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5. Freitag, 16.3.2012

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Oregon

Ein lauer Wind wehte über den Parkplatz und vertrieb ein wenig die Hitze des Nachmittags. Aurora Weast hockte auf dem Holzgatter, das den Platz von ein paar vertrockneten Wiesen trennte, und ließ die Beine baumeln. Immer wieder glitt ihr Blick ungeduldig zum Einkaufszentrum hinüber. Jetzt wartete sie schon eine geschlagene Stunde auf ihre Mutter und langsam wurde es langweilig. Okay, sie war vorgewarnt. Die Einkaufsliste war lang und ihre Mutter Silvy nahm sich immer Zeit, um das günstigste Angebot herauszusuchen, damit sie zum Monatsende nicht völlig pleite waren. Doch für eine Zwölfjährige war eine Stunde Warterei ätzend – zumindest empfand Aurora das so. Sie war noch nie geduldig gewesen.

Seufzend stemmte sie sich mit den Armen hoch und balancierte auf den Holzlatten herum. Es war ein wenig wie Schwebebalken, und Turnen hatte ihr schon immer Spaß gemacht. Genauso wie Rennen, Springen, Klettern, ... kurz gesagt, Sport war ihr Ding. Warten nicht.

„Hey Süße.“

Ihr Kopf ruckte herum und sie sah auf den jungen Mann herunter, der zwischen den Autos aufgetaucht war, und grinsend zu ihr hochblickte.

„Wartest du auf jemanden, oder kann ich dich irgendwo hinbringen?“

„Ich warte“, kam die prompte Antwort.

Er nickte.

„Okay.“

Aber er entfernte sich nicht, sondern sah weiter zu ihr hoch.

Aurora versuchte, möglichst uninteressiert zu wirken. Sie schätzte ihn auf Mitte Zwanzig. Sein Haar war kurz geschnitten und er wirkte offen und freundlich.

„Du bist geschickt“, stellte er fest. „Bist du Turnerin?“

Sie schüttelte den Kopf und ging in die Hocke. Er stand jetzt etwa zwei Meter von ihr entfernt und lächelte sie freundlich an.

„Hm, grüne Augen. Hübsch. Wie alt bist du?“

Aurora verkniff sich eine Antwort. Misstrauen stieg in ihr hoch. Was wollte der Typ von ihr?

„Lass mich in Ruhe“, meinte sie. „Meine Mutter kommt jeden Moment zurück und die mag keine Kerle, die fremde Mädchen nach ihrem Alter fragen.“

Er verzog das Gesicht, lachte dann aber.

„Wie du meinst. Allerdings hab ich nur gefragt, weil ich gerade auf der Suche nach Turnerinnen bin. Meine Truppe trainiert gerade für den nächsten Wettkampf und zwei Mädchen sind ausgefallen. Also brauch ich Ersatz. Älter als sechzehn dürfen sie aber nicht sein.“

Aurora zögerte. Turnen war spaßig, keine Frage. Aber bisher hatte sie nie an irgendwelchen Wettkämpfen teilgenommen.

„Wann ist der Wettkampf denn?“

„Im Herbst. Wir trainieren dreimal die Woche.“

Er trat näher und zog einen Flyer aus seiner Hemdtasche. Aurora streckte schon die Hand danach aus, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte.

„Aurora! Beeil dich, wir müssen los. Du weißt doch, dass wir heute Abend noch einen Termin haben.“

Aurora richtete sich sofort auf und stand sicher mit den Füßen auf dem Balken. Sie grinste ihn entschuldigend an.

„Sorry, Aber Wettkämpfe mag ich sowieso nicht.“

Dann rannte sie auf dem Balken einige Meter entlang, sprang leichtfüßig auf den Boden und eilte zu ihrer Mutter, die mit mehreren Tüten beladen vor ihrem Wagen stand.

Der junge Mann sah ihr hinterher. Ärger blitzte kurz über seine Züge. Dann zog er ein Handy aus der Hosentasche.

„Freddy? Ich schätze, ich hab da eine. Es passt alles. Grüne Augen, sportlich, athletischer Typus, circa zwölf Jahre alt. Sie fährt gleich mit ihrer Mutter los. Soll ich dran bleiben? – Okay, dann bis gleich.“

Silvy Weast runzelte die Stirn, als Aurora ihr von dem Mann erzählte.

