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12. August 2013

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Portland, Oregon

Die fünf Jugendlichen schlenderten langsam durch die Bahnhofshalle. Ab und zu blieben sie stehen und pöbelten Passanten an. Vor einer Sitzbank hielten sie länger und rückten einem Obdachlosen auf die Pelle, der ängstlich zwei Plastiktüten an sich drückte und mit gesenktem Blick die Rempeleien und Beleidigungen über sich ergehen ließ. Eine Tüte fiel zu Boden und platzte auf. Flaschen und ein paar Wäschestücke fielen zu Boden und wurden von den Jungen grölend durch die Gegend gekickt.

Aurora ballte automatisch die Fäuste, bewegte sich aber langsam in einem Bogen um die Gruppe. Sie kannte die Kerle. Sie zogen öfters durch den Bahnhof und belästigten die Leute. Bisher hatte sie ihnen immer ausweichen können, doch dieses Mal schlug das Pech zu.

Die Flasche schoß knapp an ihr vorbei und zersplitterte klirrend an der Wand. Aurora sprang reflexartig zurück. Wieder brandete Gelächter auf.

„Hey Süße, das hätte ja beinahe dein hübsches Gesicht erwischt.“

Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Jugendlichen ins Auge zu fassen. Aufmerksamkeit verlangte Aufmerksamkeit. Es war besser zu sehen, was geschah. Die Fünf ließen von dem Obdachlosen ab, der sofort nach seinen Habseligkeiten griff und davon stolperte.

Aurora sah sie auf sich zukommen und überlegte kurz, ob sie wegrennen sollte. Doch vor ihr bogen in diesem Moment zwei Frauen mit Kinderwagen auf den Gang ein. Sie blieben sofort stehen, als sie die jungen Männer sahen, und blockierten somit den Weg. Hinter ihr lag die Treppe zu den Bahnsteigen. Dort würde sie nicht so einfach entwischen können, die Bahngleise waren zu gefährlich. Mehr Zeit blieb ihr nicht. Die Fünf hatten sie erreicht und scharrten sich um sie.

„Hey, dich hab ich schon öfters hier gesehen“, grinste der Größte von ihnen. „Bist ne Herumtreiberin, was?“

Aurora antwortete nicht und versuchte einzuschätzen, wer von den Jungs der Schwächste war. Sie waren alle deutlich größer und älter als sie selbst, zwischen sechzehn bis achtzehn Jahre alt, schätzte sie, und ihre Klamotten wirkten im Gegensatz zu ihren eigenen nicht abgerissen. Es war teure Markenkleidung. Kategorie Mittelstandssöhnchen, die sich langweilten und deshalb nach Ärger suchten, um sich einen Kick zu verschaffen, schätzte sie.

Sekunden später war sie eingekreist und die Jungen rückten ihr unangenehm nah.

Hände fingen an, sie zu betatschen.

„Lasst mich in Ruhe“, fauchte sie und erntete erneutes Gelächter. Eine Hand grapschte nach ihrer Brust.

Aurora wirbelte herum und ihr Knie schoss hoch. Mit einem Ächzen sackte der Junge in sich zusammen. Sie waren überrascht von ihrer Gegenwehr, und Aurora nutzte das aus. Ihr linker Ellbogen landete im Magen eines zweiten Jungen, der ebenfalls sofort zusammenklappte. Wieder wirbelte Aurora herum und erhielt einen Faustschlag ins Gesicht. Mit einem Schrei torkelte sie zurück und fiel über einen der Jungen am Boden. Instinktiv rollte sie sich ab und sprang wieder auf die Füße. Sie sah den nächsten Schlag erst im letzten Moment und tauchte unter ihm hindurch. Mit einem Wutschrei sprang sie vor und rammte ihre Schulter in den nächsten Magen. Dann sprintete sie los.

Die Frauen mit den Kinderwagen hatten bereits das Weite gesucht und der Weg war frei. Aurora sparte sich einen Blick nach hinten. Sie verließ das Bahnhofsgebäude und bog sofort ab. Erst zwei Straßen weiter verfiel sie ins Joggen und dann in einen normalen Gang. Vorsichtig befühlte sie ihr Gesicht. Ihr Wangenknochen schmerzte und sie spürte schon eine Schwellung. Normalerweise müsste sie das kühlen, doch an Eis heranzukommen war nicht so einfach. Vielleicht gelang es ihr, an der nächsten Tankstelle etwas zu klauen.

Ein verbeulter Wagen hielt kurz vor ihr und die Wagentür wurde aufgestoßen und versperrte ihr den Weg. Automatisch versuchte sie auszuweichen, doch eine Männerstimme ließ sie stutzen.

„Steig ein!“

Misstrauisch spähte sie in den Wagen. Der Mann am Steuer kam ihr bekannt vor. Dann fiel es ihr ein. Sie hatte ihn schon öfters am Bahnhof und an diversen Plätzen gesehen, an denen sich viele Menschen trafen. Nie war er auffällig gewesen und bisher hatte er sie immer ignoriert.

Er lächelte nicht, als er zu ihr hochsah. Sie schätzte ihn auf Mitte Dreißig und seine braunen Augen wirkten angespannt aber nicht unfreundlich.

„Du kannst weitergehen und darauf warten, bis dein Auge zugeschwollen ist, oder du steigst ein und ich besorg dir ne Ladung Eis.“

Aurora überlegte nur kurz. Eis zu klauen barg ein gewisses Risiko in sich. Zu fremden Männern ins Auto zu steigen sicherlich auch, doch er wirkte nicht unsympathisch und sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie ihm trauen konnte. Bisher hatte ihr Bauchgefühl sie selten betrogen. Sie biss die Zähne zusammen und schob sich auf den Beifahrersitz. Er fuhr sofort los.

