Читать книгу Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King - Andreas Suchanek - Страница 30

Angel Island

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»Autsch«, sagte Randy und drückte den Eisbeutel auf die Nase. Zum Glück war nichts gebrochen und die Blutung hatte rasch aufgehört. Hoffentlich gab es keine Schwellung, sonst hätte er einiges an Erklärungsbedarf, wenn seine Tante am Wochenende von ihrer Schulung zurückkam.

Die beiden Jungen, die sich mit Luka und Dorian vorgestellt hatten, hatten Olivia und Randy durch ein kleines Wäldchen geführt. Es war ziemlich gruselig gewesen, zwei Fremden durch die Dunkelheit zu folgen, doch warum sollten sie sie erst retten, um ihnen dann etwas anzutun? Randy hatte die ganze Zeit über Olivia nicht aus den Augen gelassen. Sie folgte ihm, die Kameratasche fest an ihren Oberkörper gepresst. Er hatte das Klirren vorhin gehört. Vermutlich war einiges zu Bruch gegangen. Objektive waren empfindlich.

Schließlich gelangten sie mit ihren beiden Rettern an eine kleine Wohnwagensiedlung. Diese war mit Maschendraht eingezäunt. Es gab einen Eingang, an dem ein junger Mann, vermutlich um die zwanzig, Wache hielt. Dorian sprach mit dem Wachposten und deutete dabei immer auf Olivia und Randy. Schließlich ließ er sie passieren. Randy und Olivia folgten den beiden Jungs durch die Wohnwagen. In einigen brannte noch Licht, aus einem der Fenster linste eine ältere Frau, und irgendwo in der Dunkelheit bellte ein Hund.

Dorian und Luka führten sie zu einem dunkelblauen Wohnwagen, bei dem bereits die Farbe abblätterte. Dorian öffnete, schaltete das Licht an und ging zum Eisschrank, während der jüngere der beiden, Luka, sich sofort daran machte, Tee zu kochen.

Jetzt saß Randy da, das Eis auf die pochende Nase gedrückt und hoffte, dass der Schmerz bald nachlassen würde.

Luka reichte Olivia eine dampfende Tasse Tee. Sie nahm sie dankend an und setzte sich auf einen Holzstuhl an der gegenüberliegenden Wand. Die Kameratasche stellte sie daneben ab.

»Hast du mal reingeschaut?«, erkundigte Randy sich.

Sie nickte. »Die Kamera ist hin, genau wie das Objektiv.«

»Das tut mir leid, Olivia. Ehrlich.«

»Tja, und mir erst. Die ganze Aktion umsonst.« Sie fuhr sich durchs Gesicht und sagte noch etwas wie: »Miete zurückzahlen … wir landen alle auf der Straße …«, aber so genau konnte Randy es nicht verstehen.

»Ich könnte mir die Kamera mal ansehen. Vielleicht kann ich sie reparieren.«

Olivia blickte zu ihm hinüber. Ihre Schultern waren eingefallen, ihre Augen, die normalerweise wach und aufmerksam wirkten, waren glanzlos und trübe. »Selbst wenn du das schaffst, die Speicherkarte ist total nass geworden. Die Bilder von heute Abend sind sicherlich futsch, genau wie das Objektiv, das ich …« Olivia biss auf ihre Lippen und drehte den Kopf weg. Sie wischte sich rasch über die Augen, als wollte sie unter allen Umständen vermeiden, vor Randy zu heulen. »Das ist eine Katastrophe«, flüsterte sie.

»Hier«, sagte Luka und trat zwischen Randy und Olivia. Er lächelte Randy an und hielt ein Fläschchen in der Hand. »Das sind Bachblüten. Damit wirst du keine Schwellung bekommen.«

Randy zog die Augenbrauen hoch. Bachblüten. Na klar. »Du weißt aber schon, dass der Wirkstoff darin so stark verdünnt wird, dass er gar nicht helfen kann? Das ist ungefähr genauso, wie wenn ich Hustensaft in einen See kippe und dann einige Schlucke daraus trinke.«

Luka grinste. Ein Eckzahn hing auf Halbmast und würde sich bestimmt demnächst verabschieden, die beiden vorderen fehlten bereits und die neuen schoben nach. »Wenn sie angeblich nicht wirken, können sie nicht schaden. Nimm.«

Randy rollte die Augen. Er hielt nichts von dem ganzen homöopathischen Krimskrams, aber er wollte auch nicht unhöflich sein. Er nahm das Fläschchen von Luka und drehte es auf. Im Deckel war eine Pipette angebracht.