„Hat er gesagt, welche Gruppe und wo sie trainieren?“

„Nö, doch er wollte mir einen Flyer geben. Ist aber nicht so wichtig. Ich mag Wettkämpfe eh nicht.“

Ihre Mutter nickte beruhigt und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Sie hatten eine Stunde Fahrt vor sich und sie war müde. Manchmal war es lästig, außerhalb zu wohnen. Doch dafür hatte man seine Ruhe: nicht so viele Nachbarn und kein Lärm. Lange Wege waren das insgesamt wert. Sie bogen nach einer halben Stunde vom Highway ab und einige Meilen weiter war der Verkehr quasi nicht mehr vorhanden. Nur hinter ihnen fuhren ein Jeep und ein schwarzer Van. Silvy seufzte, als der Geländewagen dichter auffuhr. Im Rückspiegel erkannte sie zwei Männer. Das war mal wieder typisch. Sie beschloss, bei der nächsten Abzweigung auszuscheren und die Autos vorbeizulassen. Doch dazu kam es nicht mehr.

Der Geländewagen gab plötzlich Gas und bretterte vorbei. Knapp vor ihnen scherte er wieder ein und bremste.

Silvy schrie erschrocken auf und stieg auf die Bremse. Ihr Wagen schlingerte und brach aus, donnerte die Böschung hinunter und krachte gegen einen Baum. Aurora schrie genauso entsetzt und klammerte sich am Armaturenbrett fest. Der Aufprall war hart und ließ die Airbags aufspringen.

Benommen versuchte Aurora, sich zu orientieren. Ihre Mutter zerrte noch an dem Sicherheitsgurt, als die Fahrertür aufgerissen wurde. Aurora hörte nur einen Schuss, dann sah sie überall Blut. Blut auf dem Fenster, Blut auf den Armaturen, Blut im zerfetzten Gesicht ihrer Mom.

Panisch schrie sie auf und griff nach ihrer Mutter, als sie am Arm gepackt und und nach draußen gerissen wurde.

Mit einem weiteren Schrei landete sie im Staub. Ein Knie drückte sich in ihren Rücken und nagelte sie am Boden fest. Ihr Arm wurde gepackt und festgehalten. Ein schmerzhafter Stich in ihrer Armbeuge ließ sie aufstöhnen.

„Geduld, Schätzchen, gleich wissen wir, ob du die Richtige bist“, lachte eine Stimme. Sie erkannte sie sofort. Das war der Mann vom Parkplatz!

„Bingo, Volltreffer.“

Eine andere Männerstimme klang triumphierend. Aurora wurde hochgezerrt. Sie sah vor sich drei Männer stehen. Einer hielt ein kleines Reagenzglas in der Hand, in dem eine dunkelblaue Flüssigkeit schwappte. Die Typen drehten sich um und gingen auf die zwei Wagen zu, die oben auf der Straße parkten. Der junge Mann stieß Aurora vorwärts, so dass sie wieder an ihrem eigenen Wagen vorbei kam. Der Körper ihrer Mutter lag still und verrenkt über dem Lenkrad.

In Aurora breitete sich eisige Kälte aus. Sie wusste nicht, wer diese Männer waren, was sie von ihr wollten, und warum sie ihre Mutter getötet hatten. Aber eines war ihr völlig klar: Sie durfte nicht in eines der Autos steigen.

Der junge Mann schritt inzwischen neben ihr und hielt ihren Arm schmerzhaft umklammert. Aurora hatte schon eine Menge Sportarten ausprobiert und eines hatte sie dabei gelernt: Stärkere Leute besiegte man nicht mit Kraft, sondern durch Überraschung. Ganz plötzlich sprintete sie nach vorne, und tatsächlich war er so überrascht, dass er losließ.

Sie schlug sofort einen Haken und rannte zur Seite weg. Er griff wieder nach ihr, verfehlte sie aber um Haaresbreite. Mit einem Wutschrei nahm er die Verfolgung auf. Die anderen Männer fluchten. Einer folgte Aurora ebenfalls, während die beiden anderen sich in die Fahrzeuge warfen.

Auf der Straße zu bleiben, war keine gute Idee, das war Aurora klar. Gegen Autos kam sie nicht an. Daher blieb nur das Gelände. Verzweifelt versuchte sie, sich zu erinnern, welche Richtung am sinnvollsten war. Sie war nicht allzuweit von zu Hause weg, doch so oft war sie in dieser Gegend nicht gewesen. Wichtig war es, ebenes Gelände zu meiden. Zwar war sie flink und für ihr Alter schnell, doch die Männer hatten längere Beine und wirkten durchtrainiert.