Zwanzig Minuten lang fädelte er sich durch den fließenden Verkehr, bis sie auf einen abgelegenen Hinterhof fuhr, wo er den Wagen abstellte und sich ihr zuwandte.

Bisher hatte er kein weiteres Wort gesprochen. Jetzt fragte er: „Wie heißt du?“

Sie zögerte kurz.

„Ro“, meinte sie dann. Er zog die Augenbrauen hoch, nickte aber.

„Okay Ro, ich bin Rick. Bevor wir hochgehen, sollten wir die Regeln festlegen.“

Aurora wartete gespannt ab.

„Zum einen fragst du mich nicht, was ich so treibe und dafür frage ich nicht, wo du herkommst. Zum andern werde ich ziemlich sauer sein, wenn du irgendetwas von meinen Sachen mitgehen längst. Und ziemlich sauer heißt, dass es dann durchaus passieren kann, dass ich dir weh tu. Klar genug?“

Sie nickte und er verzog das Gesicht zu einem Lächeln.

„Na dann, – Ro.“

Er stieg aus. Aurora atmete tief durch und folgte ihm ins Haus, hoch in den dritten Stock. Das Gebäude war älteren Baujahrs und dringend renovierungsbedürftig. Einige Flurlampen brannten nicht und ein schummriges Licht ließ das Treppenhaus schmuddelig erscheinen. Der Geruch war – freundlich ausgedrückt – intensiv. Aurora rümpfte angewidert die Nase.

Rick führte sie in seine Wohnung und deutete auf einen Sessel, bevor er in einem Nebenraum verschwand. Aurora setzte sich gehorsam und sah sich gespannt um. Der Wohnraum war nicht groß, die Möbel schon älter, doch immerhin wirkte es sauber. Sie hörte, wie ein Kühlschrank geöffnet und geschlossen wurde. Kurz danach trat ihr Gastgeber wieder ins Zimmer und reichte ihr einen Beutel mit Eisstücken. Sie presste ihn sofort auf ihre Wange. Rick ließ sich auf einen weiteren Sessel fallen und betrachtete sie nachdenklich. Schließlich meinte er:

„Ich habe dich beobachtet. Du gefällst mir. Zumindest scheinst du ein Gespür dafür zu haben, wo man besser die Finger von lässt.“ Er grinste dünn und deutete auf ihr Gesicht. „Du bist schnell, aber dir fehlt noch die passende Technik. Die Jungs waren nicht wirklich gefährlich. Drei hast du ausgeknockt und die andern beiden waren beeindruckt genug, um dich nicht zu verfolgen. Wenn das harte Jungs gewesen wären, wärst du jetzt hinüber, das ist dir hoffentlich klar.“

Aurora presste die Lippen zusammen. Natürlich wusste sie, dass er recht hatte. Seit einem Jahr lebte sie hier in Portland und war schon etliche Male nur knapp brenzligen Situationen entkommen. Mittlerweile hatte sie ein Gespür für die Menschen hier entwickelt und konnte einschätzen, von wem ihr Gefahr drohte. Doch manchmal hatte man schlichtweg Pech, wie sie heute erfahren hatte. Sie erwiderte seinen Blick neugierig. Er schien sich für sie zu interessieren. Warum?

„Was willst du von mir?“

Er ließ sich mit der Antwort Zeit.

„Ehrlich gesagt weiß ich es selber nicht genau“, gab er dann zu. „Du hast mich neugierig gemacht. Ein Jahr lang in Portland auf der Straße zu leben und sich nicht zu prostituieren oder auf Drogen zu kommen, ist schon eine Leistung für ein Kid in deinem Alter.“

„Bist du so ein Sozial-Fuzzi?“

Ihr Misstrauen war offenkundig und er lachte.

„Nein, keine Sorge. Ich habe nicht vor, dich bei den Bullen zu verpfeifen, oder dich zu einem Heimplatz zu überreden. – Hast du Hunger?“

Sie nickte zögernd und er sprang auf.

„Dann komm. Viel hab ich zwar nicht im Kühlschrank, aber für heute Abend sollte es reichen.“

Aurora blieb über Nacht. Irgendwie schien es selbstverständlich, dass sie später neben ihm im Bett lag. Und als er den Arm über sie legte, wich sie nicht zurück, sondern näher heran. Er nutzte die Situation nicht aus, aber sein Arm blieb warm und beruhigend auf ihr liegen. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht schlief sie tief und fest. Frei von Angst.

Am nächsten Morgen spürte sie ihn immer noch neben sich und schlug die Augen auf. Er hatten den Kopf mit seinem Arm abgestützt und betrachtete sie nachdenklich.

„Kleine Ro, hast du Pläne für deine Zukunft?“

Sie nickte.

„Und darf ich fragen, wie die aussehen?“

„Überleben.“

Er lachte nicht.

„Überleben ist ein gutes Ziel“, meinte er langsam. „Und was hast du geplant, um es zu erreichen?“

Diesmal schwieg sie.

„Kleine Ro, darüber solltest du nachdenken. Bis jetzt hattest du Glück, aber sowas ist selten von Dauer.“

Sie blieb bei ihm. Er fragte sie nicht, ob sie bleiben wollte und sie fragte nicht, ob sie bleiben durfte. Es ergab sich einfach.

Sie hielt seine Regeln ein und das genügte. Es kamen einige hinzu, aber die verschmerzte sie problemlos.

Rick wusste Bescheid. Er kannte die Stadt und die Leute, die man kennen musste, um zu bekommen, was man brauchte. Außerdem besaß er einen sicheren Instinkt, Gefahren aus dem Weg zu gehen. Und er war bereit, sein Wissen mit ihr zu teilen. Aurora wurde eine eifrige Schülerin.

Fellträger

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