Читать книгу Der schlechtgefesselte Prometheus und andere Novellen - Андре Жид - Страница 11
Geschichte des Damokles
ОглавлениеMein Herr, vor einem Monat, wenn Sie mich das gefragt hätten, ich hätte nichts darauf zu antworten gewusst; aber seitdem mir das vergangenen Monat passiert ist, existiert für mich nichts mehr von dem, was ich vorher dachte. Ich würde Ihnen auch nicht meine älteren Gedanken erzählen, wenn die Bekanntschaft mit ihnen nicht zum vollen Verständnis meiner neueren Gedanken durchaus nötig wäre. – Nämlich, meine Herren: seit dreissig Tagen fühle ich mich als ein Original, als ein einzig dastehendes Original, mit einem eigentümlichen und besonderen Schicksal. Und daraus, meine Herren, ergibt sich, dass ich mich vorher durchaus als das Gegenteil davon fühlte. Ich führte ein ganz gewöhnliches Leben und machte mir diese Regel zur Pflicht: einem ganz gewöhnlichen Menschen zu gleichen. Jetzt weiss ich bestimmt, dass ein ganz gewöhnlicher Mensch gar nicht existiert, dass es einfach eine vergebliche Ambition ist, wie jedermann zu sein. Weil jedermann aus jedem zusammengesetzt ist und jeder nicht jedem ähnlich ist. Gleichwohl; ich studierte mich; ich trieb Statistik, ich berechnete das juste milieu – ohne zu wissen, dass die Extreme sich berühren, dass derjenige, der spät zu Bett geht, dem begegnet, der früh aufsteht und dass der, der den Platz in der richtigen Mitte sucht, sicher ist, sich zwischen zwei Stühle zu setzen. – Jeden Abend legte ich mich um 10 Uhr schlafen. Ich schlief acht und eine halbe Stunde. Ich trug Sorge, in jeder meiner Handlungen es der Art der grossen Menge gleich zu tun, in jedem meiner Gedanken so gewöhnlich als möglich zu sein. Genug davon.
Da begegnet mir eines Morgens ein ganz persönliches Abenteuer. Die Bedeutung desselben in dem Leben eines gesetzten Mannes kann man nur aus der Folge verstehen. Der Anfang ist gemacht. Jetzt kommen die Folgen. Es ist schrecklich.
III
Also denken Sie sich, an einem Morgen bekomme ich einen Brief. – Meine Herren, daran, dass Sie nicht erstaunen, erkenne ich, dass ich Ihnen meine Geschichte schlecht erzähle. Ich hätte voraus schicken müssen, dass ich nie Briefe erwarte. Das heisst, ich bekomme jährlich drei: einen von meinem Hausherrn, der die Miete verlangt; einen von meinem Bankier, dass ich die Miete bezahlen könne; einen am ersten Jänner ... von wem kann ich Ihnen nicht sagen. Die Adresse war von einer mir gänzlich unbekannten Hand. Der gänzliche Mangel an Charakter in ihr, von dem mich zu rat gezogene Graphologen überzeugten, machte mir die Sache noch unklarer. Die Graphologen fanden nichts darin als Anzeichen einer grossen Güte, andere sprachen auch von einer gewissen Schwäche. Bestimmtes konnten sie aber nicht sagen. Die Schrift ... ich spreche wohlgemerkt nur von der Adresse; denn in dem Couvert war keine Zeile, kein Wort, nichts – nichts als ein Fünfhundertfranksschein.
Ich trank gerade eine Chokolade, aber mein Erstaunen war so gross, dass ich sie kalt werden liess. Also ich suche, denke nach ... Niemand ist mir Geld schuldig. Ich habe meine bestimmten Einkünfte, und meine kleinen Ersparnisse im Jahre kompensieren so beiläufig den jährlich fallenden Zinsfuss. Ich hatte nichts zu erwarten, wie ich Ihnen sagte. Und habe auch nie etwas verlangt. Die ausserordentliche Regelmässigkeit meiner Gewohnheiten reizte mich nicht zu dem kleinsten Bedürfnis. Ich dachte also viel nach, und nach der besten Methode: cur, unde, quo, qua? Woher, wozu, wodurch, warum? Und dieser Schein war auf nichts Antwort, da ich zum ersten Mal fragte.
Ich dachte: es ist wahrscheinlich ein Irrtum; ich werd ihn gutmachen können. Die Summe war für einen andern mit gleichem Namen. Ich suche also im Bottin nach dem Gleichnamigen, der vielleicht schon auf das Geld wartet. Aber es gibt nicht mehr viele Träger meines Namens, und ich sah wie ich das enorme Buch durchblättere, dass ich der einzige Damokles bin. Ich dachte, dass ich durch die Schrift auf dem Umschlag zu einem Resultat käme, den Absender finden könne wenn schon nicht den Adressaten; und ging zu den Graphologen. Das Resultat war Null. Mein Unbehagen nahm zu. Diese fünfhundert Franks bereiten mir mit jedem Tag mehr Aufregung; ich möchte sie los sein und ich weiss nicht wie. Denn schliesslich ... wenn sie mir dennoch jemand und nicht irrtümlich gegeben hat, so verdient das doch mindestens meinen Dank. Dankbar möchte ich sein – aber ich weiss nicht gegen wen.
In der Hoffnung auf einen neuen Zufall, der mich aus meinem Kummer erlöst, trage ich den Schein bei mir, Tag und Nacht; wie verwachsen damit ich bin. – Vorher, vor dieser Geschichte, war ich gewöhnlich aber frei. Jetzt gehöre ich zu etwas. Dieses Abenteuer bestimmt mich; ich war Irgendeiner, jetzt bin ich Jemand.
Seit diesem Erlebnis bin ich ganz heraus; ich suche Unterhaltung auf und komme oft in dieses Restaurant, dessen famose Einrichtung der Tisch für drei mich hoffen lässt, dass einer der beiden andern vielleicht die Schrift dieses Couverts erkennt; sehen Sie mal ...
Und da zog Damokles aus seiner Brust einen Seufzer und aus seiner Rocktasche ein gelbes beschmutztes Couvert. Sein Name stand da deutlich von einer massigen Hand geschrieben.
Da passierte etwas Seltsames: Kokles, der immer geschwiegen hatte, schwieg auch jetzt noch, – aber er erhob seine Hand gegen Damokles, die der Kellner im Fluge aufzufangen gerade noch Zeit hatte. Kokles beruhigte sich wieder und sprach traurig die Worte, die erst in der Folge verstanden wurden; – Übrigens ist es besser so, denn wenn ich Ihnen die Ohrfeige gegeben hätte, hätten Sie geglaubt, mir die 500 Franks erstatten zu müssen, und ... sie gehören mir nicht. Und, da Damokles noch auf eine Erklärung von Kokles' Handbewegung zu warten schien, sagte dieser noch: Ich war es, der darauf ihre Adresse geschrieben hat.
Aber woher wissen Sie meinen Namen? fragte Damokles, der die Sache übel nahm.
Ganz zufällig – sagte Kokles sanft; übrigens hat das in dieser Geschichte keine grosse Bedeutung. Die meine ist nämlich weit merkwürdiger als die Ihre. Gestatten Sie, dass ich sie in wenigen Worten erzähle.