»Einfach auf die Zunge träufeln«, sagte Luka zufrieden. »Fünf Tropfen.«

»In Ordnung.«

Olivia trank einen weiteren Schluck Tee. »Der ist sehr lecker, was ist da drin?«

»Melisse, Baldrianwurzeln, Lavendelblüten, Kamille, Hopfen, Ringelblumenblüten, Schafgarbenkraut, Anis, Kümmel, Rosmarinblätter«, sagte Dorian und lächelte. »Und noch einige Spezialkräuter meiner Tante Albertha. Es beruhigt die Nerven.«

Olivia sah in die Tasse und nickte. »Danke.«

»Ja, danke«, sagte auch Randy. »Für die Rettung und so.«

»Gern geschehen«, sagte Dorian und setzte sich auf den Holztisch. Es knarzte und Randy rechnete schon damit, dass der altersschwache Tisch zusammenbrechen würde, doch er hielt. »Die Jungs kommen schon den dritten Abend her, um sich auf dem Parkplatz zu treffen. Es war Zeit, ihnen zu zeigen, dass sie sich ein anderes Territorium suchen müssen. Der Rummel ist unser Gebiet.«

»Der ältere von denen ist ganz rot angelaufen, haste das gesehen?«, fragte Luka. »Hab ihn voll auf die Zwölf getroffen.« Er nahm seine Steinschleuder aus der Hosentasche, spannte sie und schoss einen imaginären Stein. »Zack! Der saß.«

Die Steinschleuder war offenbar eine Eigenkonstruktion, denn so etwas hatte Randy noch nie gesehen. Sie hatte einen mechanischen Auslöser wie bei einer Armbrust und war größer als das, was sie als Kinder aus Ästen und Einmachgummis zusammengebastelt hatten. Vermutlich hatten die Geschosse deshalb so eine Durchschlagskraft gehabt.

Dorian lachte und wuschelte dem Kleinen durch die Haare. »Ja, hast du gut gemacht. Vielleicht reicht es, um sie fernzuhalten.«

»Wenn nicht, beschießen wir sie morgen wieder. Wir könnten Kuhdung von Rosaline in Kugeln formen und damit schießen.« Luka spannte wieder seine Steinschleuder und ballerte weiter imaginäre Kugeln durch die Luft.

»Ich wusste gar nicht, dass hier überhaupt jemand wohnt«, sagte Randy.

»Und es wäre schön, wenn ihr das für euch behaltet«, sagte Dorian und sah Randy fest in die Augen. »Wir wollen hier keine Fremden. Ich werde schon erklären müssen, warum wir euch hierher mitbrachten.«

»Das hättet ihr nicht gemusst, aber danke«, sagte Randy. »Von uns erfährt niemand etwas.«

»Was macht denn die Nase?«, fragte Dorian.

Randy betastete die Stelle, auf die er den Schlag erhalten hatte. »Erstaunlich gut. Tut gar nicht mehr weh.«

»Siehste«, sagte Luka und grinste breit. »Hab doch gesagt, dass die Bachblüten helfen.«

»Wenn ihr euch soweit wieder fit fühlt, werden wir euch zurück zu eurem Auto begleiten«, sagte Dorian und sah zum Fenster. »Es sieht nach Regen aus, bald wird ein Gewitter reinziehen. Luka, nimm noch ein paar Steine mit. Nur zur Sicherheit.«

Luka straffte die Schultern und salutierte. »Aye, Aye, Captain.« Er lief zu einem Wandschrank und öffnete ihn. Drinnen lagen Steinschleudern in verschiedenen Größen und Tupperdosen mit Steinen in allen möglichen Formen und Farben. Luka öffnete die Tür weiter und Randy stockte. An der Innenseite klebte ein Plakat.

»Das habe ich doch schon mal gesehen«, sagte er und stand auf. Das Bild zeigte einen Mann, der in einem Netz lag, wie es Trapezkünstler verwendeten. Er grinste übers ganze Gesicht, hatte Arme und Beine weit von sich gestreckt und wirkte so selig, als hätte er soeben den Sprung seines Lebens geschafft. Das gleiche Bild hatte Randy bei Billys Unterlagen gefunden. Daneben hatte Billy mit per Hand geschrieben: »Was ist mit Marek? Verbindung zu Marietta?«

Olivia stand ebenfalls auf, um sich das Bild genauer zu betrachten.

»Das ist mein Cousin Marek Cherkov«, sagte Dorian. »Das Bild ist von einer Generalprobe. Er hatte mit seinen Brüdern Viktor und Finn gerade eine neue Nummer einstudiert und wollte sie am nächsten Abend vorführen, aber dazu kam es nicht mehr. Er verschwand in der Nacht zuvor und kehrte nie zurück.«

»Oha, warum das?«, fragte Randy.