Aurora versuchte, alles auszublenden: ihre Angst, ihre Wut und ihr Entsetzen über den Tod ihrer Mutter. Diese Männer hatten nichts Gutes mit ihr vor. Sie durfte sich nicht erwischen lassen!

Das Gelände wurde immer unübersichtlicher und Aurora nutzte den Vorteil klein zu sein weidlich aus. Hinter ihr klangen laute Flüche auf. Trotzdem waren die Männer ihr schon bedenklich nahe gekommen. Langsam spürte sie Erschöpfung in ihren Beinen. Vor ihr öffnete sich ein Canyon. Aurora steigerte ihr Tempo. Hier kannte sie sich aus, und sie wusste nur eine Möglichkeit, wie sie ihren Verfolgern entkommen konnte. Es war ein Risiko, da sie eine längere geradlinige Strecke zurücklegen würde und sie wusste nicht, wie ausdauernd ihre Verfolger waren.

„Bleib stehen, du verdammtes Miststück“, brüllte einer der Männer. Er klang angestrengt und deutlich wütend. Aurora setzte alles auf eine Karte und wurde schneller. Vor ihr stieg der Weg etwas an. Aurora stieß einen entschlossenen Schrei aus und drückte sich, oben angekommen, ab. Vor ihr öffnete sich eine Schlucht, die senkrecht nach unten abfiel bis zu einem reißenden Fluss in etwa zwanzig Meter Tiefe.

Sie flog weit nach vorne und spannte ihren Körper an, als sie immer schneller nach unten fiel und lange Sekunden später ins Wasser klatschte.

Ihr erster Verfolger bremste mit einem erschrockenen Ausruf, doch der Schwung trieb ihn über die Kante hinaus. Mit einem schrillen Schrei stürzte er ebenfalls ab, doch sein Bremsen hatte ihm den nötigen Schwung genommen und er schlug mit einem scheußlichen Geräusch an der Uferböschung auf, wo er verrenkt liegen blieb.

Der zweite Mann sah ihn fallen und stoppte ebenfalls. Beinahe wäre er seinem Partner in die Tiefe gefolgt, doch im letzten Moment klammerte er sich an einer herausragenden Wurzel fest. Keuchend stierte er über die Kante in den schäumenden Fluss. Tief unter ihm lag der reglose Körper des jungen Mannes.

„Verdammt“, fluchte er. „Verdammt, verdammt, verdammt!“

Seine Augen suchten das schäumende Wasser ab, doch von dem Mädchen war keine Spur zu sehen.

„Na warte“, knirschte er. „Dich kriegen wir. Im Moment hast du gewonnen, doch ich werde dich finden, mein Wort drauf.“

Das Wasser riss Aurora unbarmherzig mit sich. Es dauerte, bis sie wusste wo oben und unten war. Als sie nach Luft schnappend an die Oberfläche stieß, war ihr Absprungort schon außer Sichtweite.

Mit letzter Kraft versuchte sie, ans Ufer zu gelangen. Ein umgefallener Baum erwies sich als Rettung. An ihm fand sie Halt und hangelte sich langsam an die Böschung. Dort blieb sie zitternd und nach Atem ringend liegen. Als sie das Gefühl hatte wieder Luft zu bekommen, rappelte sie sich hoch und torkelte vorwärts. Hier herumzuliegen und auf ihre Verfolger zu warten, war sicher nicht ratsam. Doch sie wusste von einigen versteckten Höhlen, wo sie erst einmal Schutz fand.

Eine lange Stunde später hockte sie zitternd in einer kleinen Höhlung und umschlag die Knie mit ihren Armen. Ein gequälter Laut entrang sich ihrer Kehle. Warum hatten sie ihre Mutter erschossen? Was für Menschen waren das?

Schluchzend presste sie ihr Gesicht gegen die Oberschenkel. Der Verlust ihrer Mutter tat so weh. Der Schmerz fraß sich durch ihren Kopf, durch ihren Bauch und ließ sie immer wieder verkrampfen. Es dauerte, bis die Erschöpfung ihren Tribut forderte und sie einschlafen ließ. Der Schlaf war unruhig, gespickt mit Bildern von Blut und Schrecken.

Fellträger

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