erkennungsdienst-Kollegen kam auf uns zu.

Er hatte lockiges, dunkles Haar. Hoffmann schien ihn zu kennen und redete ihn mit „Willy“ an.

„Wir haben einen sehr deutlichen Fußabdruck der Größe 43“, berichtete Willy. „Das Profil der sehr auffälligen Sohle war sehr gut im Zementstaub erhalten. Allerdings können wir nicht ganz ausschließen, dass es sich nicht um Spuren des Killers, sondern eines Bauarbeiters handelt.“

„Tragen die nicht eigentlich Sicherheitsschuhe?“, wandte ich ein.

Willy nickte. „Die Betonung liegt auf dem Wort eigentlich. Aber viel zu viele halten sich nicht daran – vor allem Aushilfskräfte.“

„Hier wird seit Wochen nicht mehr gearbeitet“, wandte Hoffmann ein.

„Je nachdem, ob vielleicht gerader ein heftiger Wind durch den Rohbau pfeift, können sich solche Staubspuren durchaus über mehrere Wochen hinweg erhalten“, erwiderte Willy. „Aber es gibt noch eine wichtigere Spur, die sie sich am besten selbst ansehen.“

Willy führte uns über einen Korridor in einen großen, kahlen Raum.

Eine etwa einen Meter breite Bahn aus Folie führte zur Fensterfront, von der aus man den Fun Park überblicken konnte.

„Bleiben Sie bitte auf der Folie“, wies uns Willy an. „Wir haben zwar den gesamten Boden fotografiert und gründlich abgesucht, aber es ist ja nicht ausgeschlossen, dass wir im nachhinein doch noch etwas finden, was von Interesse ist.“

Ich war der Erste, der den Folienpfad beschritt. Etwa einen halben Meter von der Fensterfront entfernt war ein Kreuz auf dem Boden zu sehen.

Es bestand aus sechs Patronenhülsen.

„Ich glaube, da will uns jemand etwas klar machen, Harry“, raunte mir Rudi von der Seite her zu.

Es fragte sich nur, ob wir schon in der Lage waren, diese Botschaft richtig zu deuten.

„Entweder der Kerl ist gläubig oder sehr zynisch“, murmelte Hoffmann.

Sechs Krimis: Ferienkiller

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