»Das weiß niemand so genau. Angeblich soll er ein junges Mädchen geschwängert haben, das einige Monate später getötet wurde.«

Randy schluckte. »Weißt du zufällig, wie das Mädchen hieß?«

»Marietta«, sagte Luka schnell. »Marietta King.«

Olivia und Randy zuckten gleichzeitig zusammen.

»Sie soll wunderschön gewesen sein«, fuhr Luka fort. »Ein braunhaariger Engel mit Flügeln. Sie hat Marek erst entführt und ist dann selbst ins Feenreich gegangen, um für immer bei ihm zu sein.«

»Du musst aufhören, dir all diese Fantasybücher reinzuziehen, Luka«, sagte Dorian. »Marietta war natürlich kein Engel und Marek ist nicht in irgendeinem Feenreich.«

»Aber Marietta war von Marek schwanger gewesen?«, fragte Randy.

»Schwanger war sie wohl, aber sicher nicht von Marek. Er hatte als Kind die Röteln gehabt und konnte keine Kinder mehr zeugen. Das sagt zumindest Tante Loretta, und als seine Mutter wird sie es wissen.«

»Marietta King war schwanger«, wiederholte Olivia. »Da sieh mal einer an. Wann genau ist das gewesen?«

Dorian tippte sich ans Kinn. »Lass mal überlegen … das müsste im Sommer 84 gewesen sein.«

»Was wurde aus dem Kind?«

»Keine Ahnung. Ich kenne ja nur die Geschichten von damals aus den Erzählungen.« Dorian betrachtete noch einmal das Bild von Marek und seufzte.

»Könnten wir eventuell mit deiner Tante reden?«, fragte Randy. Vielleicht könnten sie von ihr noch ein paar brauchbare Informationen über Marietta bekommen.

»Sie ist nicht da. Sie ist ins Gefängnis gefahren, um ihre beiden Söhne zu besuchen. Da nimmt sie sich immer ein Hotel für eine Nacht und kommt erst am nächsten Morgen zurück.«

»Gefängnis? Das ist ja … furchtbar.« Ein Sohn spurlos verschwunden, zwei andere im Knast. »Die arme Frau.«

»Ja. Tante Loretta hat damals in einer Woche drei Söhne verloren. Erst ist Marek verschwunden, dann wurden seine Brüder kurz darauf wegen Einbruchs mit Totschlag verhaftet. Nachdem die beiden ihre Haftstrafe abgesessen hatten, überfielen sie einen Lebensmittelladen und verletzten den Inhaber schwer. Sie landeten wieder im Bau und wir hocken immer noch hier fest, während die anderen Zirkusleute weitergezogen sind. Tante Loretta bringt es nicht übers Herz, meine Cousins zu verlassen, egal, was sie angestellt haben.«

»Wahnsinn. Ihr wohnt hier seit knapp dreißig Jahren, weil eure Tante nicht weg will?«

»Wir sind eine Familie. Wir halten zusammen.«

Beneidenswert, dachte Randy. Er liebte seine Tante über alles, aber sie konnte nicht seine Eltern ersetzen und manchmal sehnte sich Randy einfach nach einem harmonischen Familienleben.

»Wenn es euch besser geht, bringen wir euch gerne zurück«, sagte Dorian. »Wir werden es vor dem Regen schaffen.«

Olivia blickte zum Fenster hinaus. »Das wäre toll, denn die Sonne geht auch bald auf und wir beide müssen in die Schule.«

»Außerdem haben wir eine Verabredung mit diesem Archer, falls du dich erinnerst«, sagte Randy.

»Den Wettbewerb kann ich mir eh in die Haare schmieren. Selbst wenn wir den Fall lösen, habe ich keine Bilder, mit denen ich daran teilnehmen kann.«

»Willst du ihm absagen?«

Olivia zuckte die Schultern. Sie wirkte so verloren und verletzlich, dass Randy sie am liebsten in den Arm genommen hätte.

»Lass uns das später entscheiden, okay?«, sagte er stattdessen und gähnte herzhaft. Vielleicht konnte er sich wenigstens ein paar Stunden aufs Ohr hauen. Auf der anderen Seite hatte er als erstes Fach Geschichte bei Mr. Kelso. Die perfekte Gelegenheit, um etwas Schlaf nachzuholen. Da musste dieses Mal ausnahmsweise Mason alles notieren.


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Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King

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